Im Kino

Frauenbeine = Uhrzeiger

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
21.04.2010. Film als Free Jazz: Das ist "Vorsicht Sehnsucht", der jüngste Streich der französischen Regielegende Alain Resnais. Eine Geschichte aus dem kurdischen Teil der Türkei erzählt Miraz Bezar in "Min Dit" und führt dabei vor, wie man ein Politdrama auch machen kann.


Es beginnt mit einer Kamerafahrt auf eine geheimnisvolle Türe und einigen wilden Grasbüscheln, die sich durch den Beton einer Straße gekämpft haben. "Wilde Kräuter" heißt der Originaltitel des Films "Les herbes folles" wörtlich übersetzt. Warum der deutsche Verleih daraus das nichtssagende "Vorsicht Sehnsucht" gemacht hat, wird wohl sein Geheimnis bleiben. Aber einen Film wie diesen können solche Eingriffe nicht bändigen.

Sabine Azemas wildes, rotes, voluminöses Haar wuchert wie wilde Kräuter und dominiert die ersten Minuten. Resnais filmt Azema zunächst nur von hinten. Azema ist Marguerite Muir, eine Pilotin, die natürlich auch irgendwann einmal fliegen muss in diesem Film, aber zunächst kauft sie Schuhe. Anschließend wird die Pilotin, die Kamera klebt weiter an ihrem Hinterkopf, von einem Rollschuhfahrer überfallen, ihre Handtasche wird gestohlen. Das Bild der in Zeitlupe durch die Luft schwebenden Tasche geistert im weiteren immer mal wieder durch den Film. Doch schon eilt der Film weiter. Wo Azema ist, da kann Andre Dussollier nicht weit sein, das weiß jeder, der sich in Resnais ganz privatem Starsystem auch nur ein wenig auskennt. Und tatsächlich hat auch der ewig verwirrte alte Herr Einkäufe zu erledigen. Georges Palet heißt er diesmal und er kauft sich eine neue Uhr. Resnais Kamera fokussiert die übereinander geschlagenen Beine der Verkäuferin. Auf das voyeuristische Fetischbild folgt eine Montage der Uhren im Schaufenster. Frauenbeine = Uhrzeiger, ja, das passt, man muss aber schon diesen wahnwitzigen Film gesehen haben, um zu wissen, warum und wie das passen kann. Georges Palet kümmert sich jedenfalls erst einmal nicht mehr um die Verkäuferin, dafür kommen ihm wenig später in der Tiefgarage aus heiterem Himmel Mordgedanken. Zum Glück findet er gleichzeitig Muirs rot leuchtendes Portemonnaie. Wegen dieses roten Leuchtens wird der Film, in dem immer erst einmal alles möglich ist, nicht zu einem Psychothriller, sondern zu einer romantischen Komödie - oder zumindest zu etwas ähnlichem.



Schon in den ersten zehn Minuten wagt "Vorsicht Sehnsucht" mehr als der gesamte Wettbewerbsjahrgang der Berlinale 2010. Einen Film außer Rand und Band, einen ganz grundsätzlich aus den Fugen geratenen Film hat der bald 90-jährige Alain Resnais gedreht. Nichts und niemandem darf man trauen, nicht einmal dem Schriftzug "Fin". Das gesamte Arsenal der Filmsprache ist wie entfesselt, nicht nur die Kamera. Die aber auch, und wie! Einmal hebt sie vom Boden ab und gleitet fließend über Palets Haus hinweg, fast wie bei Dario Argento. Nur, dass am Ende der Kamerafahrt keine Frauenleiche liegt, sondern nur wieder ein Schnitt auf Muirs schwebende Handtasche. Dazu Splitscreens, Kreisblenden, die sprunghafte, allgegenwärtige Filmmusik, ein einziges, wunderbares Tohuwabohu bis hinein in den Abspann, ein Tohuwabohu, in dem niemand außer Resnais selber den Überblick behält.

