Die Berlinale ist auch 2012 ein Gemischtwarenladen, dessen Ausdifferenzierungen allen möglichen Prinzipien gehorchen, aber sicher keinen kuratorischen. Die angesagtesten Auteurs der Gegenwart warten (mit wenigen Ausnahmen) auch weiterhin auf Cannes. Und wer seismographisch den neuen, noch im Entstehen begriffenen Strömungen des Weltkinos nachspüren will, ist auch weiterhin in Venedig oder Rotterdam besser aufgehoben. All dies - immer wieder kritisiert, im Perlentaucher in den letzten Jahren von Ekkehard Knörer - gilt zwar immer noch. Dennoch kommt es mir im Rückblick so vor, als habe ich in den letzten zehn Tagen mehr interessante, richtungsweisende Filme gesehen, als auf den letzten zwei, drei Berlinalen zusammen.

Alleine der Wettbewerb: Den habe ich - wie auch meine Mitautoren im Perlentaucher - dieses Jahr noch weniger privilegiert als vorher, nämlich im Grunde gar nicht. Dennoch habe ich mindestens zwei Favoriten, denen ich jeden goldenen Bären der Welt bedenkenlos anvertrauen würde: Miguel Gomes und Christian Petzold haben mit "Tabu", beziehungsweise "Barbara" ihrem schon vorher außergewöhnlichen Werk neue, faszienierende Facetten hinzugefügt. Erst recht gilt das für einen dritten Film, meinen allerliebsten im Wettbewerb: Tsui Harks neues Schwertkampfmeisterwerk "Flying Swords of Dragon Gate", den man, neben allem anderen, was ihn auszeichnet, mit gutem Recht als den ersten echten 3d-Film der Filmgeschichte bezeichnen könnte. Leider lief "Flying Swords..." außer Konkurrenz, der Vorgänger "Detective Dee and the Mystery of the Phantom Flame" durfte in Venedig noch um den Goldenen Löwen konkurrieren.

Es gibt noch eine Reihe weiterer Filme, mit deren Auszeichnung ich ohne Probleme leben könnte: Vor allem mit Brillante Mendozas (fast durchweg) kompromisslosem Entführungsdrama "Captive", aber auch Bence Fliegaufs eindringlichen "Just the Wind" und Alain Gomis' allegorischem Alltagsdrama "Aujourd'hui". Selbst die misslungenen Filme, wie Edwins allzu unspezifische Prostitutionsparabel "Postcards from the Zoo" scheinen auf interessantere Art misslungen als in den letzten Jahren. Nur Ursula Meiers luftdicht verpackten Arthauskonzeptfilm "L'enfant d'en haut" bitte ich bei der Preisverleihung unbedingt zu umgehen - auch, weil er immer wieder als Favorit gehandelt wird. Von den Filmen, die uns dieses Jahr entgangen sind, haben zumindest "Cesare deve morire" von den Brüdern Taviani und Spiros Stathoulopoulos' "Meteora" ihre Verfechter gefunden. Die harsche (und durchweg berechtigte) Kritik an der letztjährigen Auswahl dürfte mit dafür gesorgt haben, dass dieses Jahr gleich eine ganze Reihe von Filmen in den Wettbewerb aufgenommen wurden, die in den letzten Jahren Kosslick'schen Topicals hätten weichen müssen.

Und sonst? Die anderen Sektionen sind noch schwieriger als Gesamtheit zu erfassen, was natürlich auch heißt: vielleicht hatten wir dieses Jahr einfach nur Glück. Im Panorama zum Beispiel haben wir in diesem Jahr von vorn herein fast schon die Waffen gestreckt - zu gut versteckt sind da die wenigen Filme von echtem Interesse. Als einsamer Höhepunkt der Sektion wird mir Peter Kerns "Glaube, Liebe, Tod" im Gedächtnis bleiben, ein nur gut einstündiges Manifest des politischen wie filmischen Eigensinns. Ansonsten sorgen die (sub-)kulturellen Anbindungen des Sektionsleiters Wieland Speck dafür, dass man im Panorama immer mal wieder über Filme stolpern kann, die ganz aus dem Register "Festivalkino" zu fallen scheinen: dieses Jahr zum Beispiel Cheryl Dunyes lesbischen Hardcoreporno "Mommy Is Coming".

Im Forum begeisterte, noch mehr als in den letzten Jahren, das Repertoireprogramm. Der thailändische Märchenfilm "12 Sisters", Shirley Clarkes "Ornette: Made in America" und Yuzo Kawashimas "Between Yesterday and Tomorrow" dürfen - neben zahlreichen Filme der "großen" Retrospektive zur roten Traumfabrik - zu unbedingten Höhepunkten des diesjährigen Festivals gezählt werden. Daneben konnten vor allem Filme alter (Heinz Emigholz) und nicht ganz so alter Bekannter überzeugen: Yang Yonghis ergreifender "Kazoku no kuni" und Philip Scheffners "Revision" wären zuerst zu nennen, dann aber auch noch Vincent Dieutres "Jaures" oder Denis Cotes "Bestiaire". Das bleibt, man merkt es, eine idiosynkratische Auswahl. Die Schwerpunktsetzungen innerhalb des Programms erschienen auch dieses Jahr nur bedingt sinnvoll, von den drei japanischen Dokumentarfilmen zur letztjährigen Fukushima-Katastrophe zum Beispiel konnte nur einer, Atsushi Funahashis "Nuclear Nation", überzeugen.

Aber ich bin nicht in Mäkelstimmung. Auch im Forum habe ich dieses Jahr mehr Entdeckungen gemacht als in den letzten Jahren. Vielleicht nur, weil ich mich der auch dort bisweilen vorherrschenden Logik des Gemischtwarenladens endgültig ergeben habe. Nach zehn schönen Tagen am Potsdamer Platz mag mir da noch die kritische Distanz fehlen, wenn ich auf solche Einwände nur entgegnen kann: "Und wenn schon."

Lukas Foerster