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Ritter Evans' Suche nach der Objektivität

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Peter Truschner
24.06.2021. Es gibt großartige Künstlerbiografien, aber Svetlana Alpers' "Walker Evans - America. Leben und Kunst" gehört leider nicht dazu. Was daran stört ist eine Art von intellektuellem Kitsch, die die Rede von der Kunst schon seit den achtziger und neunziger Jahren unerträglich macht: Die Behauptung vom "Tod des Autors".
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1989 landeten Steven Naifeh und Gregory White Smith einen Coup der Künstler-Biografie: "Jackson Pollock - An American Saga". Das in jeder Hinsicht ausufernde Buch war das Ergebnis von acht Jahren Arbeit und zweitausend Interviews mit achthundertfünfzig Personen. Es beinhaltete eine Fülle bis dahin unveröffentlichten Materials, darunter von Ärzten und Psychologen. Und vor allem: seine Witwe Lee Krasner nahm zum ersten Mal nach zwanzig Jahren zu ihrer Beziehung zu Pollock Stellung. Ein Glücksfall, von dem alle AutorInnen von Biografien träumen.

Die geradezu minuziöse Recherche von Pollocks Leben und den Geschehnissen der Zeit, in denen er gelebt hat, wird begleitet von wunderbar leichthändigen Schilderungen: "Kept alive by dinners and occasional kisses, his fantasy carried Jackson through the winter." Der Schauspieler Ed Harris war davon so gefesselt, dass er den Film "Pollock" mit sich selbst in der Titelrolle drehte (Oscar für Marcia Gay Harden in der Rolle der Lee Krasner, Oscar-Nominierung für Harris).


2006 veröffentlichten Mark Stevens und Analyn Swan nach zehn Jahren Arbeit die definitive Biografie über Willem de Kooning, die nicht nur im Titel Ähnlichkeiten mit dem Buch von Naifeh und Smith aufweist:"De Kooning - An American Master". Obwohl das Buch ebenso mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde wie das Buch über Pollock, leidet es darunter, dass es im Grunde nicht viel Neues zu bieten hat, während Naifeh und Smith Pollocks bis dahin unbekannte, problematische Kindheit und Jugend im amerikanischen Westen zutage förderten.

Die vielleicht schönste, berührendste große Biografie einer US-Ikone ist die von Ann Stevenson über Sylvia Plath. "Ich bewundere die Sensitivität, mit der Stevenson das Leben von Plath, ihre Briefe, ihre Tagebücher, ihre Erzählungen und ihre Gedichte ineinander verwoben hat", schreibt John Updike, und bekennt, dass ihn das Buch  - ebenso wie mich - "tief bewegt" hat. Ein weiteres Urteil von Joyce Carol Oates darüber lautet: "Eine packende, wunderbar lesbare Biografie."
Oates hat im TLS auch eine überaus wohlwollende Rezension über jene Biografie geschrieben, um die es in dieser Besprechung eigentlich gehen soll: Svetlana Alpers' "Walker Evans - America - Leben und Kunst". Der Verlag behauptet in einem Schreiben, das dem Rezensionsexemplar beiliegt, diese Besprechung sei ein "Beleg" dafür, dass Alpers Buch nicht "nur fachlich herausragt", sondern "literarisch von besonderem Rang" ist. Die Übersetzung von Wolfgang Kemp sei zudem "kongenial" und "preisverdächtig".



Im ersten Teil widmet sich Alpers der Eigenart von Evans' Fotografie sowie seiner Affinität zur Literatur - Evans wollte ursprünglich Schriftsteller werden. In Frankreich begegnete er dem Werk von Flaubert und Baudelaire, wandte sich dann aber - inspiriert von den Arbeiten von Eugene Atget - der Fotografie zu, die er für "die literarischste aller Künste" hielt.
Alpers behauptet, dass Evans "im Innersten ein Schriftsteller blieb" - tatsächlich war er nie einer, hatte dem Schatten seiner großen Vorbilder Flaubert und Baudelaire nichts entgegenzusetzen und sich daraufhin - wie er selbst nonchalant zugab - ein Terrain gesucht, das nicht so vorbelastet war.

