Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Warum die Deutschen? Warum die Juden? Teil 1

01.08.2011.
S. 105 ff
 
Zu den weiteren Gründen des neuartigen und Ende der 1870er-Jahre organisiert auftretenden Antisemitismus gehören der 1871 begonnene Kulturkampf gegen den Einfluss der katholischen Kirche und Bismarcks Ende der 1870er-Jahre vollzogener antiliberaler Schwenk. Beides hing unmittelbar zusammen. In politischer Kooperation mit den Nationalliberalen hatte Bismarck versucht, einen säkular-liberalen Verwaltungsstaat zu errichten. Dazu mussten die Zivilehe, die Standesämter und die staatliche Schulaufsicht gegen die Kirchen, insbesondere gegen katholische Würdenträger, durchgesetzt und damit der Kernbereich hoheitlicher Staatsaufgaben neu definiert werden. Papst Pius IX. ging im Jahr 1872 so weit, den Kulturkampf als einen Angriff des (liberalen) Judentums gegen das Christentum hinzustellen. Von da an schwenkte ein erheblicher Teil der katholischen deutschen Presse ins judenfeindliche Lager ein.
     Zwischen 1876 und 1879 gestaltete Bismarck seine Innenpolitik grundlegend neu. Er richtete sie zum einen gegen die Liberalen, die den Kulturkampf mit ihm gemeinsam geführt hatten, zum anderen gegen die Sozialisten. Seither berücksichtigte er bei seinen Entscheidungen zunehmend die Wünsche der konservativen Fraktionen des Reichstags und beendete den Kulturkampf mit halbherzigen Kompromissen. Mit Hilfe der Konservativen führte er Schritt für Schritt Schutzzölle, Steuer- und Subventionsprivilegien zugunsten von Großagrariern und Stahlbaronen ein. Den neuen Protektionismus verkaufte er öffentlich als Schutz der "nationalen Arbeit". Den neuberufenen preußischen Finanzminister Arthur Hobrecht ließ der Großgrundbesitzer Bismarck 1878 wissen, wie er künftig mit den Liberalen verfahren werde: "Die Gelehrten ohne Gewerbe, ohne Besitz, ohne Handel, ohne Industrie, die vom Gehalt, (von) Honoraren oder Coupons leben, werden sich im Laufe der Jahre den wirtschaftlichen Forderungen des produzierenden Volkes unterwerfen oder ihre parlamentarischen Plätze räumen."(151)
     In diesem politischen Kontext eröffnete Heinrich von Treitschke im November 1879 den Berliner Antisemitismusstreit mit dem Aufsatz "Unsere Aussichten", den er in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichte. Er adressierte den berühmten Text an jene Söhne des deklassierten Handwerker- und Kaufmannsstandes, die, familiengeschichtlich gesehen, in der ersten Generation studierten. Sie fürchteten sich vor dem Morgen, scheiterten kraftlos an der politischen Aufgabe, die obrigkeitlichen Entwicklungshemmnisse aus dem Weg zu räumen und eine moderne Staatsverfassung durchzusetzen. Im Sinne seiner zutiefst unsicheren christlichen Studenten erhob Treitschke den Vorwurf, dass "in jüngster Zeit ein gefährlicher Geist der Überhebung in jüdischen Kreisen erwacht" sei. Er forderte von den vom Staats- und Offiziersdienst ferngehaltenen und damit an die interessanten Ränder des ökonomischen Fortschritts gedrängten Juden "mehr Toleranz", "mehr Bescheidenheit". Treitschke schrieb, "der Instinkt der Massen (habe) in den Juden eine schwere Gefahr, einen hochbedenklichen Schaden des neuen deutschen Lebens erkannt", und selbst die Urteilsfähigsten des Landes riefen "wie aus einem Munde": "Die Juden sind unser Unglück!"
     In seiner wie immer in pompös geschliffenem Stil gehaltenen Polemik wetterte er zunächst generell gegen "Bildungsdünkel", "weichliche Philanthropie" und gegen die "Verhätschelung und Verzärtelung der Verbrecher". Er forderte eine Politik des sittlichen Halts und unnachsichtiges staatliches Durchgreifen gegen die "Verwilderung" der Massen, die "Kräftigung der Reichsgewalt", das Ende des Parlamentsgezänks und "treue Eintracht zwischen der Krone und dem Volke".(152) Mit seiner Streitschrift plädierte Treitschke gegen den Liberalismus, für den nationalen Kollektivismus und einen machtvollen Staat - deshalb nahm er die weit überwiegend liberal gesinnten Juden aufs Korn.

