Vorgeblättert

Leseprobe zu Katie Arnold-Ratliff: Was uns bleibt. Teil 1

16.01.2012.
3.

Ich sortierte meine Gedanken, öffnete die Augen. Es war Samstag. Ich konnte Gretas Metronom hören - es half gegen ihre Schlaflosigkeit -, und mein Kopf pochte zu dem vertrauten Takt. Ich wurde vollständig wach, mein abgestandener Atem durchdrang die Luft, und die Erinnerung kam zurück: der Körper, der Strand, das Weinen.
     Die Decke hatte sich um Gretas Taille gewickelt, während sie schlief. Ihre Brüste lagen seitlich an ihrem Körper über ihrem noch flachen Bauch. Der Schlaf entspannte Gretas Gesicht nicht so, wie er es bei den meisten Menschen tat, deren kleine Falten er zu engelsgleichem Frieden glättete. Stattdessen wirkte sie ältlich - kraftlos und unsicher.
     Sie war im vierten Monat. Vor Kurzem hatte ich mich dabei erwischt, wie ich auf ihren Bauch starrte. Während sie schlief, legte ich meine Hand darauf und sah, wie ihr Gesicht zuckte; ich drückte, als wäre ich ein Arzt, der ihren Blinddarm überprüfte, tastete nach etwas Hartem, Definiertem. Sie atmete scharf ein und wachte auf, mit großen Augen. Ich griff über sie hinweg, um das Metronom auszuschalten, meine Hand verweilte zärtlich auf ihrem Brustkorb.
     Guten Morgen, krächzte sie und sah mich an, bis ich mich zu einem Lächeln zwang. Der vergangene Abend kam stoßweise zurück. Fordernde Eltern, bewaffnet mit Fragen. Das Gefühl, dass es nicht so bald vorbei sein würde. Es war keine Situation, die ich vorbereitet hatte. Es war keine Situation, die ich mir hatte vorstellen können. Und nicht mal ihre einfachste Frage ließ sich, wie es schien, zufriedenstellend beantworten - Wo waren Sie?
     Das war es, was sie dringender als alles andere wissen wollten. Sie wollten, dass ich ihnen sagte, wem sie die Schuld geben konnten. Das heißt, sie hatten eine Ahnung, und sie wollten sie bestätigt bekommen. Und sie wollten hören, Machen Sie sich keine Sorgen, Ihr Kind hat kaum mitbekommen, was passiert ist.
     Die Kinder waren sicher im Klassenraum untergebracht, wo sie darauf warteten, nach Hause gehen zu können, und immer noch hatten ihre Eltern nachgefragt. Hat Bridget es gesehen? Wirkte sie danach verstört? Sie wollten wissen, was ihr Kind gesagt hatte. Sie wollten wissen, ob ihr Kind auf dem Nachhauseweg still oder abwesend gewirkt hatte. Sie wollten wissen, ob ihr Kind geweint hatte. Hat Mariana irgendwas davon gesagt, dass meine Mutter letztes Jahr gestorben ist? Gehörte Benjamin zu denen, die Sie geholt haben?
     Ich sagte ihnen, Diese Kinder sind stark und klug, und sie werden es überstehen. Sie werden Ihre Hilfe brauchen. Sie werden mit Ihnen darüber reden wollen. Zusammen können wir ein Netz bilden, das sie unterstützt. Aber ihre Fragen rissen nicht ab. Sie fragten nicht ihre Kinder; sie fragten mich. Sie stellten mir Fragen, als hielte ich sie hin. Sie stellten mir Fragen, damit ich sah, wie betroffen sie waren. Wie wütend sie waren. Sie stellten mir Fragen, weil sie tatsächlich Antworten brauchten, ja, aber niemand fragte, was sie wirklich wissen wollten: Wie sehr wird das alles meinem Kind schaden?
     Meine Versuche, sie zu beruhigen, warfen ihnen stillschweigend vor, sich melodramatisch zu verhalten, mein Tonfall ließ durchblicken, dass ich dieses ganze Gezeter für eine Überreaktion hielt. Aber ich war durchschaubar, wie ich da vor ihnen stand. Meine Kleidung war durchnässt; ich war nicht mal klar genug im Kopf gewesen, um einen Regenschirm mitzunehmen. Die Tinte auf meiner Zulassungsbescheinigung war noch nicht getrocknet. Ich war dreiundzwanzig Jahre alt - einige von denen waren im Alter meiner Eltern -, und ich wurde als Vollidiot enttarnt, als Kind. Ich erinnere mich, gesagt zu haben, Tut mir leid, aber ich muss wirklich mal zur Toilette, und ignoriert worden zu sein.
     Aber am Ende würden sie meine Antworten akzeptieren müssen. Sie hatten keine andere Wahl. Sie waren nicht dabei gewesen. Also führten wir diesen quälenden Einakter fort, bis ihnen das klar wurde und sie allmählich aufhörten, die Hände ihrer Kinder fest umfasst. Mrs. Stone blieb einen Augenblick zurück und legte drei Finger auf meinen Arm.
     Mr. Mason, sagte sie, gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich ein bisschen aus.

