Vorgeblättert

Leseprobe zu J.J. Voskuil: Das Büro. Teil 1

09.07.2012.
S. 209 ff


1959

Der Bus hielt vor dem Konferenzort. Als sie ausstiegen, wurden sie von einem Mann erwartet, der ein paar Reihen vor ihnen gesessen hatte. Er gab Beerta die Hand. "Tag, Beerta." Er hatte ein rot angelaufenes Gesicht mit einem ungepflegten Schnurrbart und trug einen grünen Lodenmantel und eine reichlich verschlissene, karierte Krawatte.
     "Tag, Overzee", antwortete Beerta steif. "Darf ich dir Herrn Koning vorstellen?"
     Overzee und Maarten gaben sich die Hand. Balk wurde von einem anderen Mann begleitet, den er im Bus getroffen hatte. Beide gingen, sich angeregt unterhaltend, vor ihnen her. Es war windig, und es regnete ein wenig.
     "Das ist schon wieder eine Weile her", sagte Overzee zu Beerta. Sie folgten Balk, dem unbekannten Mann und drei älteren Frauen, die ebenfalls im Bus gesessen hatten, durch eine nasse Allee zwischen ärmlich wirkenden Birkenbäumchen zum Konferenzort. Overzee und Beerta gingen nebeneinander her, Maarten schräg hinter ihnen.
     "Ich habe viel zu tun", entschuldigte sich Beerta. Overzee versuchte, sich zu erinnern, wann sie sich das letzte Mal gesehen hatten, doch es gelang ihm nicht.
     "Womit bist du gerade beschäftigt?", unterbrach ihn Beerta.
     "Ich arbeite an einem Artikel über das Bevölkerungswachstum bis zum Jahre 2000", sagte Overzee.
     "Sehr interessant", fand Beerta, ohne eine Spur von Interesse.
     "Aber auch beunruhigend. Wenn man die Zahlen sieht, stehen einem die Haare zu Berge."
     "Die Menschen werden immer mehr", pflichtete Beerta ihm bei.
     "Wobei das intellektuelle Niveau ständig sinkt." Maarten stellte fest, dass der Kragen seines Mantels ziemlich fettig war. Der Mann machte keinen sehr reinlichen Eindruck.
     "Davon ist mir nichts bekannt", sagte Beerta sparsam.
     "Die Zunahme der Anzahl an Schwachsinnigen infolge der Entwicklung der medizinischen Forschung ist beunruhigend", sagte Overzee mit großer Entschiedenheit.
     "Es gibt viele Schwachsinnige", gab Beerta mit ironischem Unterton zu.
     Balk und seinem Gesprächspartner war es endlich gelungen, die drei älteren Damen zu überholen, und sie eilten, in ihre Unterhaltung vertieft, vor ihnen her zu dem Gebäude, das hinter einer Biegung am Ende der Allee sichtbar geworden war. Beerta, Overzee und Maarten gingen nun dicht hinter den Damen her.
     "Früher wurden sie kastriert", sagte Overzee laut und blickte zur Seite, "oder umgebracht."
     "Das ist vorbei", warnte Beerta. "Und ich würde dafür auch nicht gern die Verantwortung übernehmen."
     "Ich habe einen Freund", sagte Overzee, "der lebt in Den Bosch, und der hat erzählt, dass in seinem Block neunundzwanzig leben! Neunundzwanzig! Und gerade die pflanzen sich fort!"
     "Schwachsinnige pflanzen sich sehr langsam fort", meinte Beerta.
     "Schwachsinnige schon, aber geistig Behinderte nicht!"
     Sie waren vor dem Gebäude angekommen und traten, während sie sich unterhielten, in einen Flur, der zur Garderobe führte. Dort waren noch mehr Menschen, und es hing ein Geruch von nassen Kleidern in der Luft. Beerta und Overzee waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um auf ihre Umgebung zu achten. Maarten sah gerade noch, wie Balk durch die offene Tür den Konferenzsaal betrat.
     "Und was würdest du dann gegen die Kinderschwemme tun?", fragte Beerta.
     "Dafür gibt es gewisse Mittel."
     "Was für Mittel denn?" "Mittel eben", wiederholte Overzee geheimnisvoll.
     Sie hängten ihre Mäntel zwischen die anderen Mäntel, jeden an einen eigenen Haken.
     "Und woher weiß man, dass dann weniger Schwachsinnige geboren werden?", wollte Beerta noch wissen.
     "Wenn weniger Menschen geboren werden, werden auch weniger Schwachsinnige geboren."
     "Da bin ich mir nicht so sicher."
     "Doch", prophezeite Overzee, "aber ich muss noch mal kurz da hin", sagte er und verschwand in Richtung der Toiletten.
     "Mit dem Mann möchte ich niemals in einer Kommission sitzen", sagte Beerta, als Overzee sich entfernt hatte.
     "Hat er etwa was mit den Malthusianern zu tun?", fragte Maarten. Sie verließen die Garderobe und gingen in den Saal.
     "Das weiß ich nicht", antwortete Beerta. "Ich bin dort nicht Mitglied, und ich bin gegen Geburtenregelung."
     Der Saal war bereits gut gefüllt. In einer der mittleren Reihen stand zwischen denen, die bereits saßen, ein auffallend großer Mann in einem grauen Anzug, mit erhobenem Kinn und vorgeschobener Unterlippe, der den Eingang des Saales fixierte. Er hob den Finger, als Beerta in seine Richtung sah.
