Vorgeblättert

Leseprobe zu Jean-Pierre Abraham: Der Leuchtturm. Teil 1

05.07.2010.
22. November, 14 Uhr

Drüben an Land Röcke aus grobem Leinen, Kleider aus schwerem Tuch; hier draußen hoher Seegang. Martin atmet durch den Mund, zwischen den Lippen klemmt eine grässliche Kippe. Mitunter ergibt das ein abscheuliches Gerassel. Heute Morgen keuchte er auffallend. Nun achte ich auch auf meinen Atem. Ich sitze in der Küche, wage mich nicht mehr von der Stelle. Dies sind die trostlosen Stunden am Nachmittag.
     Die Dünung hat bei Tagesanbruch eingesetzt. Den ersten Anprall vernahm ich im Dunkel meiner Koje, ihm folgte eine lange Stille. Dünung aus Nordwest. Ich habe nicht mehr geschlafen. Wir sind Gefangene, vielleicht für lange Zeit. Nicht ein Windhauch.
     Die raue See ließe sich gut zeichnen, ist präzise wie Blattwerk. Sie bietet nun all ihren Pomp auf, rollt an, zerbirst am Unterbau und formt um den Leuchtturm ein weites Gischtgestade, dessen Gleißen kein Blick standhält. Gewaltige Schimmer gleiten über die Plattform, durchlöchern das Halbdunkel der Küche, lassen friedliche Objekte aufblitzen. In der endlosen Stille zwischen den Wellen höre ich meinen zu raschen Atem. Ich warte. An der Fensternische taucht ein kleiner Lichtfleck auf, wandert langsam weiter, wird plötzlich hohl, scheint Risse zu bekommen und verschwindet in dem Moment, als das Tosen wiederkehrt. Sonne und Welle explodieren zur gleichen Zeit. Abermals kriechen Schatten und Stille empor. Licht, Explosion, Stille und der weiße Fleck. Ich will nicht länger hinsehen, tue es dennoch von neuem. Der Inhalt der trüben Kaffeekanne auf dem Tisch gleicht einem schwarzen, matt schimmernden Rund, durch das jedes Mal kleine Wellen laufen. Nun erzittert es nicht mehr. Eigentlich möchte ich etwas anderes sagen. Tief Atem holen. Wünschen, verzichten; Welle für Welle. Kann man noch bedürftiger sein?

Unerschütterlich ruhig das Licht im Treppenhaus. Das Getöse lässt nach. Von hier aus kann man spielend den Lauf der Sonne verfolgen. Der durch die Luken erspähte Horizont ist scharf wie die Krone einer ganz nahen Mauer.
     Ich begab mich nach oben. Martin hielt seine Siesta. Als ich, die Holzschuhe in der Hand, an seinem Zimmer vorbeischlich, stand die Tür halb offen; ich bekam ihn für eine Sekunde zu sehen. Er lag angekleidet in seiner Koje, die Augen weit geöffnet, zum Plafond gerichtet. Ohne Mütze hat er einen furchtbaren Kopf, einen hohen, bleichen Schädel mit strähnigem Haar. Den Kopf eines Ertrunkenen.
     Ich zog in der Laterne die Vorhänge zur Seite, um noch einen Blick nach draußen zu werfen. Der Himmel gleißte. Der zwei Meilen östlich stehende kleine Turm von Namouic, ein Orientierungspunkt bei dichtem Nebel, war weiß wie die Gischt. Am Horizont konnte man deutlich die niedrigen Häuser der Insel sehen und dahinter, in zartem Ocker, die Pointe du Raz. Im Westen, auf Höhe der gerade erahnbaren Bouee Occidentale, brachen über unsichtbaren Sandbänken die langen glatten Barren der Dünung. Flüchtige Regenbogen verblassten in der Gischt. Keine Regung im Norden, weit im Süden ein Frachter. Seit geraumer Zeit schon ist die See grau, reden wir also nicht mehr davon.
Niemand kann sehen, was sich unserem Auge darbietet. Kein Schiff kann derzeit heranfahren.
 

