Vorgeblättert

Leseprobe zu Skype Mama. Teil 1

11.03.2013.
Tanja Maljartschuk

KINDERLAND


Es war die Zeit, als alle gerade im Ausland waren oder kurz davor, ins Ausland zu fahren. Wir blieben allein.
     Wir wurden die Könige über Dorf und Weiden. Wir waren unsere eigenen Herren, Souverän sorgenloser Tage und Herrscher über endlose Nächte. Niemand sagte uns mehr, wann wir zu Hause sein sollten. Niemand zwang uns, morgens das Gesicht und abends die Füße zu waschen. Niemand nötigte uns zu essen. Und wir aßen nicht. Wir berauschten uns an unserer Freiheit und irrten umher, aufgedreht und erregt, über Felder, Hügel und durch fremde Gärten. Es war eine lustige Zeit. Es war eine gefährliche Zeit. Einige überstanden sie, andere entkamen ihr nie mehr. Wenn ich an den Plätzen von damals herumirre, dann sehe ich noch immer im Morgen nebel verschwommen die Gesichter jener Kinder und höre, wie leise Stimmen locken: "„Kommt, lasst uns losziehen“".

Wir trauerten unseren Eltern nicht nach, wir waren stolz auf sie. Untereinander hatten wir sofort eine klare Rangordnung: Ganz unten in der Hierarchie standen jene, deren Eltern in Polen waren. Sie hatten kein Stimmrecht und mussten alles machen, was unsere Anführer wollten. Dann kamen Italien und Portugal. Das war die demokratische Mehrheit. Die Krone aber trugen verdientermaßen die Zwillingsmädchen der Hrinkow-Familie. Ihre Eltern arbeiteten schon seit fünf Jahren in Griechenland und hatten sogar eine Aufenthaltsgenehmigung. Das Haus der Zwillinge war unsere Basis. Ihre alte Großmutter saß gewöhnlich am Fenster ihrer kleinen Hütte nebenan und lächelte von dort allen freundlich zu. Sie schimpft e nicht mit uns und sagte überhaupt nie was. Der Hof war von dichten Weinranken überdacht. Darunter war es immer schön kühl und schattig. Wir machten es uns auf dem Beton bequem, spielten Karten oder irgendetwas anderes, was gerade Spaß machte. In einem Gatter lebten zwanzig große Puten, die als einzige etwas gegen unsere Anwesenheit hatten. Sie kollerten ständig und bliesen ihre roten Kämme auf, wenn sie uns bloß kommen hörten.
     Die Hrinkow-Eltern kamen einmal im Jahr, brachten eine Menge Süßigkeiten mit und wundersamen Meereskram. Das war für uns alle immer ein Fest. Nach ein paar Wochen kehrten sie zurück in ihr Griechenland und versprachen ihren Töchtern, dass sie sie das nächste Mal mitnehmen würden. Aber beim nächsten Mal klappte irgendwas mit den Visa nicht, und darüber freuten wiruns alle sehr, denn ohne die Hrinkow-Schwestern wären wir als Waisen, als Wolfsrudel ohne Leittier zurückgeblieben.

„"Wenn wir zu Weihnachten kommen, müsst ihr aber lesen und schreiben können", befahlen die Eltern den Zwillingen. Die nickten brav mit ihren pechschwarzen, ungebildeten Lockenköpfen.

Später dann verdonnerten die Hrinkow-Mädchen jemanden aus der untersten Kaste, ganze Heft e in Schönschrift mit den Buchstaben des ukrainischen Alphabets zu füllen. Die Hefte schaute sich dann nie jemand an. Wahrscheinlich verstauben sie noch immer auf dem großen alten, blau gekachelten und mit rot-grünen Tierfiguren verzierten Ofen.

Es war eine Zeit ewigen Sommers. Es war ein ewiges Fest.

Danke dir, Polen! Danke euch, Italien und Portugal! Danke dir Hellas, du Königin aller Länder!