Im Hintergrund der Attacke stand ein politischer Anlass. Treitschke gehörte der nationalliberalen Reichstagsfraktion an und betrieb damals die Spaltung der Partei, weil einige Abgeordnete der protektionistischen Politik Bismarcks nicht mehr folgen wollten. Eine Minderheit um die deutsch-jüdischen Abgeordneten Ludwig Bamberger und Eduard Lasker sah sich daraufhin gezwungen, die Partei zu verlassen und bildete eine eigene kleine Fraktion, weil sie die von Bismarck seit 1876 zunehmend betriebene Politik der Schutzzölle und Steuervergünstigungen zum Vorteil von Großgrundbesitz und Montanindustrie nicht länger mitverantworten wollte. Doch die Mehrheit der Nationalliberalen folgte Bismarcks verhängnisvollem Kurs, allen voran der Abgeordnete Treitschke. Es ging in dieser Auseinandersetzung nicht um die eine oder andere Zollgebühr, "sondern", wie Bamberger mahnte, "um Leben und Tod auf dem Felde der freien, friedlichen, modernen Entwicklung" Deutschlands. In diesem Streit standen zwei Welten des Wirtschaftsdenkens einander gegenüber - "das kollektivistische und das individualistische".(153)
Bis 1876 hatte Bismarck seine Politik im Wesentlichen auf die Nationalliberale Partei gestützt. Die liberalen jüdischen Abgeordneten und ihre Wähler gehörten bis 1876 zu seinen Mehrheitsbeschaffern. Mit der endgültigen Abkehr vom Liberalismus trieb Bismarck die Freisinnigen 1879 vorsätzlich zur Spaltung. Zum dauerhaften Unglück der Nation zerstörte er das ohnehin schwache freiheitliche Denken in Deutschland nachhaltig - und verhalf dem nationalen und staatlich organisierten Kollektivismus zum Durchbruch. Mit dieser politischen Weichenstellung begünstigte er das Erstarken des deutschen Antisemitismus in den folgenden 50 Jahren weit mehr als mit seinen durchaus seltenen, manchmal überbewerteten antijüdischen Äußerungen.


Volkskollektivismus im Vormarsch


Bitte, etwas mehr Gleichheit!

