Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land, Teil 1

13.02.2003.
Teil 1
Geister

Im Neunzehnten und noch bis weit ins Zwanzigste Jahrhunderts hinein hat es in der Gegend der piastischen Residenzstadt Auschwitz im galizischen Grenzgebiet zwischen Polen und Oberschlesien viel gespukt. Es ist, als ob alle Dämonen, die in diesem abgelegenen Winkel des ehemaligen k.u.k. Reiches während einiger Jahre des letzten Jahrhunderts ihre historische Chance erhalten sollten, sich seit dem Ausgang des Mittelalters in den Bäumen, Teichen, Dörfern und Pfarrhäusern des Herzogtums und der umliegenden Herrschaften bereitgehalten hätten. Polen, Deutsche und Juden haben jahrhundertelang von überallher ihre Geschichten und Gespenster in das moorige, birkenbewachsene Hügelland am Oberlauf der Weichsel mitgebracht und das Gruseln vor Doppelgängern, umgehenden Gestorbenen und Poltergeistern war noch zwischen den Weltkriegen so lebendig und alltäglich in der österreichisch-preussisch-polnischen Provinz wie die Sagenerinnerung an die Mongoleninvasion des dreizehnten und an die Schwedengreuel im siebzehnten Jahrhundert.

Noch in den Dreißiger Jahren hat man sich zum Beispiel von unheimlichen Tieren im Lobnitzer Judengrund erzählt, die in Adventsnächten erschienen oder von gespenstischen Bergen und Wäldern in der Nähe von Bielitz, in die man in manchen Nächten durch Irrlichter gelockt wurde und nicht mehr aus ihnen herausfand. Man erzählte sich von geisterhaften Winden, Nachtjägern, Buschweibeln, Wassermännern und Mittagsgespenstern oder von gespenstischen Kerzenlichtern bei Altbielitz, und ?die sind langsam aufs Haus zugekommen, den Feldweg entlang und sind in das Zimmer zum verschlossenen Fenster hereingekommen. Sie haben das beide, die Großmutter und die Urgroßmutter mit eigenen Augen gesehen; und wie die vielen Lichter in die Stube hineingekommen sind, da ist die Lampe von selbst ausgelöscht. Dann sind die Kerzen plötzlich weggewesen und die Stube war finster. Die beiden haben Angst bekommen und wußten: das hat etwas zu bedeuten. Und richtig ist kurz darauf der Urgroßvater gestorben.?

Für meinen Vater, der 1921 in dem damals halb noch mittelalterlichen, ein paar Kilometer weiter dann schon hochindustrialisierten Landstrich zur Welt gekommen ist, gehörten einige dieser Gespenster zur Familie. ?So sahen die Dienstmägde vom Pfarrhaus in Anhalt einen verstorbenen Pastor immer am späten Abend vor dem Hause sitzen im Talar, und er las in einem großen Buche. Des Nachts um 12 Uhr scheichte es oft im Haus: es wurde von unsichtbaren Händen die Mangel im Vorraum gedreht. Wer das tat und wer der Pastor war, wußte niemand.? Den Spuk im Pfarrhaus von Anhalt, einem Dorf knapp zehn Kilometer nördlich von Auschwitz, hat mein Großvater, der von 1921 bis 1933 Pfarrer der deutschen Gemeinde in dem damals schon polnischen Ort war, für das Buch ?Die Sagen der Beskidendeutschen? von Alfred Karasek-Langer und Elfriede Strzygowski aufgezeichnet (ein senfgelber Leinenband mit unbeholfen-gruseligen Federzeichnungen, der 1931 in Plauen im Vogtland erschien). Ob mein Großvater die Mangel im Vorraum selbst gehört hat und den gespenstischen Pfarrer mit eigenen Augen vor seiner Dienstwohnung sitzen sah, habe ich ihn nie gefragt. Aber mein Vater, sein ältester Sohn, versichert ernsthaft, daß er als Kind nachts unerklärliche Schritte und ein geisterhaftes Atmen in dem großen spätbarocken Bau gehört hat, der noch zwischen den Kriegen weit und breit das höchste und stattlichste Haus in einer Gegend war, wo die Nächte der Zwanziger Jahre so still gewesen müssen wie 1770, als die friderizianische Kolonie Anhalt an der südlichen Grenze des preussischen Imperiums gegründet wurde.