Jeder, der etwas besaß, wurde zu unserem Opfer. Wir nahmen alles, selbst eklige schwarze Johannisbeeren und junge Möhren. Wie Heuschrecken fielen wir über die Höfe der Nachbarn her, traten und trampelten herum, zogen, rupft en, rissen alles samt Wurzeln heraus, rüttelten an allem, was nicht niet- und nagelfest war, und hinterließen Verwüstung und verbrannte Erde. Die Opfer fanden niemanden, bei dem sie sich hätten beklagen können. Sie hätten uns höchstens einzeln schnappen und verprügeln können. Aber wir zogen nie alleine los, denn wir wussten, dass wir stark nur zusammen waren. Wir kamen uns vor wie Komododrachen, die als einzige Reptilien sich bei der Jagd zusammenschließen, um zum Beispiel eine Antilope zur Strecke zu bringen.
     Wir wurden Banditen genannt, Bestien, Bastarde, Zigeuner, kleine Scheißer und Schreckgespenster (dieses Wort gefiel uns so gut, dass wir uns manchmal selbst so nannten). Man schimpfte uns auch Plage, Pest, Mordgesindel, Tataren, Türken und faules Pack. Doch mit dem letzten Titel waren wir nicht einverstanden. Wir waren alles Mögliche, aber nicht faul. Nein, wir hatten so viel Energie, dass wir, hätte es nicht schon jemand vor uns getan, ohne den geringsten Skrupel Atlantis versenkt hätten. Wir hatten auch kein Gewissen. Wenn jemand von uns alleine war, dann wurde er vielleicht mal schwach. Aber als Schwarm waren wir eine skrupellose Kampfmaschine, die alles Lebendige, das sich ihr in den Weg stellte, vernichtete.
     Wer es wagte, zu rufen „"Was wohl eure Eltern dazu sagen würden!“", besiegelte sein Todesurteil. Die Erwähnung unserer Eltern verziehen wir nicht, und unsere Rache war grausam: ein Schwarm wilder Wespen unter dem Kopfkissen, die Fenster mit menschlichen Exkrementen beschmiert, aus den Angeln gehobene Tore, im Garten gefällte Bäume. Im Winter gossen wir Brunnenwasser in die Höfe unserer Feinde, und am Morgen gelangten sie nur noch mit Schlittschuhen über den Hof. Wir schoben den Hennen alle möglichen Vogeleier, die wir finden konnten, unter. Wir trieben den Eber auf die Straße, und die armen Besitzer jagten dann ewig lang hinter ihm her durchs Dorf. Ja, unsere Wut war grausam.

Einige von uns hatten kleine Verpflichtungen. Sie mussten zum Beispiel das Vieh hüten. Oder sie sollten Ackerwinden für die Schweine sammeln oder Luzernen (wir sagten "„Lizarken"“) schneiden. Einmal in der Woche das Haus saubermachen. Zweimal in der Woche die Böden wischen. Jeden Donnerstag auf den Markt gehen und Hefe, Öl (wir sagten "„Wöl“") und Eis kaufen. Besonderes Pech hatten diejenigen, die etwas aussäen, die umgraben oder ausgraben mussten, Heu wenden auf den Wiesen beim Hof oder in aller Hergottsfrühe aufstehen, um im Wald Pilze zu sammeln.
     Es gab viele Pilze in den umliegenden Wäldern, aber freiwillig verirrten wir uns nicht dahin. Hätten die Pilze in fremden Gärten gestanden, dann wäre das eine andere Sache gewesen. Aber so, von niemandem gepflanzt und niemandes Besitz, verloren sie für uns jeden Wert. Erlaubte Dinge waren für uns keine Verlockung, nur die verbotenen. Vielleicht deshalb, weil wir gerade aus dem Paradies zurückgekehrt waren und uns noch an den Geschmack verbotener Früchte erinnerten.
     Unser Todfeind war die böse alte Schrullanka, der wir den Spitznamen Rättin gegeben hatten. Sie besaß einen alten Apfelgarten und das einzige zweistöckige Haus im Dorf, und sie hatte eine ebenso boshafte Enkelin, die Iwanotschka hieß. Diese Iwanotschka wollte zu uns gehören/eine von uns sein, aber die Rättin wachte mit eiserner Hand über sie, aus Angst, Iwanotschka könnte in irgendwas rein geraten. Wir hätten sie aber so oder so nicht bei uns aufgenommen. Denn Iwanotschka galt als bösartige und feige Natur, die gerne Intrigen spann und die eigenen Leute bestahl. Ihre Eltern waren in Amerika, was uns Europäer absolut nicht beeindruckte.
     Unsere Bibel war Wolodymyr Wynnytschenkos Erzählung „Fedko, der kleine Räuber“. Manchmal lasen wir die Geschichte laut, das heißt, Wasyl las vor, und wir hörten zu. Danach besprachen wir, unter den Weinranken vor Hitze und Schwüle geschützt, noch lange das Gehörte. Die Jüngsten weinten am Schluss immer. Fedko war unser Held. Wir hatten, genau wie er, unsere Prinzipien. Wir kämpften gegen Ungerechtigkeit, und wir beschützten die Schwächeren. Was eine Ungerechtigkeit war und wer schwächer, das entschieden wir selbst.
     Wasyl versuchte, uns andere Erzählungen von Wynnytschenko anzudrehen. Er war der einzige von uns, der einen Bibliotheksausweis besaß, und lieh sich immer Berge von Büchern aus. Aber wir waren unserem Idol treu und wollten nichts anderes hören. Wasyl ärgerte sich darüber und sagte, dass er nichts mehr mit uns zu tun haben wolle. Doch wir erinnerten ihn sanft daran, dass er bei uns ohnehin nur geduldet war.
     Vor vielen Jahren, als Wasyl noch glücklich im Bauch seiner Mutter heranwuchs, war sein Vater zum Arbeiten nach Tjumen gefahren und nie zurückgekehrt. Auf der Baustelle hatte es einen Unfall gegeben, ein Eisenbetonblock war auf die Arbeiter gefallen und hatte sie zu Brei zerquetscht. Wasyls Mama kam nicht über den Tod ihres Mannes hinweg und wurde sogar in die Psychiatrie eingewiesen, wo sie ihren Sohn zur Welt brachte. Sie hat ihn kein einziges Mal angeschaut und nie mit ihm gesprochen. Wasyl lebte bei seiner Großmutter, der Mutter seines Vaters. Er war klug aber schweigsam und wollte uns oft unsere extravaganten Pläne ausreden. Dann erinnerten wir ihn immer erst mal daran, dass sein Vater nicht mehr im Ausland sondern im Himmel war, was nicht als Ausland galt. Deshalb sollte er still sein und froh, dass wir ihn überhaupt in unsere Reihen aufgenommen hatten.

