Außer Atem: Das Berlinale Blog

Führt in die Dunkelheit: Semih Kaplanoglus 'Bal'

Von Lukas Foerster
16.02.2010.
Ein Mann läuft durch den Wald und nähert sich der Kamera. An der Hand führt er einen Lastesel. Im Bildvordergrund angekommen, beginnt er, auf einen Baum zu klettern. Dort oben, auf dem Baum, möchte er, das wird man allerdings erst in der Mitte des Films erfahren, Bienenstöcke aufhängen. Als er schon einige Meter über dem Boden schwebt, beginnt der Ast, an dem er sein Kletterseil befestigt hat, verdächtig zu knacken. Bald hängt er frei in der Luft. Während er verzweifelt um sich blickt, kommt die erste von mehreren Bienen in den Film gesummt.



Der Mann ist Bauer und Imker in einem kleinen türkischen Bergdorf, vermutlich im Norden des Landes, in der Nähe der Schwarzmeerküste. Seine Familie lebt etwas abseits einer kleinen Ortschaft: er selbst, seine Frau und Yusuf, ihr gemeinsamer Sohn. Der steht im Zentrum des Films. Er geht in die Grundschule, lernt dort - mühsam - lesen und blickt in den Pausen durch die Fensterscheibe auf seine spielenden Klassenkameraden. Mit dem etwas eigenbrödlerischen und verschrobenen Vater unterhält sich Yusuf mit Vorliebe flüsternd, über Tiere und Pflanzen meist, nur selten über Menschen. Die Mutter scheint ihrerseits nicht allzuviel mit dem ebenfalls etwas eigenbrödlerischen und verschrobenen Yusuf anfangen zu können. Einmal sucht sie Hilfe beim örtlichen Imam. Aber zum religiösen Zeremoniell verhält sich Yusuf ähnlich indifferent wie zu fast allem anderen in seiner Umgebung. Ansonsten interagiert er fast mehr mit Tieren als mit Menschen: mit den Hühnern und Pferden im Stall zum Beispiel. Einmal, als er Wasser vom Bach holen will, blickt er auf und sieht am anderen Ufer ein Reh. Das steht da einfach so, inmitten der üppigen Natur, die vom Film in wunderschönen Bildern eingefangen wird. Der Naturkitsch müsste in so einem Film eigentlich hinter jeder Ecke lauern, Regisseur Semih Kaplanoglu aber meidet ihn, ohne dass ihm das große Schwierigkeiten zu bereiten scheint.

Die Einstellungen sind beileibe nicht immer rein funktional, in Yusufs Klassenzimmer etwa positioniert der Regisseur die Kamera gleich mehrmals hinter einem Glasbehälter, in dem die Fleißanstecker der Schüler aufbewahrt werden. Aber sie haben trotzdem etwas einfaches, unaufgeregtes, wie auch der gesamte Film von Unaufgeregtheit geprägt ist. Einmal sitzt die Familie am Esstisch und während sie ihre stockende Unterhaltung führt, wird das Brodeln des Teekessels im Hintergrund immer lauter. Mehr Suspense als dieses Brodeln wird es nicht geben in "Bal". Statt dessen viel Alltagsroutine, viele Wiederholungen, Variationen und wenn am Ende doch etwas passiert, dann auf sehr undramatische Art. Wobei selbst das Undramatische nicht als Erzählverweigerung ausgestellt wird. Genau, wie auch die Geduld des Films mit seiner Welt und seinen Figuren nicht einfach nur in dem aufdringlich entschleunigten World cinema resultiert, das man auf Filmfestivals so oft serviert bekommt. Weder darf man das Einfache, Unaufgeregte des Films als eine beschönigende Formel für "simpel und langweilig" lesen, noch in ihm nur eine Mimesis an das "einfache, unaufgeregte Landleben" sehen. Denn Kaplanoglu sucht kein Ursprüngliches, er filmt die Natur mit derselben stilsicheren Nonchalance wie deren zivilisatorischen Überformungen.



"Bal", auf Deutsch "Honig", ist der Abschluss einer Trilogie: Ei, Milch und Honig (Yumurta, Süt, Bal). In allen drei Filmen heißt die Hauptfigur Yusuf, sie wird von Film zu Film jünger. Ob es sich im strengen Sinne um dieselbe Figur handelt, bleibt unklar. Obwohl sich im Nachhinein die Indizien dafür mehren. Die Abwesenheit des Vaters im Vorgänger wird in "Bal" nachträglich erläutert. Auf filmischer Ebene gibt es deutliche Unterschiede zwischen den drei Filmen. Insbesondere "Bal", der jetzt vorliegende Schlussfilm, fällt aus dem Rahmen. Kaplanoglu verzichtet diesmal fast vollständig auf die Irritationsmomente und teilweise fast surrealistisch anmutenden Verrätselungen der Vorgängerfilme. Am Ende der Trilogie, die gleichzeitig ihr Ursprung ist, steht der in mancher Hinsicht kleinste, leiseste Film. Ein Film, der seine Geheimnisse nicht offen ausstellt, sondern der eher als Ganzes ein kleines Geheimnis ist.

Kindheitsfilme gibt es wie Sand am Meer, Dorffilme auch. "Bal" ist beides, aber hinreichend katalogisiert ist der Film deshalb noch lange nicht. Denn es zieht seine Bilder und seine Erzählung in keines der naheliegenden Register. Arthaus-Dorfkitsch ist das schon gleich gar nicht, aber eben auch kein Morality Tale, keine Coming-of-age-Geschichte und auch kein reiner Erinnerungsfilm, keine wütende Abrechnung und auch keine nostalgische Sehnsucht. Vielleicht ist auch "Bal", wie mindestens auch "Süt" und eventuell schon der erste Teil der Trilogie "Yumurta", ein Film über die Dunkelheit. Oft schwappt diese Dunkelheit über die Leinwand (und man sollte den Film, nebenbei bemerkt, auf jeden Fall in einem besser abgedunkelten Kino sehen als dem Berlinale-Palast) und verschluckt Yusuf, die Tiere und Menschen um ihn, die ganze Welt. Einmal bindet Yusuf sich die Schleife einer Mitschülerin vor die Augen. Die Dunkelheit ist Yusufs selbstgewähltes Verhältnis zur Welt. In dieser Dunkelheit endet der Film und wenn man das Organisationsprinzip von Kaplanoglus Trilogie ernst nimmt, findet diese hier gleichzeitig ihren Ursprung. Mir hat "Bal", dieser faszinierende, kleine Film Lust gemacht, noch tiefer einzudringen in die Dunkelheit des genuinen Autorenfilmers Kaplanoglu.

Semih Kaplanoglu: "Bal - Honey". Mit Bora Altas, Erdal Besikcioglu, Tülin Özen, Alev Ucarer, Ayse Altay. Türkei, Deutschland 2010, 104 Minuten. (Wettbewerb, Vorführtermine)