Essay

Jerusalem ist nicht der Nabel der Welt

Von Andre Glucksmann
22.02.2011. Die Tunesier und die Ägypter sind zu Beginn des Jahres 2011 realistischer und klüger als die diplomierten Geopolitiker: Für die Revolutionäre des Tahrir-Platzes ist Jerusalem nicht das Zentrum der Welt.
Ein Ereignis, das nicht stattfindet, beherrscht selten die Schlagzeilen. Die Reporter bemühen sich zu beschreiben, was passiert, ihre Aufgabe ist nicht, all das festzuhalten, was nicht passiert. Einige werden trotzdem darauf bemerken, dass selbst bei den hitzigsten Großdemonstrationen in Tunesien und in Ägypten niemand auf die Idee kam, amerikanische oder israelische Fahnen zu verbrennen; vor den Kameras wurden weder die Bilder von Barack Obama noch von Benjamin Netanjahu zertreten, es wurden keine rachsüchtigen Slogans skandiert, kein "Palästina wird siegen" oder "Tod Israel".

Eine solch erstaunliche Wandlung im Verhalten der Demonstranten hat die vereinten Kommentatoren nicht auf den Plan gerufen. Was sollen wir davon halten, dass der ewige Konflikt zwischen Israel und Palästina so an den Rand geriet? Ist er nicht das Problem? Ist dies nicht der Moment? Haben sie gerade dann für ihn keinen Kopf, wenn sie ihn hoch tragen?

Das Verdrängte ist nicht verschwunden. Ein mit dem Davidstern übermaltes Porträt Hosni Mubaraks; die CBS-Reporterin Lara Logan geschlagen und als "Jüdin, Jüdin" beschimpft (und gerettet von einer Gruppe Frauen und einigen Soldaten); die Synagoge in Tunis angegriffen von einer kleinen islamistischen Splittergruppe (die von der Menge aufgelöst wurde): Wir stellen uns vor, was alles hätte passieren können und was alles nicht passiert ist, wo doch die Millionen Revoltierenden frei waren in ihren Handlungen, in ihren guten wie in ihren schlechten Gedanken.

Auch ein Nicht-Ereignis ist ein Ereignis. Seit der Staat Israel existiert, ist die ganze Welt überzeugt, dass das Schicksal Jerusalems, der palästinensischen Flüchtlinge oder der besetzten Gebiete die zentrale Frage ist. Dieser gordische Knoten, den zu zerschlagen oberste Priorität hat, soll die Notwendigkeit von Diktaturen erklären, den Mangel an Freiheit in arabischen Ländern, er soll die anti-westliche Ausrichtung der sogenannten islamischen Welt rechtfertigen, ganz zu schweigen von den kulturellen und frauenfeindlichen Blockaden im Maghreb und im Maschrek, wie auch bei den Migranten der ersten, zweiten, dritten Generation in den europäischen Vorstädten.

Von rechts und links wurde uns eingetrichtert, dass ohne echten Frieden zwischen Jordan und Mittelmeer kein Fortschritt, keine Demokratie, keine Moderne möglich sei für die mehr als dreihundert Millionen Araber (und Berber), selbst nicht für eine Milliarde Muslime. Und was sehen wir jetzt? Genau das Gegenteil. Die Beziehungen zwischen Israel und Palästina sind auf dem Tiefpunkt, niemals seit Oslo schienen die Versprechungen beider Seiten so leer. Und dennoch entflammt im selben Moment ein unerwartetes, unverhofftes Verlangen nach Freiheit die "arabische Straße". Aber Vorsicht, bilden wir uns nicht ein, dass die Freudenrufe und Tränen alles vergessen machen oder dass zwischen den Zeiten der Angst und dem Siegesjubel die Menschen es sich erlauben, die Realität zu leugnen. Es gibt keine Nachrichtensperre. Um sich zu informieren, verfolgen die Aufständischen sehr genau die Geschicke ihrer Bewegung in den Satellitensendern. Sie brauchen nur al-Dschasira einzuschalten und erfahren von den Wikileaks-Enthüllungen über die Geheimverhandlungen der Autonomiebehörde und die Proteste der Hamas. Kairo weiß um Gaza und Tel Aviv, die Revolutionäre haben in voller Kenntnis der Dinge dem keine Dringlichkeit eingeräumt, was den "arabischen" Massen seit einem halben Jahrhundert angeblich so auf der Seele brennt.