Wie jede Bande träumten wir von einer Mission. Sie war unmöglich und deshalb so verlockend. Wir wollten auf den Dachboden von Fedirko und schauen, WAS DA IST.
     Wir hatten nicht die geringste Ahnung. In unserer Fantasie malten wir uns kostbare Schätze aus, Berge von Menschenleichen oder geheime Insignien der Wikinger. Piraten, Freimaurer oder Psychopaten, von denen zu jener Zeit die Nachrichten voll waren. Ein Werwolf, von dem unsere Großmütter erzählten. An die Wand gekettete Kinder. Sklaven, Neger, Außerirdische... Die Ungewissheit ließ uns keine Ruhe. Wir träumten nachts von Fedirko, einem buckligen Alten mit Lederkäppi und langem Stock. Er hatte riesige, unförmige Stiefel und eine Brille mit so dicken Gläsern, dass es aussah, als hätte er nicht zwei sondern vier Augen.
     Fedirko lebte mit seiner Stiefmutter zusammen und ging nie unter Leute. Niemand pflegte irgendwie Kontakt zu ihm. Sein Hof war von einer vier Meter hohen Eisenwand umgeben, in der es kein einziges, winziges Loch gab, durch das wir unsere neugierigen Nasen hätten stecken können. Zum Einkaufen ging immer Fedirkos Mutter, eine alte, verschrumpelte Frau mit riesenlanger Nase und schwarzem Kopftuch, die wir fürchteten wie den Teufel. Fedirko fürchteten wir auch. Wir fürchteten sie beide wie den Teufel, und diese Furcht wuchs von Jahr zu Jahr, denn wir konnten von keiner Seite an sie rankommen. Wir wussten nicht, was sie den ganzen Tag im Haus und auf dem Hof machten und worüber sie miteinander sprachen. Wir waren uns nicht mal sicher, ob sie überhaupt Menschen waren.
     Wir wussten von Fedirko nur diese eine Geschichte: Ein junger Postbote, der die Renten und Zeitungen austrug und sich mit den örtlichen Gegebenheiten noch nicht auskannte, ging einmal auf Fedirkos Hof, weil niemand auf den eisernen Türklopfer reagiert hatte. Da lief Fedirko aus dem Haus und schlug so lange mit seinem Stock auf den Postboten ein, bis sich auf dem akkurat gemähten Rasen eine Blutlache bildete. Dann wischte er den Stock in aller Ruhe ab, zerrte den Postboten auf die Straße und schloss das Tor hinter sich. Der Postbote lag danach mehrere Monate im Krankenhaus. Fedirko wurde aber nicht bestraft . Man sagte, dass er so schon genug bestraft sei.

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