25. November

Schichtwechsel mit zweitägiger Verspätung. Nach wie vor herrschte starker Seegang. Eine Welle hatte Martin auf dem Gleitkorb erfasst. Er war für einige Zeit untergetaucht, dann sah ich ihn lachend auf das Deck der Velleda fallen. Die Matrosen stürzten zu ihm, fassten ihn fest unter die Arme. Das Schnellboot schlingerte, dass zeitweilig sein Kiel zu sehen war. Am Steuer mein Freund Henri. Clet wurde heraufgeseilt. Die Wohltat frischen Brotes. Auf der Insel nichts Neues. Eine kurze Nachricht von Marion: "Wir denken an Abreise." Man berichtet, die Mazarine sei als ganzes explodiert, das Musee Carnavalet für die Öffentlichkeit gesperrt. Zumindest glaubte ich, dies so verstanden zu haben. Clet verhunzt alle Namen, lacht blöde. Eines Tages wird er noch ausgleiten, in die Strömung stürzen, und niemand wird seinen Körper je wieder finden.

 
26. November, 17 Uhr

Flaute. Clet kommt mitunter wankenden Schrittes oder auch seitlings daher, nie ist er so steif wie ich. Wir brachten den ganzen Vormittag auf der Anlegestelle zu, reinigten die Aufzugswinde. Die Sonne brannte unerbittlich herab, ich rang wiederholt nach Luft. Eine kurze Brise aus Nord ließ die steigende Flut aufblitzen. Das Meer glitt in einem Block dahin, geräuschlos, und der Himmel schien ihm zu folgen. Aus der Ferne muss dieser einsam dastehende Leuchtturm unheimlich wirken. Wir, die ihn bewohnen, wissen ja Bescheid. Manchmal glaube ich, an etwas Bedeutendem teilzuhaben, ohne zu begreifen, was es ist.
     Wir kommen in die Periode der Springfluten, da man bei Ebbe ein Stück von dem roten Felsen sieht, auf dem der Leuchtturm erbaut ist. "Ar Men" bedeutet im Bretonischen "der Stein". Was hatte dieser Fels nur an sich, dass man unter den Dutzend anderen, die aus der Basse-Froide ragen, ausgerechnet ihn so bezeichnete? Ich mag den Namen.
     Als ich Armen zum ersten Mal sah, herrschte dasselbe Wetter. Die See war bleigrau - wie immer, wenn man auf einem Kriegsschiff kreuzt. Damals dachte ich, über den Ort Bescheid zu wissen. Hatte das Verlangen, auf diesem Leuchtturm zu leben. Es war die beste Art, ihn nicht mehr zu sehen. Als mein Fuß zum ersten Mal auf den Spielzeug-Landungssteg setzte, fühlte ich mich sogleich zu Hause. Doch schon erinnere ich mich nur mehr vage an den gesamten Zeitabschnitt.
     Clet plauderte irgendetwas daher. Ich klopfte den Rost von der Winde, hörte durch den Lärm des kleinen Hammers nicht genau, was er sagte. Er begab sich an die Nordseite, um eine Angel auszulegen. Ich konnte kaum erwarten, in das Dunkel des Betriebsganges zurückzukehren. Erleichtert stieg ich die Treppe hinauf.
     Den ganzen Nachmittag habe ich in das Gefühl von Hochsommer zurückgefunden. Der Leuchtturm löst sich auf im Licht. Ich fühle den Druck jenseits der enormen Mauern. Das Tor ist verriegelt, die Doppelfenster der drei Zimmer sind verschlossen. Ich bleibe im Treppenhaus auf einer Stufe sitzen, lehne an der kalkgetünchten Wand. Kein Schatten bewegt sich. Früher glaubte ich, die Stürme wären schrecklich, kalkulierte bei allem Enthusiasmus ein, mit dem Leuchtturm davonzufliegen. Doch die wahre Angst kommt auf, wenn die See allzu ruhig ist. Man hat dann den Eindruck, abzudriften. Ich rollte mich am liebsten in einen Winkel, aber nicht in meiner Koje, sondern irgendwo am Steinboden.