Ein Schlüssel zu diesem Film (aber wirklich nur einer, "Vorsicht Sehnsucht" bleibt in viele Richtungen offen) sind die Farben. Dem roten Leuchten des Portemonnaies antwortet bald das grüne der Schreibtischlampe Palets. Und viele andere leuchtende Farben stimmen ein, fast jede einzelne Einstellung ist durch einen farblichen Überschuss markiert. In Muirs Wohnung leuchten im Bildhintergrund Neonröhren; hier existieren die Farben in ihrer Reinform, im restlichen Film bilden sie immer wieder neue Muster, Muster, die nie einfach nur die Farbigkeit der Welt zu verdoppeln sucht. Eine sehr spielerische Form von Antirealismus ist das, eine, die mehr mit einem Hollywood-Experimentalfilmer wie Frank Tashlin zu tun hat als mit klassischen Modernismen. Die Technicolor-Choreografien aus Tashlins "Artists and Models" funktionierten ganz ähnlich: Zuerst interessiert der Eigenwert der Farbskala, erst dann wird sie auf die Welt losgelassen.



"Vorsicht Sehnsucht" ist eine Adaption des Romans "L'incident" des französischen Bestsellerautors Christian Gailly. Kenner der Vorlage bestätigen, dass Resnais zumindest deren Geist sehr gut getroffen hat. Schon seit Jahren verfilmt Resnais. der einst mit den Säulenheiligen der Hochmoderne, Alain Robbe-Grillet und Marguerite Duras, zusammenarbeitete, mit Vorliebe Werke der smarten Populärkultur, Farcen und Boulevardkomödien mit einem Hang zum Dekonstruktiven. Zuletzt etwa wurde aus Alan Ayckbourns "Private Fears in Public Places" der großartige "Herzen", ein Kammerspiel in streng symmetrischen Dekors und mit Schneefall in Innenräumen. Resnais nimmt das strukturalistische Moment der Seifenoper, den emotionalen Exzess des tear jerkers, die antirealistischen Abstraktionen des Musicals beim Wort und transformiert sie in Filme, die im gegenwärtigen Weltkino ihresgleichen suchen. Filme, die einen in der Vorlage oft eher unbewusst angelegten modernistischen Impuls aufgreifen, die aber gleichzeitig diesen Impuls nicht in klinischer Abstraktion verdichten, sondern in durchaus sinnliches und theoretisch auch populäres Attraktionskino überführen - tatsächlich erreicht Resnais zumindest in Frankreich auch heute noch das breite Publikum, das anderen Autorenfilmern längst abhanden gekommen ist.




Die sprunghafte Sprache der Romanvorlage findet ihre naheliegendste Entsprechung im sonderbarsten Voice Over der jüngeren Filmgeschichte. Genauer gesagt sind es mehrere, konkurrierende Voice Over, sie fallen sich gegenseitig ins Wort, sie stocken mitten im Satz und setzen neu an, ihr Grundgestus ist das Abschweifende, das freischwebende Assoziieren, sie sind ins Unreine nicht nur gesprochen, sondern auch gedacht. Jeder hat ein Telefon. Nein, die Armen nicht. Es gibt viele Arme. Aber sie ist nicht arm, Fliegen kostet viel. Aber sie muss im Telefonbuch stehen. Wie wäre es, wenn ich sie anrufe? Den imaginierten Anruf zeigt der Film dann als Bild im Bild und schon in dieser Imagination läuft die Kontaktaufnahme zwischen Palet und Muir gründlich schief. Das eigentliche Genie Resnais' artikuliert sich darin, dass es ihm gelingt, diesen im Sprachlichen noch recht naheliegenden Modus eines gezielten und kontrollierten Verlusts von Kohärenz und von Sinnzusammenhang ins Bildliche zu übersetzen. Wie er auch Kamerafahrten, Montagesequenzen und Farbdramaturgien abschweifen, sich ins Wort fallen, mitten im Satz stocken und wieder neu ansetzen lässt. Wie er dabei auf jedes Netz, jeden doppelten Boden verzichtet und doch nie im strukturlosen Chaos landet. Im Vergleich mit diesem neuen Film war "Herzen" eine spielerische Übung in der klassischen Sonatenhauptsatzform. "Vorsicht Sehnsucht" ist Free Jazz.

