Vorgeblättert

Leseprobe zu Deborah Levy: Heim schwimmen. Teil 1

24.01.2013.
MONTAG

Väter und Töchter

Seine verlorene Tochter schlief also in Kittys Bett. Joe saß im Garten an seinem Behelfsschreibtisch, wartete darauf, dass die Panik sich legte, in der er sich mit den Fingern den Nacken aufgekratzt hatte, und beobachtete, wie seine Frau drinnen in der Villa mit Laura redete. Sein Atem war völlig aus dem Rhythmus; er rang nach Luft. Dachte er, dass Kitty Finch, die Seroxat abgesetzt hatte und sicherlich einiges durchmachte, durchgedreht war und seine Tochter umgebracht hatte? Seine Frau kam jetzt zwischen den Zypressen hindurch auf ihn zu. Seine Beine zuckten, als wollte ein Teil von ihm vor ihr weglaufen oder vielleicht zu ihr hin. Er wusste beim besten Willen nicht, was von beidem. Er konnte versuchen, Isabel etwas zu erzählen, aber er wusste nicht, wo er anfangen sollte, weil er nicht wusste, wo das hinführen würde. Es gab Zeiten, da hatte er das Gefühl, dass sie ihm kaum in die Augen schauen könne, ohne ihr Gesicht in den Haaren zu vergraben. Und er konnte ihr ebenso wenig in die Augen schauen, weil er sie schon so oft betrogen hatte. Vielleicht sollte er jetzt wenigstens versuchen, ihr zu sagen, dass er immer dann, wenn sie ihre kleine Tochter alleine ließ, um sich in ein Zelt zu legen, in dem es vor Skorpionen wimmelte, sehr gut verstand, dass sie es als sinnvoller empfand, in einem Kriegsgebiet unter Beschuss zu geraten, als im sicheren eigenen Heim von ihm angelogen zu werden. Gleichwohl wusste er, wie sich seine Tochter in den ersten Jahren die Augen nach ihr ausgeweint und dann im Lauf der Zeit gelernt hatte, dass sie davon auch nicht zurückkam. Bei ihm, ihrem Vater, wiederum (dieses Thema ging ihm immer und immer wieder im Kopf herum) löste die Traurigkeit seiner Tochter Gefühle aus, mit denen er nicht in Würde umzugehen vermochte.

Er hatte seinen Lesern davon erzählt, wie er von seinen Vormündern auf ein Internat geschickt worden war und wie er immer zugesehen hatte, wenn die Eltern seiner Schulfreunde sich am Besuchstag (sonntags) verabschiedeten, und wenn seine Eltern ihn ebenfalls besucht hätten, dann wäre er ewig in den Reifenspuren stehen geblieben, die ihr Auto im Staub hinterlassen hätte. Seine Mutter und sein Vater waren keine nachmittäglichen, sondern nächtliche Besucher. Sie erschienen ihm in Träumen, die er sofort wieder vergaß, aber er glaubte, dass sie ihn suchten. Am meisten Sorgen hatte ihm der Gedanke gemacht, die beiden könnten nicht genügend englische Wörter kennen, um sich verständlich zu machen. Ist mein Sohn Jozef hier? Wir haben ihn auf der ganzen Welt gesucht. Er hatte sich die Augen nach ihnen ausgeweint und dann im Lauf der Zeit gelernt, dass sie davon auch nicht zurückkamen. Er schaute seine kluge, sonnengebräunte Frau an, deren Gesicht von ihren dunklen Haaren verdeckt war. Dieses Gespräch könnte etwas ins Rollen oder zu Ende bringen, aber es begann völlig verkehrt, war viel zu ziellos und verkorkst. Er hörte sich fragen, ob sie gerne Honig esse.
     »Ja. Warum?«
     »Weil ich so wenig über dich weiß, Isabel.«
     Er würde seine Pranke in sämtliche Hohlräume aller Bäume dieser Welt stecken, um die Honigwaben herauszuholen und sie ihr zu Füßen zu legen, wenn er die Hoffnung hätte, sie würde dann noch ein wenig länger bei ihm und ihrem Nachwuchs bleiben. Sie wirkte feindselig und einsam, und er verstand sie gut. Er widerte sie offenbar an. Sie zog seiner Gesellschaft sogar die von Mitchell vor.
     Er hörte sie sagen: »Worauf wir uns für den Rest des Sommers vor allem konzentrieren müssen, ist, dass es Nina gutgeht.«
     »Natürlich geht es Nina gut«, schnauzte er. »Ich kümmere mich um sie, seitdem sie drei ist, und es geht ihr verdammt gut, oder etwa nicht?«
     Und dann holte er sein Notizbuch und den schwarzen Tintenfüller hervor, der am Morgen verschwunden gewesen war, denn er wusste, dass Isabel sich jedes Mal, wenn er so tat, als ob er schreibe, und jedes Mal, wenn er über ihre Tochter sprach, geschlagen gab. Das waren die Waffen, mit denen er seine Frau zum Schweigen brachte und dafür sorgte, dass sie Teil seines Lebens blieb, dass ihre Familie intakt blieb, voller Probleme und Feindseligkeit zwar, aber doch eine Familie. Seine Tochter war sein großer Triumph in ihrer Ehe, das Einzige, was er je richtig gemacht hatte.
     - Ja Ja Ja hat sie gesagt Ja Ja Ja sie mag Honig - sein Füller kritzelte diese Worte aggressiv quer über die Seite, während er einen weißen Schmetterling beobachtete, der über dem Pool auf der Stelle flatterte. Es war wie Atem holen. Es war Zauberei. Ein Wunder. Er und seine Frau wussten Dinge, die völlig unbegreiflich waren. Sie hatten beide gesehen, wie Leben ausgelöscht wurde. Isabel dokumentierte und bezeugte Katastrophen, damit die Menschen nicht vergaßen. Er hingegen versuchte, seine Erinnerungen loszuwerden.