Es ist nicht unbedeutend, wie die Aktualität eine ganze Reihe von sorgsam gehegten Vorurteilen dementiert. Die Tunesier und die Ägypter sind zu Beginn des Jahres 2011 realistischer und klüger als die diplomierten Geopolitiker: Für die Revolutionäre des Tahrir-Platzes ist Jerusalem nicht das Zentrum der Welt. Als die provisorische Regierung nach Mubaraks Sturz klarstellte, dass sie die internationalen Verträge und damit den Frieden mit Israel respektieren würde, rief niemand zu den Waffen, niemand nahm Anstoß und die Muslimbrüder murrten nicht. Es gab sogar junge verschleierte Demonstrantinnen, die sich eine "ägyptische Demokratie wie in Israel" wünschen. Für alle ist die Rangordnung umgestürzt, die palästinensische Frage ist auf später verschoben und weit davon entfernt, Anfang, Ende und Lauf der Welt zu bestimmen.

Vor zwanzig Jahren schrieb ich, um die algerischen Demokraten, Journalisten und Frauen, die der islamistischen Gewalt zum Opfer fielen, zu unterstützen, aber auch die zahllosen getöteten Bauern, dass wir lernen müssten, bis drei zu zählen: Islamische Heilsfront und GIA plus Armee plus die zivilen Kräfte des Widerstands, die ihr Leben für die Freiheit, die Laizität und die Menschenrechte gaben. Nach zehn schrecklichen Jahren fand sich diese dritte Partei eingeklemmt zwischen der Polizei der Körper (der repressiven Macht und den ökonomischen Monopolen des Militärapparats) und der Polizei der Gedanken (den Bußpredigern in den Moscheen).

Ihr Kampf geht nun weiter, in Tunesien und in Ägypten tut sich ein Graben zwischen den Generationen auf. Auf ihrem Weg zwingen die Jungen - mit Hilfe von Google, Facebook und Twitter - zum ersten Mal die ganze Gesellschaft bis drei zu zählen. Weder das Militär noch die Muslimbrüder haben sich bis zu diesem Tag die Ritter des Internets einverleibt, die die Öffnung zur Welt, die Freiheit der Kommunikation, die Gleichstellung der Geschlechter verlangen und die immense Armut anprangern, die sie umgibt. Heißt dies, dass das Schicksal Palästinas ihnen gleichgültig ist? Ich glaube nicht, früher oder später werden sie sich daran erinnern. Aber es ist nicht mehr die Obsession der Obsessionen, die für alles Unglück verantwortlich ist, die Tyranneien entschuldigt und mit einem Gespinst aus Lügen die mentale und materielle Misere überdeckt. Ob pro-palästinensisch oder pro-israelisch, die diplomatischen und militärischen Autoritäten sind dem Kampf der Kulturen a la Huntington in die Falle gegangen.

Die westlichen und muslimischen Staatskanzleien, allen voran der Quai d'Orsay beteuerten, dass die palästinensische Frage, sie allein, die "Massen" bewegt. Lange war diese absolute Vorrangstellung, vor allem für die Solidaritätsbewegung, Grund für eine erstaunliche Willfährigkeit, die dem Terrorismus zuträglich war. Für andere, vor allem Israel, schien der Hass, der so unüberwindbar und unerschütterlich den Nahen Osten beherrscht, die härtesten wie nutzlosesten Militäroperationen zu rechtfertigen oder die aussichtslosesten Friedensbemühungen. Es ist an der Zeit, die Uhren neu zu stellen. Es gibt keinen Zwang zur Unterwerfung, weder von Natur aus noch durch die Kultur, Völker sind nicht dazu verurteilt sich zu bekriegen, sie können selbst verantwortlich sein. Nichts ist gesichert, weder die Demokratie im Innern noch die friedliche Koexistenz im Äußeren, aber es ist auch nichts mehr, wie wir gestern noch glaubten, im Vorhinein verloren.

Aus dem Französischen von Thekla Dannenberg.

Der Artikel erschien am 18. Februar 2011 in Le Monde. Wir danken Andre Glucksmann für die freundliche Nachdruckgenehmigung.