Zurück zu Palet und Muir. Schließlich wird er sie doch kennenlernen. Er wird sie stalken, sie wird die Polizei auf ihn hetzen, er wird seine Familie verrückt machen und am Ende trotzdem mit ihr im Flugzeug landen. Dieses Ende, zu dem der Film schließlich findet, ist weder im engeren, noch im weiteren Sinne folgerichtig und es involviert unter anderem einen eingeklemmten Reißverschluss an Palets Hose. Zum Flugzeug findet "Vorsicht Sehnsucht" vielleicht vor allem deshalb, weil das frei und unbeschwert Schwebende, das Gasförmige, der eigentliche Aggregatzustand dieses Films ist.

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Miraz Bezars Debutlangfilm "Min Dit" spielt in Diyarbakir, einer Großstadt im Südosten des Landes, die als inoffizielle Hauptstadt des türkischen Kurdistans gilt. Ein Großteil der Einwohner spricht hauptsächlich Kurdisch und so tauchen auch in Bezars Film lediglich ab und an ein paar Brocken Türkisch auf. Das passiert dann aber an interessanten Stellen. An einer Stelle fragt ein Mann einen anderen auf der Straße nach Feuer. Dieses wird ihm erst gewährt, als er die Frage auf Türkisch wiederholt. Und es gibt eine Prostituierte, die eigentlich den kurdischen Namen Dilan trägt, sich für ihre Arbeit jedoch türkisch Dilara nennt.

Zwei Kinder stehen im Zentrum des Films: Gulistan und ihr kleiner Bruder Firat. Zunächst gibt es noch eine weitere Schwester im Säuglingsalter. Da die Mutter abends erschöpft ist, hat sie eine Märchengeschichte auf Kassette aufgenommen. Ihre elektronisch reproduzierte Stimme wiegt ihre Kinder in den Schlaf. Dieses Detail nimmt nach einer Viertelstunde Laufzeit eine grundlegend neue Bedeutung an: Beide Eltern werden gewaltsam aus dem Film entfernt, in einer schockierend undramatisch gefilmten Szene, auf die vorher nicht viel hingedeutet hat, obwohl politische Spannungen von Anfang an kommuniziert werden.



Jetzt sitzen die Kinder alleine in der großen Wohnung und hören die Stimme ihrer Mutter auf der Kassette, die alles ist, was ihnen von ihr geblieben ist. Eine herzzerreißende Szene und der Film schlägt keinerlei ungebührliches dramaturgisches Kapital aus ihr. Spätestens zu diesem Zeitpunkt weiß man, dass Bezar die entscheidenden Dinge richtig macht in seinem Film. Die neue Ausgangssituation erinnert an Horokazu Kore-edas "Nobody Knows": Drei Kinder, die eine neue Familiengemeinschaft bilden müssen und dabei in Rollen schlüpfen, für die sie viel zu jung sind. Aber "Min Dit" entwickelt sich schnell in eine andere Richtung. Denn die Geschwister sind noch lange nicht ganz unten angekommen. Die Tante, eine militante Separatistin, die sich eigentlich um die Waisen kümmern wollte, flieht ins schwedische Exil, andere Verwandte suchen ihr Glück in Istanbul oder schlagen Gulistan, wenn sie Hilfe sucht, die Tür humorlos vor der Nase zu. Keiner verschwendet mehr als ein, zwei Gedanken auf ihr Schicksal.

