Mord und Ratschlag

Held ohne festen Wohnsitz

Die Krimikolumne. Von Ekkehard Knörer
18.04.2007. Heldenleben in der Kontrollgesellschaft: In "Bad Luck and Trouble" macht Lee Child den vagabundierenden Einzelgänger Jack Reacher zum Teamchef.
Weil es sich um den jüngsten Band der im Moment wohl besten Thrillerserie handelt, soll ausnahmsweise ein bisher nur in englischer Sprache erhältlicher Roman besprochen werden. Die deutschen Übersetzungen hinken im Moment einige Romane hinterher - da Childs Romane sich auf gleichbleibend hohem Niveau bewegen, seien sie aber durchweg empfohlen.

Wenn einer ein Held von altem Schrot und Korn ist in der gegenwärtigen Thrillerliteratur, dann ist es Jack Reacher, die Erfindung des britischen Autors Lee Child, der mit "Bad Luck and Trouble" gerade den elften Roman um seinen Serienhelden veröffentlicht hat. Lee Child war, unter anderem Namen, lange Jahre für den britischen Privatsender Granada TV tätig - der so herausragende Krimi-Serien wie "Für alle Fälle Fitz" (mit Robbie Coltrane) oder "Heißer Verdacht" (mit Helen Mirren) produzierte. Dann wurde er entlassen und erfand sich als amerikanischer Thrillerautor neu. Seine Romane spielen in den USA (mit seltenen Ausflügen nach Europa) und sind dort inzwischen ebenso Bestseller wie in Großbritannien, wo das jüngste Werk mehr als einen Monat vor dem amerikanischen Veröffentlichungstermin bereits letzte Woche erschien.

Reacher ist ein Ex-Militärpolizist, groß, blond, stark, ein Wesen wie geschaffen für den Kampf. Keiner schießt besser als er, er kombiniert scharf, entwirft in Sekundenschnelle Kampf-Strategien und bringt jeden Gegner zur Strecke. Und zwar als Privatmann. Nach seiner Militärzeit ist er zum Helden ohne festen Wohnsitz geworden, mal hier, mal da in den USA, mal mit einem Job - etwa als Swimmingpool-Buddler -, mal ohne. Lee Child bezeichnet ihn als Update des Ritters, aber mit den japanischen Ronins, nach dem Tod ihres Herrn als Einzelgänger herumstreifenden Samurais, ist er ebenso verwandt wie mit manchem Westernhelden. Die Romane berichten stets davon, wie Reacher in etwas hineingezogen wird, wie er aus dem Nichts seiner streunenden Existenz in ein monumentales Verbrechen gerät, dem er - nie ohne Verluste - den Garaus macht, bevor er wieder ins Nichts verschwindet.

Zum einen fällt Literatur, die von einem solchen Helden erzählt, natürlich ins Register des Eskapismus. Die Verhältnisse, sie sind nicht so, dass ein Held wie Reacher etwas anderes wäre als Wunsch und Traum einer offenkundig riesigen Leserschaft. Es kommt aber in Lee Childs Fall mindestens zweierlei dazu, das seine Romane zu mehr als bloßem Eskapismus macht. Zum einen: Handwerkliches Können. Vom ersten, 1997 veröffentlichten Buch "Killing Floor" ("Größenwahn") an, hat Child einen Stil erfunden, den ihm so schnell keiner nachmacht. Die Sätze sind kurz, kein Wort ist zuviel. Was sich in ihnen abbildet, ist die präzise Orientierung Reachers in der Welt. Reacher ist, noch kürzer gesagt, der Mensch als Orientierungswesen. Die Sinne hoch verfeinert, der Körper ein perfekt trainiertes Kampfwerkzeug. Manchmal macht Child ihn zum Ich-Erzähler, aber auch in der dritten Person platziert er ihn ganz nahtlos in einer Umwelt, in der jeder Fehler tödlich sein kann. Die Höhepunkte der Romane sind daher die Action-Szenen, in denen die komplizierte Handlung in den rasenden Stillstand hoch präziser Bewegungschoreografien umschlägt. Ein Lauern, ein Schleichen, In-Den-Blick-Nehmen und Zuschlagen. Schockartig gefrieren in diesen Momenten die Krimielemente zu Thrillersequenzen. Child ist ein sehr guter Plotentwickler und Handlungsfädenschlinger, dieses Können aber tritt zurück hinter seinen Fähigkeiten als Bewegungsschilderer. Strukturell ähneln sich alle seine Romane stark und doch ist die Variationsbreite mit immer neuen Einfällen für die regelmäßig wiederkehrenden Konfrontationssituationen groß genug, um in jeweils neuen Konstellationen Spannung zu generieren.

