Vorgeblättert

Leseprobe zu Terry Eagleton: Das Böse. Teil 1

28.03.2011.
Einleitung

Vor fünfzehn Jahren quälten in Nordengland zwei Zehnjährige ein Kleinkind zu Tode. Das öffentliche Entsetzen machte sich in einem Aufschrei Luft, obwohl nicht recht klar ist, warum die Öffentlichkeit ausgerechnet diesen Mord so entsetzlich fand. Schließlich sind Kinder nur halbsozialisierte Geschöpfe, bei denen damit zu rechnen ist, dass sie sich von Zeit zu Zeit ziemlich unzivilisiert benehmen. Wenn wir Freud Glauben schenken dürfen, haben sie ein schwächeres Über-Ich oder Moralempfinden als Erwachsene. Insofern ist es eigentlich überraschend, dass so grausige Geschehnisse nicht öfter vorkommen. Vielleicht bringen Kinder sich ständig gegenseitig um und reden bloß nicht darüber. William Golding, ein Autor, mit dessen Werk wir uns in Kürze beschäftigen wollen, scheint in seinem Roman Herr der Fliegen davon auszugehen, dass sich eine Horde unbeaufsichtigter Schuljungen auf einer unbewohnten Insel binnen einer Woche gegenseitig abschlachten würde.

     Vielleicht liegt es daran, dass wir Kindern bereitwillig alles denkbar Schlimme zutrauen, scheinen sie doch eine fast außerirdische Rasse in unserer Mitte zu sein. Da sie nicht arbeiten, ist nicht klar, welchen Nutzen sie haben. Sie haben keinen Sex, obwohl sie vielleicht auch darüber nur nichts verlauten lassen. Sie sind unheimlich wie alles, was uns in einigen Aspekten ähnelt, in anderen aber nicht. Unschwer lässt sich vorstellen, dass sie sich gemeinschaftlich gegen uns verschwören, wie es John Wyndham in seinem Science-Fiction-Roman Kuckuckskinder schildert. Da Kinder noch nicht ganz am sozialen Spiel teilhaben, könnte man sie für unschuldig halten; doch aus genau demselben Grund könnten sie auch als Satansbrut gelten. Die Menschen des viktorianischen Zeitalters schwankten ständig zwischen diesen beiden Auffassungen: Mal waren Kinder kleine Engel, mal kleine Teufel.

     Ein Polizeibeamter, der mit dem Mord an dem Kleinkind befasst war, erklärte, er habe beim ersten Blick auf einen der Schuldigen gewusst, dass er böse sei. Durch derartige Äußerungen bringt man das Böse in Verruf. Mit dieser unmissverständlichen Dämonisierung des Jungen wollte der Polizist den weichherzigen Liberalen den Wind aus den Segeln nehmen. Es war ein Präventivschlag gegen all jene, die in dem Bemühen, die Handlungsweise der Täter zu verstehen, die sozialen Verhältnisse verantwortlich machen wollen. Ein solches Verständnis kann immer Vergebung nach sich ziehen. Indem der Polizist die Tat böse nannte, entzog er sie jedem Verständnis. Das Böse ist unbegreiflich. Es ist einfach ein Ding an sich - so, als stiege man, nur mit einer Riesenschlange bekleidet, in einen überfüllten Vorortzug. Es gibt keinen Kontext, der die Tat erklärlich machen könnte.

     Sherlock Holmes' großer Gegenspieler, der teuflisch böse Professor Moriarty, wird fast ganz ohne einen solchen Kontext dargestellt. Allerdings ist nicht uninteressant, dass Moriarty ein irischer Name ist und dass Conan Doyle zu einer Zeit schrieb, als in Großbritannien die Angst vor dem revolutionären irischen Feniertum umging. Vielleicht haben die Fenier Doyle an seinen trunksüchtigen, gewalttätigen irischen Vater erinnert, der in eine Irrenanstalt gesperrt worden war. Dass er jemanden namens Moriarty zum Inbegriff des reinen Bösen machte, ist wahrscheinlich erklärlicher, als es erscheint. Trotzdem wird das Böse noch oft für grundlos und unbegreiflich gehalten. Ein englischer evangelikaler Bischof schrieb 1991, untrügliche Anzeichen satanischer Besessenheit seien unmotiviertes Lachen, unerklärliches Wissen, ein falsches Lächeln, schottische Vorfahren, ehemalige Bergleute in der Verwandtschaft und eine Vorliebe für schwarze Kleidung und Autos. Nichts davon ergibt einen Sinn, aber so ist das nun einmal mit dem Bösen. Je weniger Sinn es hat, desto böser ist es. Das Böse verweist auf nichts als sich selbst, also auch auf keinen Grund.

     Tatsächlich hat das Wort unter anderem die Bedeutung von "ohne Grund" angenommen. Wenn die Kindermörder ihre Tat aufgrund von Langeweile, beklagenswerten Wohnverhältnissen oder familiärer Vernachlässigung begangen hätten, dann (so mag der Polizist befürchtet haben) wären sie von den Umständen dazu getrieben worden und hätten infolgedessen nicht so streng bestraft werden können, wie er es sich wohl wünschte. Das setzt fälschlicherweise voraus, dass eine Tat, die einen Grund hat, nicht aus freien Stücken begangen werden kann. So gesehen wären Gründe Formen des Zwangs. Wenn unsere Taten Gründe hätten, wären wir nicht für sie verantwortlich. Ich kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass ich Ihnen den Schädel mit einem Kerzenleuchter eingeschlagen habe, da der Grund Ihr missbilligender Klaps auf meine Wange gewesen ist. Das Böse dagegen hat nach allgemeiner Ansicht keinen Grund oder hat seinen Grund in sich selbst. Das ist, wie wir noch sehen werden, eine der Parallelen mit dem Guten. Abgesehen vom Bösen sagt man nur noch von Gott, er habe seinen Grund in sich selbst.