     "Da ist Buitenrust Hettema", sagte Beerta und zwängte sich, mit Maarten im Gefolge, durch die Reihe. "Tag, Buitenrust Hettema", er gab ihm die Hand, "das ist Herr Koning."
     "Ich habe schon nach euch Ausschau gehalten", sagte er und gab Maarten die Hand. "Buitenrust Hettema." Er nickte ernst, wobei seine Wangen zitterten.
     "Ich habe dein Gestaltungskonzept mit viel Beifall gelesen", sagte Beerta, sobald sie sich hingesetzt hatten.
     Maarten hörte nicht hin. Er sah sich im Saal um, der nun fast voll war, und lauschte dem Stimmengewirr. Angesichts der Tatsache, dass er niemanden kannte, fühlte er sich ziemlich verloren. Um sein Gesicht zu wahren, holte er das Programm aus seiner Innentasche und sah es durch. Das eigentliche Thema der Konferenz war Altertumskunde und Religionsgeschichte, doch bei der Einladung der Redner waren die Organisatoren nicht wählerisch gewesen, so dass sich der ursprüngliche Ansatz in den Titeln der meisten Vorträge nicht wiederfinden ließ. Eine Ausnahme bildete der Beitrag des Professors, der die Konferenz einberufen hatte. Der Titel seines Vortrags lautete schlicht: Altertumskunde und Religionsgeschichte. Pünktlich um halb elf betrat er mit einem Packen Papier das Podium, sagte noch etwas zu einem jungen Mann in einem dunklen Anzug, der ihn bis zum Treppchen begleitet hatte, und stellte sich hinter dem Rednerpult auf, worauf es rasch still wurde. Er ordnete die Papiere vor sich auf der Ablage, beugte sich zur Seite, um ein Lämpchen anzuknipsen, und blickte in den Saal. "Meine Damen und Herren." Die Konferenz hatte begonnen.
     Der Redner war ein großer, stämmiger Mann in einem schwarzen Anzug, schwarzer Krawatte und mit einem leichten nördlichen Akzent. Er entschuldigte sich für seine geringen Kenntnisse des Themas und lud den Saal ein, seine Ausführungen zu ergänzen, wo sie ergänzungsbedürftig seien. Danach holte er eine große, schwarze Brille aus seiner Innentasche, setzte sie auf und hielt sie mit einer Hand in ihrer Position, während er von seinem Papier abzulesen begann, nahm die Brille wieder ab, um in den Saal zu blicken, schwenkte beim Beenden seines Satzes die Brille von sich weg, setzte sie wieder auf die Nase und beugte sich erneut über sein Papier. Der Nachdruck, mit dem er sprach, war der eines Mannes, der keinen Widerspruch duldet, auch, wenn er wenig oder gar nichts von seinem Thema versteht. Das weckte zunehmend Maartens Widerstand, so dass er schließlich kaum noch in der Lage war, den Ausführungen zu folgen. Was er davon mitbekam, war, dass nach Meinung dieses Professors manche Steine noch die Spuren der religiösen Auffassungen unserer Urahnen trügen und es höchste Zeit sei, dass die Altertumsforscher dem mehr systematische Aufmerksamkeit widmeten. Ihm zufolge gab es dafür viele Beispiele, doch zur Illustration führte er eigentlich nur eines an: die Rillen in der Mauer der St.-Plechelmus-Kirche in Oldenzaal. Er sah darin Versuche der alten Oldenzaaler, in den Stein einzudringen, um ihm so seine Kraft zu entreißen, auch wenn er diese Interpretation gern gegen eine andere eintauschen würde.
     Man höre sich bloß diesen Unsinn an, dachte Maarten verärgert, und als am Schluss ein warmer Applaus aus dem Saal erklang, beteiligte er sich nicht daran. "Das ist doch Unsinn, was der Mann behauptet?", sagte er zu Beerta, der, im Gegensatz zu Maarten, applaudierte, den Kopf zum Redner erhoben.
     "Natürlich ist es Unsinn", antwortete Beerta in dem Krach um ihn herum und ohne das Klatschen zu unterbrechen. "Was Zandstra sagt, ist fast immer Unsinn, aber so eine Konferenz organisiert er doch mal eben."
     Die Antwort stellte Maarten nicht zufrieden. "Es gibt viel bessere Erklärungen dafür", sagte er, als der Applaus verebbt war.
     "Dann sag es!"
     Maarten schwieg. Ihm wurde klar, dass dies die Konsequenz seiner Kritik war, und das brachte ihn in Verwirrung.
     Buitenrust Hettema stand auf. "Mein Name ist Buitenrust Hettema", sagte er mit einer etwas affektierten Stimme. "Ich habe Ihren Vortrag gehört und frage mich, ob Sie den Artikel von van Deinse kennen."
     "Den kenne ich nicht", antwortete Zandstra. "Was steht da drin?"
     "Das weiß ich nicht so genau, aber er könnte für Sie interessant sein. Sie können ihn bei uns im Museum einsehen." Er setzte sich wieder hin.

zu Teil 2