Zum anderen: Child arbeitet mit der Figur. Nicht so überzeugend dann, wenn er ihr neue Fähigkeiten erfindet. So geht Reachers innere Uhr auf die Sekunde genau, aber wie perfekt sie arbeitet, erfahren wir erst im zehnten Roman. Und des Helden Zahlenfixierung spielt erst im aktuellen Buch, "Bad Luck and Trouble", eine zentrale Rolle. Interessanter sind die Beleuchtungswechsel. Von Mal zu Mal erscheint Reacher in etwas anderem Licht. Wir lernen ihn kennen als Bruder, als Sohn, als Liebhaber. Er erbt ein Haus und richtet sich, obwohl er es versucht, nicht ein. Er liebt eine Frau und muss doch weiter. In "Bad Luck and Trouble" wird der Einzelgänger Reacher zum Teamarbeiter. Und muss zunächst feststellen, dass er im Kreis seiner ehemaligen Untergebenen als Loser erscheint, der es zu nichts gebracht hat. Er hat ein Bankkonto, eine faltbare Zahnbürste und seit den nach der Einsetzung von "Homeland Security" verschärften Sicherheitsmaßnahmen notgedrungen einen Ausweis, das ist alles. Kein Haus, kein Auto, kein Kind. Seine Ex-Kollegin Frances Neagley dagegen schwimmt als Chefin einer erfolgreichen Sicherheitsfirma im Geld.

Mit ihrer raffinierten Kontaktaufnahme mit Reacher - die Raffinesse ist nötig, denn es ist schwer, den Drifter Reacher überhaupt zu erreichen - beginnt der neue Roman. Ein früheres Mitglied eines von Reacher zu Militärzeiten zusammengestellten Teams von "Special Investigators" wurde ermordet. Er ist, wie sich bald herausstellt, nicht der einzige Tote. Die verbliebenen Teammitglieder, die sich seit Jahren nicht gesehen haben, tun sich, unter Reachers Führung, zusammen, um die Hintergründe der Morde aufzudecken. Es geht um ein hoch geheimes neues Waffenprogramm, Bestechung und Terrorismus. Wie stets aber sind es, anders als bei den meisten anderen Thrillerautoren, nicht die Haupt- und Staatsaktionen selbst, für die Child sich interessiert. In "Bad Luck and Trouble" steht viel eher das Zusammenspiel von Einzelgängertum und Gruppendynamik im Zentrum. Es geht um Kräftefelder und Ausnahmesituationen, in denen Charaktere ohne die mindesten Anstalten zur psychologischen Innenbetrachtung höchst kenntlich werden. Child ist ein Meister des "Show don't Tell", aber in der Kombination von größter Nähe zur Figur und totaler Veräußerlichung in der Beschreibung ihres Verhaltens gelingen ihm erstaunlich komplexe Beschreibungen seines Personals.

Sehr zeitgemäß erscheint seine Reacher-Figur noch in anderer Hinsicht, als Aussteigerfigur nämlich aus der in fluide Beobachtunsszenarien aufgelösten "Kontrollgesellschaft" (Gilles Deleuze), in der wir leben. Reacher entzieht sich all den sozialen Zusammenhängen, die den Bürger binden, er vermeidet nach Möglichkeit den Eintrag in die üblichen Datennetze, aber nur um den Preis einer vagabundierenden Existenz. Indem er schildert, wie schwierig ein solcher Entzug heute ist, indem er zeigt, mit welchen Flexibilitäts- und damit eben wieder Freiheitsverlusten diese Freiheit erkauft ist, unterfüttert Lee Child seine eskapistischen Romane mit einer beträchtlichen Dosis realistischer Gesellschaftsbeschreibung. Der eher linke, aus Großbritannien in die USA übergesiedelte Autor beobachtet die Vereinigten Staaten durch die Augen seines Helden vom äußersten Rand aus, freilich mit dem eminent genretauglichen Kniff, die Randexistenz zur Ausnahmefigur umzuwerten. Wie alle großen Helden verkörpert Reacher den Traum von der Möglichkeit der Selbstermächtigung. Er ist ein radikal unpsychologisch beschriebenes, dennoch fraglos autonomiesüchtiges Subjekt in Zeiten weit reichender Kontrolle und Vernetzung. Es ist, neben dem perfekten Handwerk, genau dieses Ineinander von Eskapismus und Sozialrealismus, das Lee Childs Romane auszeichnet. In "Bad Luck and Trouble" wird, wie stets noch, unter Verlusten und ohne Gnade das Böse besiegt. Am Ende zieht Reacher wieder, die Einsamkeit suchend, von dannen. Die Ordnung der Welt aber ist nicht wiederhergestellt - weil sie nicht wiederherstellbar ist. Reacher ist die Verkörperung eines brachial in Aktion umgesetzten Gerechtigkeitssinns - als freigestellter Held ohne festen Wohnsitz ist er zugleich aber unübersehbares Symptom der fundamentalen Unordnung der Welt.


Lee Child: Bad Luck and Trouble. Roman. Bantam Press 2007