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Harald Fricke ist tot

Von Mariam Lau
09.06.2007. Der Autor und taz-Kunstredakteur Harald Fricke ist tot. Ein Nachruf.
Eine ganz kurze Zeit, ein paar Sommer lang Mitte der neunziger Jahre, war die taz-Kulturredaktion eine verschworene Gemeinschaft von Solisten. Was man nachts in der Oranienstraße gehört, in den Kunstwerken gesehen oder bei Richard Shusterman gelesen hatte, wurde morgens mit fliegenden Fingern dem Leser zugemorst. "Das alles gibt es also", war ein sprechender Buchtitel jener elektrischen Tage. Kleider von Vivienne Westwood, Filme von Whit Stillman, Musik von Wilco - es gab für alles Aficionados, die keine Gefangenen machten. Aber niemand von uns hat all das mit derartig brennender Hingabe und enzyklopädischem Überblick betrieben wie Harald Fricke, offiziell Kunstredakteur, eigentlich Pop-Literat. Das Genre hat in ihm seinen würdigsten Vertreter verloren: er war zwar ironisch, aber nie ohne Liebe, und das ständige Kreisen der Stuckrad-Barres um die eigene verkokste Nasenspitze war ihm fremd. Er hat eben auch selbst "aufgelegt" in der Clubszene nach dem Mauerfall, und kannte überhaupt beide Seiten der Kunstproduktion - womit er ein absoluter Einzelfall war.

Nehmen wir diesen Abend nach einer Diskussion in der Nähe des Holocaust-Mahnmals, das damals noch eine schaurig-interessante, aber schlecht gesicherte Baustelle war. Die angebotene Mitfahrgelegenheit schlug er höflich aus. Harald wollte den Ort im Dunkeln in Augenschein nehmen. Er stürzte in ein Loch, brach sich beide Arme und stand dann an der Straße, wo er versuchte, nur mit seinen Blicken ein Taxi anzuhalten - was auch gelang. Man brachte ihn zu einer Ambulanz, wo die Schwester seine Versicherungskarte zu sehen verlangte. Aber weil Harald Fricke niemals einen fremden Menschen bitten würde, in seiner Hosentasche nach dem Portemonnaie zu wühlen, zog er unter entsetzlichen Schmerzen das Gewünschte selbst hervor. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, eine Krankenschwester zur Minna zu machen - und auch sonst niemanden, jemals.

Eine seiner vielen Leidenschaften - stets hanseatisch-elegant ausgelebt - war das Soul-Label Motown, wie es entstand, brillierte und wie es unterging, und wir waren uns damals einig, dass in ihm ein Schwarzer steckte, der rauswollte. Das war ihm nicht unbedingt anzusehen. Blond, später ins Graue gehend, war er stets mit raschem Schritt auf weichen Sohlen unterwegs, allerdings kaum je an der Sonne. Leute, die etwa Baden gingen, waren ihm ein Rätsel. (Er ekelte sich auch vor Füßen). Sein Vater war Schauspieler und Musiker gewesen, und irgendwie war die Familie im Norddeutschen umhergezogen, keine feste Schule, keine festen Freunde, aber eben eine wachsende Kollektion von gelesenem und gehörtem Strandgut.

Jahrelang hat Harald Fricke die Kolumne "Wand und Boden" betreut, und hunderte Berliner Galeristen werden ihm dafür sehr, sehr dankbar gewesen sein. Präzise ohne Pedanterie, lebendig und gewitzt, eng am Material, aber immer wie ein Fisch im Wasser zwischen den Diskursen der Kunst- und Literaturtheorie zu Hause, waren das jedes Mal auch eigene Songs. Zum Beispiel so: "In Japan werden Arbeiten von Bastienne Kramer als Girl Power bewundert. Das mag der niederländischen Künstlerin recht sein, schließlich sind ihre Frauenskulpturen in viele Richtungen anschlussfähig. Niki de Saint Phalle, mexikanische Altarfiguren, Action-Puppen, Salzstreuer - Kramer nutzt das weite Feld zwischen High und Low. Trotzdem staunt man nicht schlecht über die aggressive Unmittelbarkeit, wenn in der Galerie Kunstpunkt Berlin eine vier Meter große Warriorin auf dem Boden liegt. Das Modell 'S(UZI)' - tarnfarbenfleckig und mit entsprechender Waffe ausgestattet - gehört zu einem Setting aus Keramikfiguren, die an den wehrtüchtigen Feminismus der 70er-Jahre erinnern. Zugleich sucht Kramer einen Brückenschlag, der den Weiblichkeitsfolk mit dem Durcheinander der globalen Märkte verbindet: Im Vorderraum der Galerie liegen Lounge-Kissen aus, zwischen denen künstlich beleuchtete Wasserfälle fließen - wie sonst nur in Asia-Snacks. Das schafft noch mehr Beziehungen."

Er ließ sich nicht reinlegen. Wenn ein Kunstwerk einfach prätentiöser Quatsch war, wo "Konzeptkunst" draufstand oder Todeskandidaten von Pol Pot neben verunglückte Selbstporträts gestellt wurden - koketter Zynismus halt -, dann konnte man das bei Harald Fricke nachlesen - auch wenn es immer mit dem Florett gearbeitet war. Ich kann mich nicht erinnern, mit irgendeinem anderen Kollegen mehr gelacht zu haben als mit Harald. "Da träumste von!" Gleichzeitig bestand die maximale Annäherung darin, dass er mir einmal ein herrliches Tape aufgenommen hat, das ich noch immer besitze, mit Al Green und den Delfonics und so weiter.

Er hat mit unendlichem Takt und Großmut darüber hinweggesehen, dass ich mich immer mehr Richtung Mainstream entwickelte, mit Heirat, Kindern und gestreiften Gartenkissen, während er noch immer nachts ins "Kumpelnest" ging. Auch bei unserer Hochzeit hat er "aufgelegt". "Kommt doch mal zum Grillen", das mochte er nicht so. Mit der Künstlerin Bettina Allamoda hat er über zwanzig Jahre zusammengelebt. Zusammen haben sie lang und zäh gegen den Krebs gekämpft. Am Mittwoch ist Harald Fricke im Alter von 44 Jahren gestorben.

Mariam LauViele Perlentaucher waren in der taz Kollegen von Harald Fricke.