Vorgeblättert

Leseprobe zu John Cage: Empty Mind. Teil 1

30.07.2012.
Andere Völker denken

Diesen Text verfasste John Cage ca. 1927 für einen Redewettbewerb seiner High School in der Hollywood Bowl.


Als Washington Präsident der Vereinigten Staaten wurde, verfügte unser Land über den größten Teil des Territoriums zwischen Atlantik und Mississippi. Nach dem Krieg mit Mexiko flatterte das Sternenbanner von Ozean zu Ozean und vom Golf von Mexiko bis zu den großen Seen.Heute sind die Vereinigten Staaten eine Weltmacht. In der Neuen Welt nennen sie Alaska, Puerto Rico und die Virgin-Inseln ihre 'Territorien'. Sie üben einen starken Einfluß aus auf Nicaragua, Haiti, Panama und die Dominikanische Republik. Sie haben ihre Dollars in allen Ländern Lateinamerikas in Umlauf gesetzt, bis man sie den 'Riesen aus demNorden' nannte und sie als den 'Beherrscher des amerikanischen Kontinents' ansah.

Viele Bürger dieser mächtigen Nation sind zu der Überzeugung gekommen, daß die Völker südlich des Rio Grande denen nördlich dieses Flusses von Natur aus unterlegen sind. Eine große Zahl von Lateinamerikanern wiederum ist davon überzeugt, den Angelsachsen überlegen zu sein. Bis zu einem gewissen Grade sind beide Überzeugungen gerechtfertigt; beide aber sind die Ergebnisse einer oberflächlichen Kenntnis rassischer Besonderheiten und eines bedauerlichen Mangels an gegenseitigem Verstehen und Sympathie. Keines der Völker vermochte eine überzeugende Vorstellung vomWert des anderen zu erlangen. Ein Golf des Mißverstehens liegt zwischen den Herrschern und den Beherrschten des amerikanischen Kontinents. Und wenig wird getan, um Brücken der Eintracht über diesen Golf zu spannen, obwohl dies im eigensten Interesse der beiden Völker läge. Viele Barrieren behinderten in der Vergangenheit die Verbreitung der 183 Zivilisation unter den Lateinamerikanern. Im Gegensatz zu den PilgerväternNeuenglands waren die Menschen,welche Südamerika kolonisierten, vergnügungssüchtig, habgierig und abenteuerlustig. Unter spanischer Vorherrschaft war ihnen nie die Gelegenheit gegeben worden, sich selbst zu regieren. Somit fiel es ihnen schwer, die Souveränität ihrer Länder zu bewahren. Doch nachdem sie damit begonnen haben, ihre Probleme zu erkennen, verkünden sie den Fortschritt. Lateinamerika ist ein Land der Zukunft. Es ist der potentielle Erzeuger der meisten Nahrungsmittel und Rohprodukte für die ganze Welt. Schon jetzt ist jedes der zwanzig Länder Lateinamerikas für ein Produkt bekannt, von dem der Rest der Welt abhängig ist. Wir sind auf den Kaffee aus Brasilien angewiesen, auf den Zucker aus Kuba und auf den Weizen aus Argentinien. Überdies stellen diese zwanzig Länder für den Welthandel einen Markt dar. Zweifellos wird Lateinamerika in naher Zukunft ein Goldenes Zeitalter erleben. Freundschaftliche Beziehungen zwischen Nord- und Südamerika zu pflegen wird von größerem gegenseitigen Nutzen sein als je zuvor. Einer weit verbreiteten Meinung zufolge haben wir zu ganz Lateinamerika freundschaftliche Beziehungen geknüpft. Generell zielt unsere Außenpolitik darauf ab, die allgemeineWohlfahrt der Völker des Südens zu fördern.Ohne unsere Intervention in Ecuador hätte dieses Land dank seiner gesundheitsschädlichen Zustände sein Gift auf die gesamte Neue Welt übertragen. Mit dem Einsatz amerikanischer Wissenschaft verlor in Zentralamerika das Gelbfieber seinen Schrecken. Dank Onkel Sams Militärmacht wurde Venezuela vor Deutschland, Kuba vor Spanien,Mexiko vor Frankreich beschützt; wir verteidigen alle schwachen Länder gegen europäische Vorherrschaft. Wir regieren in Santo Domingo, weil die Ureinwohner es versuchten und damit scheiterten. Wir unterrichten die Schwarzen von Haiti, damit sie lernen, ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände zu nehmen. Die Vereinigten Staaten haben viele Länder vom Fluch der Revolution befreit. Viele der kleineren Republiken verdanken ihre zivilisatorische Weiterentwicklung amerikanischer Finanzierung. Panama ist Panama dank unserer Kanalinteressen. Alles in allem war unsere Intervention in Lateinamerika von altruistischen Motiven geleitet. Warum gibt es dann Mißverständnisse zwischen den Latinos und den Angelsachsen dieses Kontinents? Jedes Problem hat seine zwei Seiten. Denn andere Völker denken anders.