Nachdem alle weg waren, ging ich zurück in den Klassenraum und griff nach dem Telefon, als wollte ich es erwürgen; ich zitterte, als ich meine Nummer wählte. Greta ging beim ersten Klingeln dran - Bist du immer noch dort?, fragte sie -, und ich merkte, wie ich unerklärlich stumm wurde.
Frank? Ihre Stimme war jetzt schärfer. Hallo?
Greta, sagte ich, würgte das Wort hervor.
Ja, ich kann dich hören. Warum bist du denn noch da?
Ich - Ich weiß nicht, sagte ich töricht.
Ist was passiert? Bist du in Ordnung?
Was? Ich weiß nicht.
Frank, kannst du einfach -
Da war ein Selbstmord, am Strand, sagte ich. Die Kinder haben ein Mädchen von der Brücke springen sehen.
Sie atmete hörbar ein.
Hallo?, sagte ich.
Ich bin hier, sagte sie. Ist mit dir alles in Ordnung?
Durch das Fenster sah ich Autos vorbeifahren, das grimmige rote Leuchten der Bremslichter erhellte den Klassenraum.
Ich weiß nicht, sagte ich.
Als sie wieder sprach, war ihre Stimme streng. Komm nach Hause, sagte sie.

Nachdem wir aufgelegt hatten, ging ich nach draußen, saß eine Weile in meinem Auto und dankte Gott für das Wochenende eine Pause, um das Sisyphos-Gewicht dessen einzuschätzen, was auch immer als Nächstes kommen würde. Mir wurde klar, dass ich die erste und elementarste Frage der Eltern nie beantwortet hatte: Wo waren Sie?
     Und wo war ich gewesen? Nah genug, um so zu tun, als hätte ich sie im Blick, weit genug entfernt, dass mir so etwas entgehen konnte. Ich presste den Kopf gegen das Lenkrad und kam versehentlich auf die Hupe, ein durchdringender Ton hallte durch die Seitenstraße. Ich wollte nicht nachdenken, wollte nichts empfinden, nichts außer Ruhe: ein weißer Raum, ein weicher Platz. Aber ich hörte schon die Fragen, die noch kommen würden.
     Ich fuhr durch die Stille und betrachtete alles, als halte es eine Antwort bereit. An einer Ampel auf der vierzehnten Straße sah ich einen Penner, der eine Katze an der Leine führte; an der Fulton Street stand ein orangefarbener Tweedsessel verlassen auf dem Gehsteig. Die Häuser standen Schulter an Schulter wie Menschen in einem Fahrstuhl, der Nebel verschleierte die Silhouetten der Dinge, löschte aus, was ohne direktes Licht nicht zu sehen war.
     Ich bog in meine alte Straße und hielt vor dem Haus, in dem ich einmal gelebt hatte. Es war ein Bau im Stil der meisten Häuser in San Francisco - hoch und schmal, in Pastellfarben gestrichen, die einzelnen Stockwerke durch eine gefährlich steile Treppe verbunden. Die unerlässlichen Erkerfenster im Erdgeschoss und im ersten Stock, eins über dem anderen; ein Spitzdach; eingelassener Beton führte zur Garage. Es stand kein Auto in der Auffahrt. Das Licht war aus. Die Büsche vor dem Haus wirkten verwildert. Es war eine Angewohnheit von mir; wenn ich nervös war oder mich verunsichert oder verloren fühlte, war dies ein einfaches Ziel.

zu Teil 2