Vor einer Stunde, bei der Umkehr des Gezeitenstroms, hat der Wind aufgefrischt. Im Westen setzte die Sonne auf. Die Steine im Treppenhaus färbten sich golden. Die durch die Luken einfallenden Lichtstrahlen trafen Stock für Stock wieder aufeinander. Ich begab mich in die Laterne. Die großen Fensterscheiben haben Fingerstärke. Durch einen Spalt zwischen den weißen Vorhängen sah ich einen neugierigen Kormoran vorüberfliegen, mit Kurs auf die offene See. Das gleißende Wasser driftete als Ganzes südwärts, den Mäandern kleiner Strudel folgend. Noch im fensterlosen Wacheraum nehmen Messing und Holzvertäfelungen den Abglanz all dessen auf.
I     ch gehe das Treppenhaus hinunter. Mache bei jeder Luke halt. Ich entwickle seltsame Rituale. Begebe mich ganz nach unten. Ab dem zweiten Stockwerk sind die Wände klebrig, die Stufen schwarz vor Feuchtigkeit.

 
27. November, 4 Uhr

Das Leuchtfeuer wird nun jeden Tag etwas früher gezündet. Die Zeit der langen Nächte bricht an. Mit dem sorgenlosen Dahinleben ist es vorbei. Ein im Süden angekündigtes Tief, das direkt auf uns zusteuert, markiert zweifellos den Beginn einer langen Serie. Nun heißt es, alles dichtmachen, das Tor verriegeln und abwarten. In mir ist jemand, der hier vermutlich nicht lebend davonkommen wird.

22 Uhr. Clet hat Angst. Er redet viel zuviel. Ich kann nichts erwidern, sehe ihn immer fahriger werden. Er rasiert sich nicht mehr. Seine Haare sind zu lang. Er fürchtet, die Motoren des Nebelhorns nicht starten zu können. Hat Angst vor Pannen, vor einer Funkstörung. Allabendlich spricht er mit seiner Frau, um immer dasselbe zu sagen: "Ich hoffe, auf der Insel läuft alles gut. Hier ist alles in Ordnung. Umarme die Kleinen von mir. Bis morgen." Die Insel ist nicht mehr zu sehen. Bereits zwei Schiffe sollen verschollen sein.
     Meerestosen wie Kanonendonner. Geräusche exakt wie letzten Winter; unten dieselben Laute; ein nicht zuordenbares Geknarre. Hinter der Schutzplatte der Küche jagen große Schatten vorüber. Clet fährt jedes Mal hoch. Ich kann ihn nicht beruhigen. Zum Zeitvertreib schleift er sein Messer. Minutenlang lässt er die Klinge über den Ölstein gleiten, zuerst in die eine, dann in die andere Richtung. Er befühlt die Schneide mit dem Daumen, streift seinen Ärmel hoch und benetzt die Haare des Unterarms mit Speichel. Die wie ein Rasiermesser vom Ellbogen zum Handgelenk gezogene Klinge hinterlässt eine kahle Spur. Er legt sein Messer auf den Tisch, blickt mich zufrieden an.
     Martin benützt für den Anschliff immer die erste Stufe der Treppe. Sie ist abgetreten. Alle drei besitzen wir dasselbe Messer mit schieferfarbener Einzelklinge, Horngriff und Nieten aus Messing, damit das ganze nicht rostet. Auf der Klinge steht ein Wahlspruch der Kooperative der Inselfischer.

Die nächtlichen Stunden verlieren, so ich sie mit Schreiben zubringe, jede Festigkeit. Ich schreibe am Stehpult, lehne mit dem Rücken an einem der rotgestrichenen Eisenträger unter Quecksilberwanne und Optik. Ich halte mehrfach inne, ich trete auf die Galerie hinaus, um die Leuchtfeuer zu beobachten. Ich begebe mich wieder hinein, setze mich in den alten Wagensitz, der uns als Wachebank dient. Ich horche. Alles beginnt von vorne.
     Dabei hoffte ich bei meiner Ankunft, wenigstens hier diesen lächerlichen Hang zum Warten ein für allemal abzulegen. Diese Art, das Ohr zu spitzen und den Atem anzuhalten: das, was seit so vielen Jahren nun mein Leben ausmacht. Auf der Insel drüben, wo ich niemanden und nichts erwarte, lausche ich oft tagelang nach Schritten im Garten meines Hauses, dem Grand Monarque. Ich dachte, auf dem Leuchtturm würde das Warten eine andere Form annehmen. Wenn etwas zum Vorschein kommen soll, kann es nur aus meinem Innersten kommen. Und schon liege ich wieder auf der Lauer, als würde demnächst jemand an die Tür klopfen. Im Grunde regt sich nichts. Und es wird sich auch nichts ereignen.