Evans nutzte nach eigener Aussage Flauberts Methode "auf zweierlei Weise: sein Realismus und Naturalismus und die Objektivität seines Verfahrens und das Verschwinden des Autors. Diese Qualitäten sind wörtlich auf meine Art des Kameraeinsatzes zu übertragen."

Flaubert meint: "Der Autor muss wie ein Gott im Weltall sein, überall anwesend und nirgends sichtbar." In "Madame Bovary" heißt es einmal über die Mütze eines Jungen: "Es war eine jener bunt zusammengesetzten Kopfbedeckungen, in denen sich die Grundbestandteile der Bärenfellmütze, des steifen Huts und der baumwollenen Zipfelmütze vereinigt fanden: mit einem Wort, eins jener armseligen Dinge, deren stumme Hässlichkeit Tiefen des Ausdrucks besitzt wie das Gesicht eines Schwachsinnigen."

Unglaublich, diese Objektivität und das Verschwinden des Autors, nicht wahr?

Damit man mich nicht falsch versteht: Flaubert ist ein bedeutender Schriftsteller - der Anspruch an sich selbst und an seine Bücher ist trotzdem lächerlich (man versuche mal, "Salammbo" mit dieser Vorgabe zu lesen). Aber mit der Willfährigkeit der Leute, von "Experten" vorgetragene Ideen nachzubeten, hat man immer schon gute Geschäfte gemacht, etwa in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als Autoren in ihren Büchern und Vorlesungen vom Tod des Autors gefaselt haben.

Irritierend ist, wie Alpers das einfach hinnimmt. Sie meint, Evans "lässt alles so, wie es ist. (...) Er hält sich zurück, weder urteilt er noch greift er ein. (...) Zurückhaltung und Distanz sind seine große Fertigkeit." Ja, mehr noch. Alpers glaubt, dass sich ihr Substanzielles offenbart habe: "Ich glaube tatsächlich, dass das grundlegend zur Natur der Photographie gehört."

Zur Zeit von Evans' ikonischen Fotografien arbeitet Wittgenstein unter anderem gerade an der Revision der Abbildtheorie des "Tractatus". Das Sprachspiel rückt in den Mittelpunkt, in dem die Sprache spricht, als unmittelbarer Sprechakt, aber auch als etwas historisch Gewachsenes. Worüber man im Tractatus nicht sprechen kann, darüber muss man nicht mehr schweigen: es zeigt sich vielmehr. Das Zeigen wird dem Sagen zur Seite gestellt, in ihm offenbart sich nicht nur das Gezeigte, sondern - zumindest in Umrissen - auch derjenige, der zeigt. Ein Urknall des Dekonstruktivismus, in dessen Folge sich das Faktische, Objektive nicht selten als normative Setzung erweist.
Eine Entwicklung, die an Alpers vorübergegangen zu sein scheint.

Auch Evans geradezu existenzieller Trennung von "malerisch" und "fotografisch" folgt Alpers (nach einem wenig erhellenden Rekurs auf Cézanne) mehr oder weniger vorbehaltlos. Bei anderen Fotografen als Evans spürt Alpers "das Gestellte der Aufnahme" denn diese Fotografen sind "in die Kamera verliebt", während bei Evans "der Apparat nicht hervortritt", sondern "das Auge".

Alpers ist gerührt von Evans' "Respekt vor der Würde eines Wagens. (...) Er ist außer Betrieb genommen. Das Gras und die Zweige bestätigen sein Aufgegebensein und zugleich schützen sie den Wagen." Diese Art von intellektuellem Kitsch ist spätestens seit John Szarkowskis kanonischen Arbeiten über Atget, Evans und Co. seit den siebziger Jahren fester Bestandteil des Schreibens über Fotografie. Man denke nur an die Texte, die Serien wie Thomas Struths "Unconscious Places" nach sich zogen. Man konnte das Gefühl bekommen, Struth wandele als eine Art Franz von Assisi der Fotografie über die Erde, schenke selbstlos noch dem unscheinbarsten Ding, dem ödesten Areal seine Aufmerksamkeit und entreiße es dadurch für immer dem Vergessen.