Heute steht das Pfarrhaus von Anhalt an einer vielbefahrenen Zubringerstraße von der Autobahn Teschen-Kattowitz zu den Auschwitzer Gedenkstätten. Als mein Vater klein war, ist monatelang kein Auto in die Gegend gekommen. Nördlich hatte das oberschlesische Industriegebiet seine letzten Ausläufer bis hinter nahegelegene Hügel vorgetrieben. Und im Süden lag eine verschlafene galizische Landstadt, in der überwiegend Juden wohnten und die ein paar Jahre später zu einem Symbol des Zwanzigsten Jahrhunderts werden sollte. Dann würde man die Industrieanlagen von Auschwitz und Monowitz von der Anhöhe des Nachbarorts sehen können. Vor allem aber roch man sie, wenn der Wind von dorther kam.

Es habe in seiner Kindheit überall hier manchmal fast unerträglich nach verbrannten Haaren gestunken; eine Art fettig-schleimiger Ruß habe sich auf die Möbel, das Geschirr, den Fußboden gelegt und sich in den Haaren festgesetzt, wenn man bei bestimmten Wetterlagen das Fenster zu schließen vergaß. Das erzählte der Hausmeister der Evangelischen Kirche Anhalt/Holdonow, der mir an einem Frühlingstag des Jahres 1999 das Anhalter Pfarrhaus gezeigt hat und danach in meinem Auto mit in die nahe Residenz Pless und dann die paar Kilometer nach Auschwitz gefahren ist. Als Kinder seien sie auf eine nahe Anhöhe gestiegen und hätten den Rauch in der Entfernung aufsteigen sehen. Ich fragte ihn, was sie sich damals dabei gedacht hätten. ?No, daß da wern Menschen verbrannt?, sagte der alte Mann auf dem Beifahrersitz und beobachtete meine Reaktion aus den Augenwinkeln.

Meine Großmutter hat uns Kindern, als sie noch lebte, immer wieder vom Familienleben in Anhalt erzählt, vom Garten des Hauses, in dem mein Vater und seine Geschwister einmal ein tiefes Loch ausgehoben haben, das sie bis zum glühenden Kern der Erde vortreiben wollten, vom Schlittenfahren in den harten Wintern und manchmal, wenn wir sie danach fragten, auch von jenem Spuk im Pfarrhaus. Aber erst als ich selbst nach Anhalt kam, habe ich verstanden, wo der Ort eigentlich liegt. Als seien sie selbst Gespenster, sind meine Großeltern, meine Tanten, mein Onkel und mein Vater in einem schmalen Korridor durch eine Zeit und eine Gegend gegangen, die fast jedem Menschen auf der Welt etwas ganz anderes bedeutet als ihnen. Sie kamen hin, als dort noch nichts Bemerkenswertes passiert war. Als sich das Herz der Finsternis auftat, waren sie schon wieder weg. Sie haben nie darüber gesprochen, daß der Schauplatz ihrer Kindheit und der Ort des Jahrhundertverbrechens einen längeren Spaziergang und ein knappes Jahrzehnt voneinander entfernt sind. Vielleicht haben sie nicht darüber nachdenken wollen. Jeder Mensch hat ein Recht auf eine geschichtslose Kindheit. Aber als ich, der Sohn und Neffe jener Kinder in Schnürstiefeln, Spitzenkleidern und kurzen Hosen, die ich auf alten Fotos betrachten kann, hinter dem ehemaligen Pfarrhaus von Holdunow auf dem Gelände des aufgelassenen Gartens stand, wußte ich, daß der Spuk im Pfarrhaus von Anhalt in meinem Leben weitergegangen ist, auch wenn ich nie gesehen habe, wie die Mangel im Vorraum von unsichtbaren Händen gedreht wurde. ?Wer das tat und wer der Pastor war, wußte niemand.?

Teil 2
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