Außer Atem: Das Berlinale Blog

Eine weitere Möglichkeitsdimension: Angela Schanelecs Orly

Von Lukas Foerster
13.02.2010.
Nach der Godardistischen Titelsequenz beginnt der Film "Orly" in den Straßen von Paris. Ein nicht enden wollender Schwenk begleitet eine Frau durch einen Pariser Straßenzug. Gefilmt ist diese Einstellung - wie ein Großteil des restilichen Films - mit einem Teleobjektiv, einem Objektiv mit langer Brennweite und geringer Schärfentiefe, das dazu benutzt wird, Objekte zu filmen, die weit von der Kamera entfernt positioniert sind. Die Bilder des Teleobjektivs haben oft etwas Suchendes, Investigatives, in der Filmgeschichte prägten sie unter anderem die paranoiden Politthriller der siebziger Jahre. Manchmal haben sie auch ganz im Gegenteil etwas Zurückhaltendes, dezidiert Unaufdringliches, wie in den Filmen Hou Hsiao-hsiens, der ganze Melodramen aus weiter Entfernung und durch enge Türöffnungen hindurch gefilmt hat. Angela Schanelec nutzt das Teleobjektiv in ihrem neuen Film wiederum völlig anders.



Nach zwei kurzen, einführenden Szenen gelangt der Film nach Paris-Orly, auf den zweitgrößten Flughafen der französischen Hauptstadt. Mit Ausnahme von zwei kurzen Autofahrten - hin zum Flughafen, weg vom Flughafen, nicht mehr und noch nicht wieder richtig in der Stadt, die Kamera schwebt mit Leichtigkeit neben dem Auto, das nicht richtig am Boden zu haften scheint - spielt der restliche Film hier. Im Verlauf des Films tauchen alle, oder doch fast alle Räume dieses Flughafens auf, Räume, die man auch kennt, wenn man nicht in Orly, aber dafür auf anderen Flughäfen gewesen ist: Wartehallen, Cafes, die Gepäckkontrolle, der Taxistand, ein Kiosk, Rolltreppen. Flughafen sind nach Marc Augé Nicht-Orte, enthistorisiert, entwurzelt, entidividualisiert. Der Kapitalismus ist es, der immer mehr Orte zu Nicht-Orten macht, weil Orte, die selbst in mancher Hinischt warenförmig sind, dem Warenkreislauf nicht ins Handwerk pfuschen können.

Schanelecs Kamera, wie immer von Reinhold Vorschneider bedient und in diesem Film erstmals digitaler Natur, sind diesem Nicht-Ort angemessen, ohne sich ihm zu ergeben. Die Kamera entnimmt der Menschenmasse einzelne Körper und Gesichter, fokusiert sie im kleinen Schärfenbereich des Teleobjektivs, während um sie herum, in der Unschärfe, das Leben weiter geht. Das wirkt manchmal tatsächlich wie eine fast willkürliche Identifizierung, ein zufälliger Griff in eine erst einmal undifferenzierte Masse. Der Witz an der Sache ist: neben der Handlung des Schanelec-Films geht das Leben tatsächlich weiter, die Statisten sind keine Statisten, sondern in den meisten Fällen "echte" Flugreisende, die nichts ahnend in diesen Film geraten sind und von Schanelec nicht entfernt werden.

Auch das ermöglicht das Teleobjektiv: Da die Kamera weit entfernt von ihrem Objekt positioniert wird, kann man eine dramatische Szene inmitten einer Menschenmenge drehen, die nicht weiß, dass sie zur Staffage wird. Es ist schlicht und einfach fantastisch, wie Schanelec und Vorschneider diese Bilder gelingen: Obwohl sie von vorn herein auf ein großes Stück Kontrolle, das sonst bei der Spielfilmproduktion selbstverständlich ist, verzichten (Kontrolle darüber, wer in die Einstellung darf und wer nicht), bleibt der Gestus jeder einzelnen Einstellung souverän, der Film bleibt in jedem Moment lesbar, den kleinen Erzählungen, die sich entfalten, sobald ihre Protagonisten identifiziert worden sind, kommen die Passanten nicht in die Quere - im Gegenteil, sie entfalten sich organisch aus dem Strom der Passanten heraus. Diese Bilder fügen dem Kino Schanelecs eine Möglichkeitsdimension hinzu, etwa wenn in einer Szene eine Schauspielerin ihre Sitznachbarin auf deren Neugeborenes anspricht und man im unklaren darüber bleiben muss, ob die Angesprochene zum Filmteam gehört oder nicht. Auf ganz grundsätzliche Weise öffnet sich der Film hin auf die Welt, in der er spielt.



Dreieinhalb kleine Erzählungen, oder eigentlich keine Erzählungen, sondern bloße Situationen, zweieinhalb davon in französischer Sprache (und am Ende passiert dann zusätzlich noch etwas, was in fast jedem anderen Film als zeitgeschichtlicher Kommentar missverstanden werden könnte). Eine Zufallsbegegnung im Wartesaal, in deren Verlauf ein Mann und ein Frau sich einen nicht geringen Teil ihrer Lebensgeschichte erzählen; dann Mutter und Sohn vor der gemeinsamen Reise, der Sohn probiert eine Sonnenbrille an, ein Blickwechsel mit dem Kellner im Cafe, schließlich erzählt er eine Geschichte aus seinem Leben, nach der sich Mutter und Sohn erst einmal nichts mehr zu sagen haben; schließlich ein Abschied und ein Abschiedsbrief. Dazwischen sieht man manchmal Jirka Zett, den Hauptdarsteller aus dem Vorgänger "Nachmittag", auf einer Wartebank sitzen, mit Rucksack, Europakarte, Italo-Svevo-Roman und schließlich auch mit Freundin. Eine Weile scheint es so, als sei er nur als Signatur in diesem Film, schließlich entspinnt sich auch um ihn eine kleine, wunderschön beobachtete Situation.

Wie in den vorherigen Filmen der Regisseurin sind die Dialoge kaum funktional, selten geradlinig und nehmen des Öfteren sonderbare Abzweigungen. Außerdem scheint eine Differenz zu bestehen zwischen denen in französischer und denen in deutscher Sprache. Letzteren haftet etwas von der Theatralität an, die man von Schanelec kennt, ersteren fast überhaupt nicht. Aber alle Dialoge sind in jedem Moment eingelassen in den ausschließlich am Set aufgenommenen O-Ton des Flughafens. Genau wie die Bilder einige fast willkürlich erscheinende Figuren aus dem Menschengewimmel filtern, isoliert die Tonspur eine Handvoll fein gedrechselter Dialoge aus den Soundscapes Orlys. Angela Schanelecs Bilder wie Töne stellen die Frage nach dem Verhältnis von Freiheit (der Welt, die ihre eigenen Regeln hat) und Kontrolle (durch die Regie), um die man im Kino nie herum kommt, noch einmal grundsätzlich neu.

Angela Schanelec: "Orly". Mit Josse de Pauw, Bruno Todeschini, Natacha Régnier, Mireille Perrier, Maren Eggert. Deutschland, Frankreich 2010, 84 Minuten. (Vorführtermine)