In seinem Aufsatz "Unsere Aussichten" charakterisierte Heinrich von Treitschke die ostjüdischen Zuwanderer als "Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge", deren "Kinder und Kindeskinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen". Der prominente Nationalhistoriker geißelte das "hämische" Auftreten "der betriebsamen Schar der semitischen Talente dritten Ranges" und deren "verstockte Verachtung" christlicher Deutscher: "Und wie fest hängt dieser Literatenschwarm unter sich zusammen." Der Großprofessor ereiferte sich über das "neujüdische Wesen", die "gemütsrohe Kritik" und "Spottsucht", den "eigentümlich schamlosen Ton", die "schlagfertige Gewandtheit und Schärfe", "vielgeschäftige Vordringlichkeit" und "beleidigende Selbstüberschätzung". All das verletze die deutsch-christliche Mehrheit, ihre "bescheidene Frömmigkeit" und "alte gemütliche Arbeitsfreudigkeit". Falls die Juden weiterhin ihre Eigenständigkeit pflegen wollten und es ablehnten, sich in die von Treitschke als protestantisch verstandene deutsche Kulturnation einzugliedern, "so gebe es nur ein Mittel: Auswanderung, Begründung eines jüdischen Staates irgendwo im Auslande."(154)
     Die seit 1879 hartnäckig zur Schau gestellte Judenfeindschaft Treitschkes ist für die weitere Entwicklung symptomatisch. Weniger zugespitzt hatte Treitschke ähnliche Thesen bereits 1870 in Heidelberg vorgetragen - ohne besonderes Echo.(155) Zehn Jahre später war die Zeit dafür reif geworden. Das lag neben den beschriebenen wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen des Kaiserreichs auch an den speziellen Verhältnissen und Aufgeregtheiten in der Reichshauptstadt. Während die Zahl der deutschen Juden zwischen 1871 und 1910 nur noch geringfügig zunahm und der Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung sank (auf unter ein Prozent), verhielt es sich in Berlin umgekehrt. Dort stieg in jenen 40 Jahren die absolute Zahl der Juden um das Dreifache auf 150 000, der Bevölkerungsanteil von gut drei auf mehr als fünf Prozent. Außerdem hob sich die Sozial-, Bildungs- und Einkommensstruktur der Juden sichtbar vom Durchschnitt ab. Hier setzten die Judengegner an und beklagten: Die Emanzipation ist zu weit gegangen; sie hat nicht zur Rechtsgleichheit, sondern zu erheblichen Vorrechten der Juden geführt, die schleunigst zurückgeschnitten werden müssen!
     Am 20. und 22. November 1880 stand die Judenfrage auf der Tagesordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses. Die dafür notwendige Anfrage hatte der freisinnige Abgeordnete Albert Hänel gestellt. Er wollte von der Königlichen Staatsregierung wissen, auf welche Weise sie den Tendenzen zur Entrechtung jüdischer Staatsbürger entgegenzutreten gedenke. Den Anlass bot eine an die preußische Regierung gerichtete Petition, in der Zuwanderungs- und Berufsbeschränkungen für Juden gefordert wurden. Die Petition kursierte noch, bald hatten sie mehr als 220 000 nichtjüdische Deutsche unterschrieben. Bismarcks Staatsministerium antwortete auf Hänels Anfrage unterkühlt, aber klar: Es beabsichtige nicht, an dem Rechtszustand religiöser Gleichberechtigung eine Änderung vornehmen zu lassen.
     Während der zweitägigen Generaldebatte zur Judenfrage wies der freisinnige Abgeordnete Rudolf Virchow die Behauptung von den Besonderheiten der jüdischen Rasse als für jedes "normal organisierte Gehirn" unverständliches Geschwätz zurück. Es gehorche "in erster Linie dem Neid" darauf, dass viele Juden sich nach oben arbeiteten, "es zu Stande bringen". Unter diesem Gesichtspunkt zerpflückte der Redner die soeben erschienene Broschüre "Das moderne Judenthum in Deutschland, besonders in Berlin". Verfasst hatte sie Adolf Stoecker, ebenfalls Mitglied des Abgeordnetenhauses und einer der Dom- und Hofprediger in Berlin. Die Juden drängten unverhältnismäßig stark an höhere Schulen, so Stoeckers Hauptvorwurf: "Ein solcher Trieb nach sozialer Bevorzugung, nach höherer Ausbildung verdient an sich die höchste Anerkennung; nur bedeutet er für uns einen Kampf um das Dasein in der intensivsten Form. Wächst Israel in dieser Richtung weiter, so wächst es uns völlig über den Kopf." Nachdem Virchow das Zitat verlesen hatte, wandte er sich direkt und mit Nachdruck an Stoecker: "Dann hört jede mögliche friedliche Entwicklung auf, da ist kein Friede mehr zu halten, wenn Sie so weit gehen, dass Sie dem Vater einen Vorwurf daraus machen, dass er seine Kinder in die höhere Schule schickt."(156)
     Ähnlich argumentierte der nationalliberale Abgeordnete Arthur Hobrecht. Er führte "ein gut Teil des hässlichsten Neides" gegen Juden auf den "beklagenswerten Mangel an ruhigem, festen Selbstvertrauen und an Energie" zurück. Wie solcher Neid daherkam, demonstrierte der konservative Abgeordnete Jordan von Kröcher. Er polterte gegen die "große geistige Überlegenheit" der freiheitlich-demokratischen Partei, die jüdische Abgeordnete in ihren Reihen zählte. Von Kröcher verabscheute das moderne Berlin als "Metropole der Intelligenz", die sich über die rechtschaffene Provinz und das angeblich törichte Volk erhebe. Julius Bachem vom katholischen Zentrum erregte, dass in Berlin, Breslau und Frankfurt am Main "ein fortschrittlich-jüdischer Terrorismus wahrnehmbar" sei. Die Berliner Witzblätter - Kladderadatsch, Ulk, Wespen - erschienen ihm als die "nichtswürdige" und intolerable "Essenz des im schlimmen Sinne reformjüdischen Geistes". Den Juden bescheinigte er ein "Übermaß an Frechheit", der "ungläubigen reformjüdischen Presse" Übermut, Frivolität und Zynismus. Für die praktische Moral dieser Art von konservativ-bürgerlichem Antisemitismus bedeuteten solche Vorwürfe: Der Übermütige bedarf kräftiger erzieherischer Maßnahmen, der frivole Zyniker härterer Hinweise.(157)
     In der denkwürdigen Debatte kam der Freisinnige Albert Traeger auf die Wortkombination "christlich-sozial" zu sprechen, mit der sich die Stoecker-Leute schmückten. Er hielt ihnen vor, sie hätten die aller Ehre werten Worte aus unehrlichen Motiven in Beschlag genommen. Anders als die Sozialdemokraten kümmerten sie sich nicht um "die Not der wirklich Enterbten, der Armen und Elenden", sondern um diejenigen, die sich zu den "nicht gut genug Situierten" rechneten: "Es wird, meine Herren, angefacht und angestachelt der Neid des weniger Besitzenden gegen den mehr Besitzenden, es wird ins Gefecht gerufen der Neid des Unbeholfenen gegen den Geschickteren."(158)
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(151) Röpke, Die deutsche Frage (1945), S. 199-203; Hobrecht zit. nach W.J. Mommsen, Das Ringen um den nationalen Staat (1993), S. 376-384; Rürup, Emanzipation und Antisemitismus (1975), S. 106.
(152) Treitschke, Unsere Aussichten (1879), S. 570-576.
(153) Bamberger, Die Sezession (1881/1897), S. 132; Marcus, Die wirtschaftliche Krise der deutschen Juden (1931), S. 147.
(154) Treitschke, Unsere Aussichten (1879); Treitschke, Ein Wort über unser Judenthum (1881), S. 2f.
(155) Treitschke, Das constitutionelle Königthum (1871/1915), S. 492f.
(156) Die Judenfrage, Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses (1880), S. 50-52; Stoecker, Das moderne Judenthum (1880), S. 16f, 38.
(157) die Judenfrage, Verhandlungen des Preußischen Abgeordnetenhauses (1880), (Hobrecht) S. 58, (Kröcher) S. 149, (Bachem) S. 85-95.
(158) Ebd., S. 62f
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