Fast mechanisch erzählt Bezar diesen Abschnitt seiner Geschichte und auch diese Mechanik ist zwangsläufig, schließlich sind die Geschwister kein Einzelfall, sondern stehen ein für Tausende Kinder, die im Bürgerkrieg in den kurdisch geprägten Gebieten der Türkei zu Waisen wurden und der Verelendung anheim fielen. Das geht schnell, manchmal fast von Einstellung zu Einstellung: Verkauf der Möbel, kein fließendes Wasser mehr, kein Strom, schließlich keine Wohnung und erst recht kein Geld für Medikamente. Der Tod der kleinen Schwester findet dann tatsächlich nur noch zwischen zwei Einstellungen statt. Nach dem Schnitt sitzen Gulistan und Firat an ihrem Grab. Jetzt leben sie auf der Straße und machen die Bekanntschaft mit anderen Straßenkindern. Die ersten Versuche, Taschentücher und Feuerzeuge an Passanten zu verkaufen, scheitern kläglich, aber schnell lernen sie die Tricks des Geschäfts.



Der Film macht aus all dem kein konventionelles Sozial- und erst recht kein Melodrama, auch wenn er sich nicht davor scheut, einige Elemente des ersteren einzusetzen. Die großartige Hauptdarstellerin Senay Orak etwa wird Bezar nicht zuletzt aufgrund ihrer stets weit aufgerissenen Rehaugen gecastet haben. Aber wenn sie bei einer Autofahrt die Hand aus dem Fenster streckt, um den Fahrtwind zu spüren, oder auch wenn Firat so begeistert von seinem neuen Mikrofon ist, dass er die Waren seines Straßenverkaufsstands lieber lang und breit anpreist, anstatt sie zu verkaufen, dann taucht der Film ein ins Leben der Kinder über deren Weltbezug und er ist denkbar weit entfernt von Sozialkitsch jeglicher Coleur.

Und überhaupt macht der Film dann noch ganz andere Sachen. Der Mörder der Eltern, Mitglied einer ultranationalistischen paramilitärischen Vereinigung, taucht wieder auf und für beide Kinder stellt sich die Frage, auf welche Weise sie ihre Lebenserfahrung in politisches Handeln übersetzen können. Und obwohl sich der Film keine Illusionen macht über das zukünftige Schicksal von Gulistan und Firat, konstruiert er am Ende das Bild einer radikalen sozialrevolutionären Utopie: Straßenkinder mit Maschinengewehren. Welcher Film der letzten Jahre hätte sich so etwas getraut?



Und erst recht: welcher deutsche Film? Bezar ist Absolvent der Berliner Filmhochschule dffb. Im Presseheft zum Film berichtet er, dass er nach seinem Studium einige Jahre lang vergeblich versuchte, einen Spielfilm in Deutschland zu produzieren und erst aus Frustration darüber, dass seine Vorstellung von Kino hier nicht realisierbar war, in die Türkei ging. Bezar hat den Dreh größtenteils aus eigener Tasche finanziert, für die post production bekam er Unterstützung von Fatih Akin und dessen Produktionsfirma corazon international. Die deutschen Filmförderinstitutionen hätten ihm, so steht zu vermuten, das Drehbuch zu "Min Dit" um die Ohren gehauen. Aus den denkbar falschesten Gründen, versteht sich: weil es sich weigert, die dem Leben entlehnten Situationen dem billigen Effekt unterzuordnen und weil es da, wo es diesen Situationen etwas Konstruiertes hinzufügt, das nicht in melodramatisierender, sondern in politisch-agitatorischer Absicht tut.

Vorsicht Sehnsucht. Frankreich 2009 - Originaltitel: Les herbes folles - Regie: Alain Resnais - Darsteller: Andre Dussollier, Sabine Azema, Anne Consigny, Emmanuelle Devos, Mathieu Amalric, Michel Vuillermoz, Edouard Baer, Annie Cordy

Min Dit - Die Kinder von Diyarbakir. Deutschland / Türkei 2009 - Originaltitel: Min Dit - Regie: Miraz Bezar - Darsteller: Senay Orak, Muhammed Al, Hakan Karsak, Berivan Ayaz, Suzan Ilir, Fahriye Celik, Alisan Önlü, Berivan Eminoglu, Mehmet Inci