Was die Frage der amerikanischen Intervention in Lateinamerika betrifft, denken viele Völker anders darüber. Angeführt von Manuel Ugarte, lehren die hervorragenden Literaten der Länder des Südens ihre Leser, wie sie denken sollen. Die Professoren der großen südamerikanischen Universitäten lehren ihre Studenten, was sie denken sollen. Die Staatsmänner unter Führung von Dr. Honorio Pueyrredon denken und beginnen damit, ihre Länder denken zu lassen.

Dies Denken, das so wirksam in das geistige Leben der lateinamerikanischen Republiken eingegriffen hat, wurde durch Handlungen gewisser Bürger der Vereinigten Staaten angeregt. Die große Mehrheit von ihnen sind Kapitalisten, die in den Republiken des Südens eifrig Geld investierten und auf ihre Ausbeutung erpicht waren. Sie hofften nicht auf den Fortschritt der anderen, sondern sie hatten einzig und allein ihr eigenes materielles Fortkommen im Auge. Sie gehören zur Familie der ganz und gar Selbstsüchtigen. Nicht allein finanziellwaren sie erfolgreich; es gelang ihnen überdies, sich die Verachtung und Feindschaft der Menschen zu erwerben. Sie gehören der schwachsinnigen Bruderschaft der Goldanbeter an. Und es fällt schwer, sie ihrer Missetaten zu überführen, denn sie sind äußerst gerissen und scheinheilig. Sie sind unsere Botschafter in Lateinamerika. In den Augen der Völker des Südens sind diese Herren die Vereinigten Staaten. Sie sind die Bücher, in denen die Lateinamerikaner unsere Geschichte nachlesen, die Bilder, welche die angelsächsischen Ideale abkonterfeien.

Vor sechs Jahren liehen drei amerikanische Banken der Republik Bolivien 26 Millionen Dollar. Laut Vertrag war vorgesehen, daß jährlich 10 Prozent des Kapitals in Monatsraten gezahlt werden sollte, bei einem Zinsfuß von 8 Prozent. Im Fall einer Nichterfüllung von seiten dieses Staates würde den Bankern die vollständige Kontrolle über die Bolivianische Nationalbank, bestimmte bolivianische Eisenbahnen und das Steueraufkommen der Republik eingeräumt werden. Gemäß diesem Vertrag von 1922 ist es der bolivianischen Regierung untersagt, ohne die Einwilligung der amerikanischen Banken anderweitig Geldanleihen aufzunehmen. Zur Durchführung dieser Vereinbarungen sowie zurÜberwachung der bolivianischen Finanzenwurde eine ständige Steuerkommission gebildet. Sie besteht aus drei vom Präsidenten Boliviens ernannten Mitgliedern, zwei von ihnen wurden von den Amerikanern empfohlen. Folglich ist die ökonomische Zukunft Boliviens dem Willen einer Handvoll Banker unterworfen. Dies ist jedoch nur ein Beispiel für die Machenschaften amerikanischer Kapitalisten. Das Herz eines jeden lateinamerikanischen Landes ist durch solche Stränge unlösbar mit den Bankniederlassungen von der Wall Street verbunden.

 'Leben und Eigentum' von solchen Geldraffern wie diejenigen von Bolivien sollte vor 15 Jahren von den Marine-Infanteristen der Vereinigten Staaten geschützt werden, die in Nicaragua einfielen. Sie sind immer noch dort. Nachdem sie die Politik dieses Landes an sich gerissen hatten,waren sie umsichtig genug, einen Konservativen im Präsidentenamt zu belassen. Der kommandierende Admiral hielt in seiner Meldung nach Washington fest, daß nur ein Viertel des Landes konservativ sei und daß jede seiner Aktionen gegen den Willen von drei Vierteln der Nicaraguaner geschehe. Die Furcht um die Souveränität von Nicaragua und die anderer lateinamerikanischer Nationen war geboren. Die anderen Völker begannen zu denken, daß in Zentralamerika keine Regierung ohne die Billigung der Vereinigten Staaten existieren konnte.

