Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Victor Catala: Solitud. Teil 1

30.07.2007.
4
Hausputz


Für die folgenden zehn oder zwölf Tage fiel Mila ins Hausfrauendelirium: Sie putzte. Durch sämt liche Türen und Fenster ließ sie den Wind ins Haus und werkelte mit hochgeschürzten Röcken und zerzaustem Haar rastlos von Sonnenaufgang bis in die tiefe Nacht.

Alles hatte sie vorgefunden wie einen Schweinestall; die Wände waren seit vielen Jahren nicht geweißt und über und über von Fingerspuren, Namen und ungelenken Zeichnungen bedeckt, den schamlosen Hinterlassenschaften der Wallfahrer; unter den Zimmerdecken führten die Spinnen unangefochten das Regiment, hingen freischwebend von den Balken und webten in jeder Ecke ihre feinen Gespinste; den Boden überzog eine schmierige Schicht, die die Grundfarbe nicht einmal erraten ließ, und das gesamte Holzwerk hätte von einem Schreiner überholt werden müssen ?

Im ganzen Haus wirkte dieses Groß reine machen Wunder, und so schob sie die größte Herausforderung jedes Stockwerks vorerst noch vor sich her: oben die Küche und unten die Kapelle.

Vor der Küche graute es Mila am meisten, weil es dort besonders viel zu schrubben gab.

Wer sollte diesen rußigen Putz an Decke und Wänden wieder weiß bekommen? Wessen Arme hätten die Kraft, den verhärteten Dreck aus dem Spülstein zu kratzen? Wer könnte den zahllosen Kupfer- und Messinggefäßen, die ungeordnet an Nägeln hingen und unter der Staubschicht von Grünspan und Fliegenkot überkrustet waren, ihren Glanz zurückgeben ??

Als der Schäfer sie so verzagt sah, redete er ihr gut zu: "Wißt Ihr, diese Einsiedelei ist wie der Himmel, aber selbst der Himmel wäre kein Himmel, wenn dort niemand für Sauberkeit sorgte. So was Nachlässiges wie unsere letzte Einsiedlerin gibt?s kein zweites Mal. In den zehn Jahren, die sie hier zugebracht hat, ist das Haus nie gründlich gefegt worden ? Wann immer sie Ferkel aufzog, hatten die Heiligen ständig Gesellschaft, und die Hühner haben einem vom Teller gepickt, während man am Tisch saß. Wenn ich mir hier den Sommer über nichts geholt habe, dann nur, weil ich aus härterem Holz geschnitzt bin als andere Leute ? Ich hab sogar dem Herrn Pfarrer gebeichtet, was für rabiate Maßnahmen mir manchmal durch den Kopf gegangen sind, und daraufhin hat der Herr Pfarrer den beiden zwar die Leviten gelesen, aber das war?s auch schon: Wer so ist, ändert sich nicht ohne weiteres. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie rauszuschmeißen ? Ein Haushalt führt sich nicht von allein, und diese letzte Einsiedlerin hatte einfach nicht das Zeug dazu. Aber Ihr? Ihr solltet nicht gleich den Mut sinken lassen. Kurz den Staubwedel drübergezogen, und alles spiegelt wieder ?"

Mila machte die Augen zu und warf sich in die Arbeit, wie ein Schwimmer kopfüber ins Meer springt. Matias hätte seiner Frau gern vorher noch Murons und dreißig andere Orte gezeigt, nur um den angekündigten Großputz hinauszuschieben, doch Mila weigerte sich entschlossen.

"Solange das Haus ein Dreckloch ist, brauchst du mir nicht mit Ausflügen zu kommen. Den Herrn Pfarrer kannst du auch allein besuchen ? und dabei gleich einkaufen gehen!"

Und Matias mußte klein beigeben, seine Frau gewähren lassen und sich seinerseits in die Rolle des Laufburschen fügen, bis alles hergerichtet war. Doch letztlich ließ er sich lieber wegschicken, als eimerweise Wasser vom Brunnen zu holen und einer ganzen Liste von Aufträgen ausgesetzt zu sein, wann immer er ihr unter die Augen kam. Mila beschloß, systematisch vorzugehen, sich vom Leichteren zum Schwereren und von oben nach unten vorzuarbeiten, und machte sich nicht an die Kapelle, bevor alles andere so blitzblank war, daß der Schäfer fand, es sähe aus wie von Engeln saubergeleckt.

Kaum daß Besen und Mopp Einzug in der Kapelle hielten, war es, als käme der ganze Berg herunter. Die Heiligen schwankten auf ihren Altären, die Ratten flüchteten erschrocken aus ihren Winkeln, die wurmstichigen Bilderrahmen bröckelten, wächserne Beinchen und Ärmchen zerbrachen ? Und inmitten dieses Durcheinanders, eingehüllt von dicken Staubwolken, sah man Mila herumwirbeln, überall wischen, keine Ecke oder Ritze aussparen. Die Putzwut hatte sie mit solcher Leidenschaft gepackt, daß sie mit beinahe lustvoller Begeisterung ihrem revolutionären Tun frönte.

