Außer Atem: Das Berlinale Blog

Entropie des Firlefanz: Wong Kar-Wais 'The Grandmaster'

Von Thomas Groh
07.02.2013.


Bruce Lee war der große Pragmatiker und Eklektiker des Kung-Fu: "Sei Wasser", war sein Leitspruch - nicht die Verbundenheit zu einer bestimmten Schule, sondern die Situation beherrschte seinen Kampfstil: Gut ist, was praktisch ist, Stiltreue nur soweit von Belang, wie sie im Moment weiterhilft. Einen ganz ähnlichen Pragmatismus hört man zu Beginn von "The Grandmaster", dem Berlinale-Eröffnungsfilm von Jury-Präsident Wong Kar-Wai, der darin Schlaglichter auf das Leben von Ip Man (Tony Leung), Bruce Lees Lehrmeister, wirft: Im Grunde läuft bei Kung-Fu alles auf zwei Begriffe hinaus - horizontal und vertikal. Einer steht, einer liegt am Boden.

Dass Wong Kar-Wai sich diesen Pragmatismus zu Herzen nimmt, wäre zu wünschen gewesen. Doch aufs Minimale und Praktische lässt Wong Kar-Wai sich (nicht, dass es zu erwarten gewesen wäre) von vornherein nicht ein: Er schlägt Schneisen in die chinesische Geschichte, die oft willkürlich, zumindest aber unkonturiert wirken (dass dies auch an Kulturtransferproblem liegen könnte, lässt sich allerdings nicht ausschließen), fährt ein Ensemble auf, dessen Beziehungen untereinander lange Zeit undeutlich bleiben und streut über den Teig Streusel aus dem Weisheitenschatz des Kalenderspruchgenres. Rauchschwaden verzwirbeln sich, es wird lange tiefsinnig geschaut und sieh an, wenn es schneit, liegt auf Bahnhöfe Schnee: In "The Grandmaster" ist alles Detail, alles Zuwendung, erratisch und unkonzentriert. Was wenigstes andeutungsweise am Endpunkt einer langen, von Brüchen und Verwerfungen geprägten chinesischen Großgeschichte steht - der stillose Stil Bruce Lees - wird vermittelt durch eine hochglänzende Entropie des Firlefanz. Was Wong Kar-Wai an emotionalen Überschuss in seine Bilder legt, perlt von der Leinwand wie Wasser von der gut geölten Pfanne.



Auch zur Stellenlektüre - "die Story war doof, aber die Action wenigstens top!" - ist "The Grandmaster" schlechterdings kaum zu gebrauchen. Wong Kar-Wai hört auch hier nicht auf seine historischen Figuren und versenkt die Choreografien von Großmeister Yuen Woo Ping im Gewitter der Schnitthochfrequenz. Selten einmal, dass einem gegönnt wird, das Spektakel an sich, die Artistik und Athletik der Körper genau zu verfolgen. Fäuste, Füße, Arme - wirbeln herum, alles eins.

Wong Kar-Wai, einst größter Hoffnungsträger einer neuen Poetik des Hongkong-Films, der filigran brüchige Filme wie "Chungking Express" und "Fallen Angels" drehte, Filme, die ihre Brüchigkeit auch der unsicheren Situation im Hongkong der 90er Jahre verdankten, ist mittlerweile längst im Großfilmmodus angekommen. Für die Welt interessiert er sich nicht und, steht zu befürchten, auch kaum mehr für seinen Film, sondern höchstens noch für den Schmelz des einzelnen Bildes, das zur rein nostalgischen Hinwendung erstarrt.

Dass dieser Schmelz dann noch in der als Zukunft des Kinos vielbeschworenen digitalen Projektion einen erbitterten Gegner findet, ist eine Geschichte für sich. Es zeigt sich einmal mehr: Für Filme in dunklen Tönen zwischen Braun und Schwarz ist die Technik noch nicht zu gebrauchen. Ein vergrieseltes Schattenspiel ist die Folge, was für ein Festivaleinstand!

Thomas Groh

"Yi dai zong shi" (The Grandmaster). Regie: Wong Kar-Wai. Mit Tony Leung, Zhang Ziyi, Chang Chen u.a., Hongkong/China 2012, 120 Minuten. (Vorführtermine)