Steine sammeln

»Er hat ein Loch in der Mitte.«
     Kitty hielt einen handtellergroßen Kieselstein hoch und gab ihn Nina, damit sie hindurchschauen konnte. Sie saßen an einem der öffentlichen Strände von Nizza, unterhalb der Promenade des Anglais. Kitty sagte, an Privatstränden müssten sie für Sonnenliegen und Sonnenschirme ein Vermögen bezahlen. Alle sähen aus wie Patienten in Krankenhausbetten. Sie kriege schon eine Gänsehaut, wenn sie nur daran denke. Die sengende Sonne hinterließ pinkfarbene Flecken auf ihrem wachsbleichen Gesicht.
     Nina schaute folgsam durch das Loch. Sie sah eine junge Frau lächeln, in deren Schneidezahn ein lila Edelstein geschraubt war. Als sie den Kieselstein umdrehte, packte die Frau aus einer Tragetasche Essen aus. Jetzt sah sie noch eine weitere Frau, die auf einem niedrigen, gestreiften Segeltuchstuhl saß und in der rechten Hand einen großen weißen Hund an der Leine hielt. Der Hund sah aus wie ein Schneewolf. Ein Husky mit blauen Augen. Nina blickte ihm durch das Loch im Kieselstein in die blauen Augen. Sie war sich nicht sicher, aber sie dachte, der Schneewolf ziehe der Frau mit dem Edelstein im Zahn die Schuhbänder auf. Nina sah das alles bruchstückhaft durch das Loch im Kieselstein. Als sie noch einmal hinschaute, sah sie, dass die Frau im schwarzen T-Shirt nur einen Arm hatte. Sie nahm den Kieselstein quer und spähte mit zusammengekniffenem Auge hindurch. Neben dem Segeltuchstuhl parkte ein mit Muscheln verzierter elektrischer Rollstuhl. Jetzt küssten sich die Frauen. Wie ein Liebespaar. Während sie zusah, wie ihre Körper sich aneinanderschmiegten, hörte Nina, wie ihr eigener Atem lauter wurde. Sie musste schon den ganzen Urlaub daran denken, was sie tun würde, wenn sie einmal mit Claude allein wäre. Er hatte sie eingeladen, zu ihm ins Café zu kommen, »auf einen Aperitif«, wie er es nannte. Sie wusste nicht genau, was das war, aber jetzt war sowieso etwas passiert, wodurch nichts mehr wie vorher war.

Als sie letzte Nacht aufgewacht war, hatte sie gemerkt, dass sie zum ersten Mal menstruierte. Sie hatte ihren ganzen Mut zusammengenommen, ihren Bikini angezogen, das Einzige, was sie auf die Schnelle fand, und bei Kitty geklopft, um ihr die Neuigkeit zu erzählen. Kitty lag unter einer alten Tischdecke wach und hatte eines ihrer Kleider zu einem Kissen aufgerollt.
     »Es hat angefangen.«
     Zuerst wusste Kitty nicht, was sie meinte. Und dann nahm sie Nina an die Hand, und sie rannten in den Garten. Nina sah ihren Schatten im Pool und gleichzeitig am Himmel. Sie war lang und groß, unendlich und ohne Anfang, ihr Körper langgestreckt und riesenhaft. Sie wollte schwimmen gehen, und als Kitty ihr versicherte, sie müsse sich wegen des Blutes keine Sorgen machen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und zog sich nackt aus, wobei sie ihren Schattenzwilling die Schleife des Bikinis tapferer aufmachen sah, als die Nina in Lebensgröße sich tatsächlich fühlte. Schließlich sprang sie in den Pool und versteckte sich unter der Blätterdecke, die auf dem Wasser schwamm, unsicher, was sie mit ihrem neuen Körper anfangen sollte, denn er war dabei, sich in etwas Fremdes und Verwirrendes zu verwandeln.
     Kitty kam herübergeschwommen und zeigte auf die silbernen Schnecken auf den Pflastersteinen. Der Sternenstaub lege sich auf alles, sagte sie. Die Schnecken seien mit kleinen Stücken zerbrochener Sterne übersät. Und dann musste sie blinzeln.
     Blah blah blah blah blah blinzeln.
     Nina stand nackt im Wasser und tat, als hätte sie eine schwere Sprachstörung, indem sie in ihrem Kopf stammelnde Laute formte. Sie fühlte sich wie jemand anderes. Wie eine, bei der es angefangen hat. Wie eine Fremde. Sie war unerträglich glücklich und tauchte den Kopf unter Wasser, zur Feier des Wunders, dass Kitty hier aufgetaucht war. Sie war nicht allein mit Laura und Mitchell und mit ihrer Mutter und ihrem Vater, von denen sie nicht recht wusste, ob sie sich mochten, geschweige denn liebten.

Teil 2