Eines Nachmittags, als sie auf ein Sims über dem Altar geklettert war und einem Engel, der als Kerzenhalter diente, das Wachs zwischen den Fingern wegschabte, fiel ein Schatten auf sie. Sie wandte sich um und sah einen Mann in der Tür zur Kapelle stehen.

Ein wenig verlegen sprang sie rasch herunter und paßte dabei auf, daß er ihre Beine nicht sah. Sie war erhitzt und außer Atem, ihre Augen blitzten unter den weißbestäubten Wimpern hervor, und das rote Kopftuch, das sie sich ums Haar geschlungen hatte, verlieh ihr etwas Lausbübisches.

Der Mann starrte sie entgeistert an.

Er war ein grobschlächtiger Bauer mittleren Alters in einer abgetragenen blauen Samtjoppe und zerrissenen gelben Kordhosen, gegürtet mit einem Hanfstrick. Brust und Füße waren nackt, und unter der Barretina1), halb verborgen von einer vorgewölbten olivfarbenen Stirn und dichten Brauen, bewegten sich zwei winzige Augen unbestimmter Farbe in tiefen Höhlen unruhig hin und her wie Insekten im Gras.

"Guten Tag", sagte Mila.

Der Mann stierte sie unter seinen Brauen hervor reglos an und gab keine Antwort.

Mila spürte, wie sie errötete, und lächelte unsicher. Da schien der Mann sich zu fassen und fing nun seinerseits zu lachen an. "Hö, hö, hö ? Guten Tag."

Seine Stimme klang heiser und sein Lachen unnatürlich. Dabei kniff er die Augen zusammen und rollte die Oberlippe ein, und Mila fi el auf, daß seine Zähne weiß glänzten wie aus Email und sein Zahnfl eisch dunkelrot, fast schokoladenfarben war.

Der Mann schob die Hand unter den Hosenbund und kratzte sich am Bauch, anscheinend unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Und plötzlich stammelte er hastig, er käme vom Peu de Gall 2) herunter,
fast vom Cimalt, und habe großen Durst, und er sei hereingekommen, weil er um einen Schluck Wasser bitten wollte.

"Aber ja", sagte die Frau bereitwillig. "Kommt mit nach oben, kommt!" Und sie stiegen über die kleine Treppe zur oberen Kammer und durchquerten das ganze Haus bis zur Küche.

Mila schob dem Mann einen Stuhl und den Porro 3) hin, doch er mochte sich nicht setzen: Er wollte nur trinken, und das tat er in großen Schlucken ? Aus seiner Kehle drang ein rhythmisches Gluckern, als würde eine Flasche ausgegossen, und sein riesiger kantiger Adamsapfel hob und senkte sich. Nachdem er seinen Durst gelöscht hatte, schnaufte er befriedigt, und da er naßgeschwitzt war, nahm er die Mütze ab, um sich über den Kopf zu wischen.

Da erblickte Mila die seltsamste Stirn, die sie jemals gesehen hatte, etwas, das kaum menschlich wirkte: einen länglichen, birnenförmigen Schädel, schmal um Stirn- und Scheitelbein, wie gewaltsam eingeschnürt, doch mit einem weit hervorstehenden Brauenwulst, der sich wie ein Sims von einer Schläfe zur anderen zog - die knochige Kante, die unter der Barretina sichtbar blieb.

Der Mann berichtete, er streife schon seit dem Morgengrauen durch die Berge auf der Suche nach neuen Löchern, in die er morgen sein Frettchen schicken könnte; vergangene Woche habe er sechs Kaninchen an einem Tag erwischt, und er rechne damit, daß es bald noch etliche mehr sein würden; er verkaufe sie alle in Murons, an Gastwirtschaften und Herrenhäuser; und beim Verfolgen einer Spur sei sein Frettchen hartnäckiger als ein Mosso d?esquadra 4) ?

Er hatte Mühe, sich auszudrücken, sein unsteter Blick mied den ihren, und seine rauhe Stimme wurde immer heiserer, bis sie ihm gänzlich versagte.

Als der Mann über den Hof davongegangen war, kehrte Mila durch den Stall und die Sakristei in die Kapelle zurück.

Die Sonne schien durch die weit offene Tür, fiel schräg auf den Fliesenboden bis zu den Altarstufen und schickte funkelnde Glanzlichter über die Wände.

Mila stieg wieder auf den Altar, und während sie dem hölzernen Engel Händchen und Bein putzte, peinigte sie ein Gedanke: 'Wo habe ich bloß diesen Mann schon einmal gesehen? Ich bin ganz sicher, daß ich ihn irgendwo schon gesehen habe. An dieses komische Zahnfleisch und diese weißen Zähne kann ich mich gut erinnern ?' Doch da sie ihrem trägen Gedächtnis nicht auf die Sprünge helfen konnte, hörte sie nach einer Weile auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, und widmete sich mit neuem Eifer dem Heiligen und seinen Weihgaben.

---------------------

1) traditionelle ländliche Kopfbedeckung der Männer
2) Hahnenfuß
3) Trinkgefäß aus Glas oder Ton
4) katalanischer Polizeibeamter


Teil 2

Informationen zum Buch und zum Autor hier