Ein Jahr noch dauert dieses Abenteuer! Erst war jeder Augenblick ein erster Augenblick. Alle Himmelsfronten bezogen um mich Stellung. Ich konnte nicht mehr altern. Ich liebte den wunderbaren Moment der Morgendämmerung, die große Stille, wenn das Feuer erlischt. Die einfachen, schönen Gesten, das Anbringen der weißen Vorhänge rund um die Laterne. Eine Zeremonie. Ich hatte das Gefühl, in das Geheimnis des beginnenden Tages eingeweiht zu sein. Nun laufe ich bei Morgengrauen kein neues Ufer mehr an. Öffnete ich das Eingangstor, flogen Möwen auf. Zum Fischen begab ich mich an die dunkle, kühle Nordseite, wo die Steine von einer grünlichen Flechte überzogen und die Stützgeländer völlig durchgerostet sind. Mitunter zog ich einen schönen, stumm bebenden Seehecht an Land, dessen Farben sich alle Sekunden veränderten. Ich weidete ihn stets sogleich aus. Einmal fuhr dabei dicht am Leuchtturm ein kleiner Langleinenkutter vorüber, an Bord stand ein Mädchen in rotem Kleid. Wir tauschten lange Grüße aus; meine Hände waren noch voller Blut. Wenn meine Nachtschicht zu Ende war, machte ich, ehe ich zu Bett ging, mein Fenster weit auf, um die Brandung zu hören. Jetzt kann ich sie nicht mehr ertragen.

Nach all den Jahren habe ich zu guter Letzt drei Bücher behalten. Den Bildband Vermeer. Das Mädchen mit dem Perlenohrring. Ich hatte diese Reproduktion schon an manch Zimmerwand geheftet. Nicht hier. Ich wage nicht einmal hinzusehen, das Mädchen blickt mich zu unverhohlen an. Sollte jemand von mir ein Zeichen erwarten, ich wüsste nicht welches. Weshalb gerade dieses Buch? Bei jedem Urlaub hoffe ich, es an Land zu lassen. Und wieder nehme ich es mit. Es ist zu groß, nimmt zuviel Platz ein. Auf seinem weißen Umschlag prangt ein Ölfleck. Einmal ließ ich es zu mitternächtlicher Stunde, nach Ende meiner Schicht, oben liegen. Es fiel mir erst auf, als Martin bereits die Treppe hochkam. Ich rannte wie ein Verrückter, ohne Holzschuhe, in das Wachzimmer, hatte gerade noch Zeit, wieder in den Maschinenraum zu gelangen, und hockte mich dort samt Buch hinter einen Motor, um Martin vorbeizulassen.
     Da ist noch ein weiterer Bildband, nicht ganz so groß. Ansichten eines Zisterzienserklosters, das ich zweifellos nie besuchen werde. Nächtelang habe ich mich in das Buch vertieft, es so lange durchschritten, bis ich meinen Gang auf den Steinplatten hallen hörte. Ich wandelte im Kloster von Licht zu Licht, in den Schlafsaal mit den tiefliegenden Fenstern, dann, zur Stunde der Vigilen, in die Kirche. "Das größte Abenteuer der Welt." Das dritte Buch: Gedichte von Pierre Reverdy.
     Ich kenne diese Bücher auswendig, brauche sie nicht, kann mich aber auch nicht von ihnen trennen. Es ist, als müsste ich durch sie hindurch, um jene wahrhafte Einsamkeit zu erreichen, über die es nichts mehr zu sagen gibt.
     Tagsüber verwahre ich sie in meinem Holzkoffer.

Teil 2