Eine wirklich gelungene, dabei unprätenziöse und mit keinen metaphysischen Huldigungen bedachte Arbeit in dieser Richtung bilden die Fotos von Michael Wolf, die er von improvisierten Stühlen und Wäscheleinen in Hongkong gemacht hat. Humor- und liebevoll, ganz genau um den Ort und die Praktiken der Bevölkerung wissend, letztlich Teil davon - also das Gegenteil von Evans, der lediglich dorthin ging, wo es für ihn "subventionierte Freiheit" gab, also bezahlte Aufträge, bei denen er mehr oder weniger das machen konnte, was er wollte.

Auf Evans' Biografie geht Alpers nur am Rande ein. Evans hielt sein Privatleben so gut er konnte im Verborgenen, und Alpers kommt ihm dabei entgegen - etwas, das man einer 85-jährigen Grande Dame der Kunstgeschichte gern durchgehen lässt, das aber nur wenig zur Erhellung des Gegenstands der Untersuchung beiträgt.

Es gibt Aussagen von Evans, deren Hintergründe Alpers eingehender hätte beleuchten können. "Ich verachte den wohlhabenden und auf frivole Weise oberflächlichen Amerikaner wie F. Scott Fitzgerald. (...) Ich hüpfte jedes Mal vor Freude, wenn ich las, dass einer dieser Börsenmakler sich aus dem Fenster geworfen hat." Oder noch interessanter: "Ein Großteil meines Charakters basiert auf meiner Revolte gegen die amerikanischen Frauen." Auch über eine respektable Leistung von Evans - die Tatsache, dass er in seiner Fotografie den Lebensumständen der Afroamerikaner die gleiche Bedeutung beimaß wie denen der Weißen - erfährt man im Grunde nichts. War das seinem objektiven Anspruch geschuldet? Gab es persönliche Gründe für diese damals ungewöhnliche, von manchen regelrecht als "gefährlich" (James Agee) eingestufte Position?


Man kann das Privatleben einer Ikone - ihre Widersprüchlichkeit, ihre Untiefen, ihr Sexualleben - übrigens durchaus bloßlegen, ohne dabei die Bedeutung ihres Werks in irgendeiner Weise zu mindern, wie das vor kurzem Benjamin Moser in seiner Biografie über Susan Sontag spektakulär gelungen ist.

Auf Seite 156, knapp 90 Seiten, bevor die Bildtafeln kommen, war schließlich für mich Schluss, ich habe das Buch nicht zu Ende gelesen. Es ist Sommer, und nach einer endlosen Folge von Lockdowns ist meine Geduld begrenzt - ich hoffe, die werten LeserInnen üben sich in Nachsicht mit mir.

Alpers Buch ist weder eine substanzielle Biografie, noch eine fesselnde kunstphilosophische Abhandlung. Eher eine intellektuelle Form von Hagiografie oder ein eigentümlicher Nachfahre des europäischen Ritterromans: "Ritter Evans' Suche nach der Objektivität." In einer auf die Fotografie zugeschnittenen Verfilmung von Umberto Ecos "Der Name der Rose" wäre Evans William von Baskerville und Alpers Adson von Melk.

Im Gegensatz zur Ansicht des Verlags ragt das Buch weder fachlich heraus, noch ist es von besonderem literarischen Rang. Ich kann es im Grunde niemandem empfehlen. Wer unbefangen an die Sache herangeht, ist nach der Lektüre dieses huldvollen, sich schwer am kanonisierten Bildungsgut abarbeitenden Textes unnötig verwirrt; für KennerInnen der Materie ergibt sich - wie bei der anfangs erwähnten de Kooning-Biografie - wenig Neues.

Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de




Svetlana Alpers: Walker Evans. America. Kunst. Leben. 416 Seiten, 15 x 23,5 cm, Hardcover. Schirmer/Mosel Verlag, München 2021, 48 Euro.  ISBN-13: 978-3829609104 (Kaufen bei eichendorff21)