     Der Ansicht des Polizisten wohnt eine Art Tautologie oder Zirkelschluss inne. Menschen tun Böses, weil sie böse sind. Manche Menschen sind auf die gleiche Weise böse, wie manche Dinge tiefblau sind. Sie verüben ihre bösen Taten nicht, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, sondern weil sie sind, wie sie sind. Würde das aber nicht bedeuten, dass sie gar nicht anders können, als genau so zu handeln, wie sie handeln? Für den Polizisten stellt der Begriff des Bösen eine Alternative zu solchem Determinismus dar. Allerdings hat es den Anschein, als hätten wir einen Milieudeterminismus über Bord geworfen, nur um ihn durch einen Charakterdeterminismus zu ersetzen. Jetzt wird man von seinen Charaktereigenschaften und nicht mehr von den sozialen Verhältnissen zu unaussprechlichen Taten getrieben. Während sich die Veränderung des sozialen Umfelds relativ leicht vorstellen lässt - Abriss von Slums, Einrichtung von Jugendclubs, Vertreibung der Drogendealer -, kann man sich in Hinblick auf den menschlichen Charakter eine so gründliche Umgestaltung schwerlich ausmalen. Wie kann ich völlig verändert werden und immer noch ich sein? Will der Zufall aber, dass ich böse bin, kann nur eine derart tiefgreifende Umwandlung Abhilfe schaffen.

     Menschen wie der Polizist sind also eigentlich Pessimisten, obwohl sie wahrscheinlich diesen Vorwurf empört von sich weisen würden. Wenn man es mit Satan statt mit widrigen sozialen Verhältnissen zu tun hat, erscheint das Böse übermächtig. Das sind niederschmetternde Nachrichten für die Polizei (und ande- re). Die Jungen böse zu nennen heißt, die Schwere ihres Verbrechens zu dramatisieren und jeden gutherzigen Rekurs auf die sozialen Verhältnisse nach Möglichkeit zu unterbinden. Es erschwert die Absolution der Schuldigen. Allerdings gelingt das nur auf Kosten der Unterstellung, diese Art böswilligen Verhaltens sei von Dauer. Doch wenn die jungen Mörder des Kindes nicht umhinkonnten, böse zu sein, folgt daraus, dass sie unschuldig sind. Natürlich ist den meisten Menschen klar, dass kleine Kinder ebenso wenig böse sein können, wie sie in der Lage sind, sich scheiden zu lassen oder Kaufverträge abzuschließen. Doch es gibt immer Leute, die an schlechtes Blut oder verdorbene Gene glauben. Wenn indessen einige Menschen wirklich böse geboren würden, wären sie dafür nicht in höherem Maße verantwortlich, als kämen sie mit Mukoviszidose zur Welt. Die Bedingung, die sie verdammen soll, dient lediglich ihrer Entlastung. Gleiches gilt für die Behauptung, Terroristen seien Psychotiker, wie der oberste Sicherheitsberater der britischen Regierung sie bezeichnet hat. Man fragt sich, ob dieser Mann für seinen Posten geeignet ist. Wenn Terroristen tatsächlich verrückt sind, wissen sie nicht, was sie tun, und sind deshalb moralisch unschuldig. Folglich müssten sie in psychiatrischen Kliniken liebevoll gepflegt werden, statt in marokkanischen Geheimgefängnissen an ihren Genitalien verstümmelt zu werden.

     Von Männern und Frauen, die böse sind, heißt es gelegentlich, sie seien "besessen". Doch wenn sie tatsächlich die hilflosen Opfer dämonischer Mächte sind, müssen wir sie bedauern, nicht verdammen. Der Film Der Exorzist lässt es interessanterweise offen, ob seine diabolische kleine Heldin Abscheu oder Mitleid verdient. Menschen, die vermeintlich besessen sind, werfen die altehrwürdige Frage nach Freiheit und Determinismus in faszinierend theatralischer Form auf. Ist in dem Film der Teufel im Inneren des Mädchens das wahre Wesen ihres Seins (dann müssten wir sie fürchten und verabscheuen), oder ist er ein fremder Eindringling (dann wäre sie zu bedauern)? Ist sie der hilflose Spielball einer solchen Macht, oder entspringt diese aus dem Kern dessen, was das Mädchen ist? Oder ist das Böse nur ein Fall von Selbstentfremdung, in dem Sinne, dass diese grässliche Kraft zugleich Ich und Nicht-Ich ist? Vielleicht ist es das subversive Element einer Art fünften Kolonne, aber eines, das sich im Zentrum unserer Identität eingenistet hat. In diesem Falle müssten wir gleichzeitig Furcht und Mitleid empfinden, was uns laut Aristoteles beim Betrachten einer Tragödie widerfährt.

zu Teil 2