Einige haben die Unterschiede zwischen dem Norden und dem Süden auf die ewigen Rassen- und Religionsprobleme zurückgeführt. Andere halten eine Lösung dieser Fragen und die Verwirklichung panamerikanischer Ideale für unwahrscheinlich. Solcher Art ist das Ergebnis unseres förderungswilligen amerikanischen Kapitalismus. Ob wir die Intelligenz dieser Denker leugnen; ob wir diese Gedanken als die Raserei radikaler Köpfe abtun; ob wir einige oder alle diskreditieren, macht überhaupt keinen Unterschied und kann keinen machen. Denn gegen alles sich widersetzend, sind sie da, allgegenwärtig, sie wachsen und greifen um sich, tief verwurzelt in der intellektuellen Gegenwart und Zukunft Lateinamerikas. Viele haben unsere Einmischung in der Vergangenheit gefürchtet. Viele werden unsere Intervention in Zukunft hassen. Denn der Jugend des Südens wird das Nachdenken beigebracht.

Hat Lateinamerika recht,wenn es unseren Altruismus einen maskierten Imperialismus nennt? Sollten wir auch weiterhin in Lateinamerika intervenieren? Was würden die großen Männer unserer Geschichte in diesem Dilemma tun? Würde Lincoln nicht die Sache der Schwachen vertreten? Aber würde Roosevelt nicht die amerikanische Intervention rechtfertigen?
Was tun wir?
Was sollten wir tun?
Es wäre eine der größten Segnungen, die den Vereinigten Staaten in naher Zukunft widerfahren könnte,wenn sie ihre Industrie anhalten würden, wenn ihre Wirtschaft aussetzte und dem Volk das Reden verginge, wenn in der Geschäftswelt eine große Pause eintreten und schließlich alles stillstehen würde, was läuft, bis jeder das letzte Rad sich drehen und das letzte Echo verhallen hörte . . . dieser Augenblick vollständiger Flaute und ungetrübter Ruhe wäre dann die günstigste Stunde für die Geburt eines panamerikanischen Bewußtseins. Dann könnten wir die Frage beantworten 'Was sollten wir tun?'. Denn wir wären schweigsam und still und hätten Gelegenheit, zu erfahren, daß andere Völker denken.

Unsere Aufgabe ist es, das lateinamerikanische Denken zur Kenntnis zu nehmen und es zu respektieren. Es ist ein Produkt des menschlichen Geistes und insofern wahrhaft großartig. Mit diesem müssen wir unser Denken vergleichen und es davon abheben. Wenn beide beisammen sind, das lateinische und das angelsächsische, müssen wir das Richtige vom Unrichtigen trennen. Unsere Handlungen waren in der Vergangenheit weder unablässig lobenswert, noch waren sie unausgesetzt verwerflich. Und die Lateinamerikaner waren nicht immerzu unfehlbar in ihrem Denken und in der Auffassung der Gegenwart. Unsere südlichen Nachbarn müssen lernen, unsere Hilfe, die sie zur Selbstbestimmung befähigen soll, anzunehmen. Wir müssen lernen, daß der Tag kommen wird, an dem man unsere Hilfeleistungen nicht mehr braucht. Dieser Tag wird für die Vereinigten Staaten eine große Verantwortung mit sich bringen. Dieser Tag wird einen der größten Tests darstellen, den diese praktische Demokratie jemals zu bestehen hatte. Denn sollten wir zu diesem Zeitpunkt weiterhin in die Angelegenheiten irgendeiner lateinamerikanischen Nation eingreifen, wären die anderen Völker davon überzeugt, daß die Vereinigten Staaten imperialistisch sind. Sollten wir dies andererseits nicht tun, würden wir und all unsere Aktionen in Lateinamerika als altruistisch gepriesen.

Ganz gewiß dürfen unsere Nachkommen nicht als Verehrer des Mammon geschmäht werden. Wir dürfen nicht den Weg gewisser amerikanischer Kapitalisten gehen, denn nur wenn wir unsere Hände vom Goldstaub reinigen und mit den Latinos dieses Kontinents einen selbstlosen Händedruck tauschen, wird die Sonne des Pan- Amerikanismus den Horizont erleuchten.

Dank der besänftigenden Strahlen dieser Sonne versöhnt, werden die Amerikaner prosperieren wie nie zuvor. Ökonomisch werden sie die Welt beherrschen, politisch werden sie beweisen, daß der Mensch das Mißverstehen zu überwinden vermag. Glanzvoll werden sie beweisen, daß das internationale Leben nicht bloß ein Ideal, sondern eine Realität ist. Geistig werden die Amerikaner die ganze Menschheit unterweisen. Sie werden keine Lektionen in Selbstlob erteilen, denn es fordert die Zerstörung heraus. Sie werden den Menschen die Wissenschaft der Wertschätzung, des Respektes und der Sympathie für andere verkünden. Beide, Latinos und Angelsachsen, werden gelernt haben, daß andere Völker denken.

zu Teil 2