Was sagt der Umgang mit Wikileaks eigentlich über den Stand der Pressefreiheit in den westlichen Staaten aus? Dazu sind in den letzten Tagen eine Reihe sehr interessanter Artikel erschienen. Zunächst mal geht es um die Frage, ob das Internet geholfen hat, Zensur zu erleichtern oder zu erschweren. Im vorletzten Blogeintrag habe ich James Cowie von der IT-Sicherheitsfirma Renesys zitiert, der in einer sehr lesenswerten Analyse am Beispiel von Wikileaks beschrieb, wie schwer Zensur heute durchsetzbar ist. Für eine so bekannte Seite wie Wikileaks mag das richtig sein, aber für alle anderen?

Als die Afghanistan-Tagebücher auf Wikileaks veröffentlicht wurden, schrieb John Naughton am 1. August 2010 im Guardian: "Die traurige Wahrheit ist, dass es heute rein praktisch unglaublich einfach ist, das Web zu zensieren. In den meisten Rechtssystemen muss man nur einen Anwalt bezahlen, der einen Drohbrief an den Provider schreibt, der die missliebige Seite hostet. Der Brief kann Verleumdung geltend machen oder Urheberrechtsverletzung oder Verletzung der Persönlichkeit oder andere Gründe. Die Details spielen in der Regel keine Rolle. In neun von zehn Fällen wird der Provider die Seite sofort aus dem Netz nehmen - oft ohne sich die Mühe zu machen nachzuprüfen, ob die Beschwerden irgendeine Berechtigung haben. Der Grund: ein Präzedenzfall, der sogenannte 'demon internet'-Fall, der festlegte, dass ein Provider für die Schäden haften muss, wenn er auf eine Beschwerde nicht reagiert. Die meisten Provider gehen dieses Risiko nicht ein und ziehen den Stecker. QED."

Die serbische Piratenpartei musste diese Erfahrung jetzt machen. Ihr Tweet vom Sonntag: "We finally got a confirmation from @mochahost our account was indeed suspended because of the #wikileaks mirror!" Und tatsächlich: die Seite ist nicht mehr erreichbar.

Auch Amazon hat die Theorie von Naughton bestätigt: Die Seite von Wikileaks war in den letzten Monaten massiv attackiert worden (auf genau die gleiche Art, wie Anonymous jetzt die Seiten von Amazon, PayPal, Mastercard etc. attackiert). Aus diesem Grund war Wikileaks mit einem Teil seines Inhalts vom schwedischen Provider PRQ zu Amazon gewechselt, das seit 2006 fremde Seiten hostet. Amazon kündigte jedoch den Vertrag mit Wikileaks nach Veröffentlichung der Diplomaten-Depeschen mit der Begründung, Wikileaks verstoße gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Zuvor hatte der amerikanische Senator Joe Lieberman Druck auf Amazon ausgeübt. Seitdem hat Cloud Computing keinen guten Namen mehr, wie John Naughton gestern im Guardian festhielt.

Auf der Webseite von CNN warnt Rebecca MacKinnon davor, dass die Infrastruktur des Netzes von privaten Firmen beherrscht wird. Das, schreibt sie, wirft anlässlich der jüngsten Vorgänge um Wikileaks ein paar ganz neue Fragen auf: "Wie treffen private Internet- und Telekommunikationsgesellschaften ihre Entscheidung darüber, welchen Inhalt sie erlauben oder nicht, der die Fähigkeit der Bürger beeinflusst, informierte Debatten zu führen? Wie steht es um die Pflicht und Verantwortung des privaten Sektors, die Erosion der Demokratie zu verhindern? Was Amazon getan hat, war legal. Aber die Botschaft, die die Firma nichtsdestotrotz ihren Kunden geschickt hat, lautete: Wenn ihr kontroversen Inhalt publiziert, der Mitgliedern der amerikanischen Regierung missfällt, dann wird Amazon - selbst wenn viel dafür spricht, dass ihr nur von eurer verfassungsrechtlich garantierten Meinungsfreiheit Gebrauch macht - euch beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten fallen lassen."

Warum ist der Informant, der die Depeschen an Wikileaks weitergereicht hat, eigentlich nicht zu einer der großen Tageszeitungen wie der New York Times oder der Washington Post gegangen - wie Daniel Ellsberg mit den Pentagon-Papieren oder Deep Throat mit seinen Informationen über Watergate - sondern statt dessen zu einer "jungen, kleinen und staatenlosen Internetorganisation", fragt Eva Sanchis auf der Webseite des amerikanischen Medienkonzerns McClatchy. "Ein wichtiger Grund ist, dass die Mainstream-Medien der Bush-Regierung geholfen haben, unter falschen Voraussetzungen in den Irakkrieg zu ziehen. Die New York Times und die Washington Post haben sich inzwischen dafür entschuldigt, nicht skeptischer gewesen zu sein."

Auch Emily Bell hätte es sehr interessiert zu erfahren, wie viele Zeitungen die Depeschen zurückgegeben oder viel selektiver veröffentlicht hätten. "Es ist eine exzellente Übung für Studenten (und Redakteure) darüber nachzudenken, was sie getan hätten. Man hat den Eindruck, dass viele Korrespondenten über ihre Kontakte zu Diplomaten schon Zugang zu den Depeschen hatten. Warum sonst sind sie so wenig überrascht über den Inhalt?"

Derweil sucht die amerikanische Justiz nach einem Grund, Julian Assange in die USA ausliefern zu lassen. Schwierig, denn er hat die Depeschen nicht gestohlen, er hat sie nur veröffentlicht. Dem Versuch, die NYT nach der Veröffentlichung der Pentagon-Papiere auf Grundlage des Spionage-Gesetzes von 1917 anzuklagen, hatte der Oberste Gerichtshof der USA 1971 eine Abfuhr erteilt. Bei Assange dürfte das nicht viel erfolgreicher sein. Mehr haben seine Gegner zur Zeit nicht in der Hand, aber man kann ja nie wissen...

Macht euch nichts vor: Die Angriffe auf Wikileaks betreffen auch die alten Medien, ruft Dan Gilmour in Salon. "Natürlich haben die New York Times, Washington Post und viele andere Zeitungen in den USA und anderen Nationen in der Vergangenheit selbst geheime Dokumente veröffentlicht. Sehr, sehr oft, und ohne Hilfe von Wikileaks. Bob Woodward hat praktisch eine Karriere aus der Veröffentlichung geheimen Materials gemacht. Nach der selben Logik, die die Zensoren und ihre Gefolgsmänner in den Medien haben, müssten und sollten diese Zeitungen und viele andere ebenfalls der Zensur unterworfen werden."

Auch Stephen M. Walt stellt sich in Foreign Policy die Frage, warum eigentlich Wikileaks und nicht Bob Woodward attackiert wird. Und er kommt zu dieser Schlussfolgerung: "Eliten gefällt die Idee, Verantwortung zu tragen, und sie trauen nicht wirklich 'den Menschen', die sie regieren, obwohl diese ihre Gehälter zahlen und ihre Kriege ausfechten. Eliten gefällt die Vorstellung von Macht und Insiderstatus: Es macht sie an, Dinge zu wissen, die andere nicht wissen, und es kann so verdammt unbequem werden, wenn die Öffentlichkeit Wind davon bekommt, was unsere 'Besten und Klügsten' tatsächlich tun."

Anja Seeliger