Vorgeblättert

Leseprobe zu Yasmina Khadra: Die Schuld des Tages an die Nacht. Teil 1

04.03.2010.
5.

Mein Onkel wohnte in der europäischen Stadt am Ende einer Asphaltstraße mit richtigen Häusern aus Stein, schmucken, friedvollen Domizilen mit Fensterläden und schmiedeeisernen Gartenzäunen. Es war eine schöne Straße mit sauberen Gehwegen, gesäumt von sorgfältig gestutzten Gummibäumen. Hier und da standen Bänke, auf denen alte Männer saßen und der Zeit beim Verstreichen zusahen. Auf den Plätzen tollten Kinder. Sie trugen weder Lumpen wie die Gören von Djenane Djato noch das Stigma des bösen Geschicks im niedlichen Gesicht, sondern schienen das Leben in vollen Zügen zu genießen. In dem ganzen Viertel herrschte eine sagenhafte Ruhe; man hörte nur Kindergeplapper und Vogelgezwitscher.
     Das Haus meines Onkels war zweigeschossig, mit einem Vorgärtchen und seitlich einer Gartenallee. Die Bougainvillea überwucherte die Umfassungsmauer und ließ sich ins Leere fallen, über und über mit violetten Blüten bestirnt. Die Veranda trug ein dichtes Dach üppig rankenden Weinlaubs.
     "Im Sommer hängen hier überall die Trauben", bemerkte mein Onkel, während er das Gartentor aufstieß. "Du musst dich nur auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu ernten."
     In seinen Augen blitzten tausend Lichter. Er war selig.
     "Es wird dir hier gefallen, mein Junge."
     Eine rothaarige Frau um die vierzig öffnete die Tür. Sie war schön, hatte ein rundes Gesicht und große meergrüne Augen. Als sie mich auf dem Treppenabsatz erblickte, führte sie beide Hände an ihr Herz und stand für eine Weile sprachlos da, völlig überwältigt. Dann sah sie meinen Onkel fragend an, und als dieser nickte, war ihre Erleichterung groß.
     "Mein Gott! Wie schön er ist!", rief sie aus und hockte sich vor mich hin, um mich aus der Nähe anzusehen.
     Ihre Arme griffen so schnell nach mir, dass ich fast hintenübergefallen wäre. Sie war eine kräftige Frau, mit etwas brüsken, mitunter männlichen Bewegungen. Sie presste mich an sich, und ich konnte ihr Herz schlagen hören. Sie roch so gut wie ein ganzes Lavendelfeld, und die Tränen am Wimpernrand ließen ihre Augen noch grüner schimmern.
     "Liebe Germaine", sagte mein Onkel, und seine Stimme bebte, "ich stelle dir Younes vor, gestern noch mein Neffe, heute unser Sohn."
     Ich spürte, wie ein Schauer den Körper der Frau durchlief. Die Träne der Rührung, die eben an ihren Wimpern hing, kullerte jäh ihre Wange hinunter.
     "Jonas", sagte sie und unterdrückte ein Schluchzen, "Jonas! Wenn du wüsstest, wie glücklich ich bin!"
     "Sprich Arabisch mit ihm. Er hat keine Schule besucht."
     "Das macht doch nichts. Das bekommen wir schon hin."
     Zitternd erhob sie sich, nahm mich bei der Hand und führte mich in einen Raum, der mir größer schien als ein Stall und prachtvoll möbliert war. Das Tageslicht drang ungefiltert durch eine riesige, mit Vorhängen drapierte Glastür, die zu einer Veranda mit zwei Schaukelstühlen und einem Beistelltisch führte.
     "Das, Jonas, ist dein neues Zuhause", erklärte mir Germaine.
     Mein Onkel kam hinterher, er hatte ein Paket unterm Arm und strahlte von einem Ohr zum anderen.
     "Ich habe ihm ein paar Kleider gekauft. Morgen kaufst du ihm alles, was er sonst noch braucht."
     "Fein, ich kümmere mich darum. Deine Kunden warten ­sicher schon."
     "Sieh einer an, du willst ihn wohl für dich allein haben?"
     Germaine kauerte sich wieder vor mich hin und sah mich an.
     "Ich glaube, wir werden uns gut verstehen, nicht wahr, Jonas?", sagte sie auf Arabisch zu mir.
     Mein Onkel legte das Kleiderpaket auf eine Kommode und machte es sich auf einem Sofa bequem, die Hände auf den Knien, den Fes nach hinten geschoben.
     "Du wirst doch nicht die ganze Zeit da herumsitzen und uns bespitzeln?", fragte Germaine. "Mach dich lieber wieder an die Arbeit."
     "Kommt überhaupt nicht in Frage, mein Schatz. Heute habe ich Urlaub. Ich habe ein Kind im Haus."
     "Das ist doch nicht dein Ernst?"
     "Es war mir im ganzen Leben noch nie so ernst."
     "Gut", lenkte Germaine ein, "dann werden Jonas und ich jetzt ein schönes Vollbad nehmen."
     "Ich heiße Younes", erinnerte ich sie.
Sie bedachte mich mit einem gerührten Lächeln, strich mir mit der Hand über die Wange und flüsterte mir ins Ohr:
     "Jetzt nicht mehr, mein Liebling ?"
     Dann, an meinen Onkel gewandt:
     "Wenn du schon da bist, kannst du ja das Badewasser heiß machen."
     Sie schob mich in ein kleines Zimmer, in dem eine Art guss­eiserner Kessel stand, öffnete einen Wasserhahn und begann mich zu entkleiden, während die Wanne sich mit Wasser füllte.
     "Wir werden uns jetzt von diesen Lumpen trennen, nicht wahr, Jonas?"
     Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Blick folgte ihren weißen Händen, die über meinen Körper glitten, mich meiner Scheschia, meiner Gandura, meines abgetragenen Unterhemds und meiner Gummistiefel entledigten. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich entblätterte.
     Mein Onkel kam mit einem dampfenden Eiseneimer an. Verschämt wartete er im Korridor. Germaine half mir in die Wanne, seifte mich von Kopf bis Fuß ein und wusch mich mehrfach, wobei sie mich kräftig mit einer duftenden Lotion einrieb, wickelte mich dann in ein großes Badetuch und holte meine neuen Kleider. Als ich fertig angekleidet war, zog sie mich vor einen großen Spiegel - ich war jetzt ein anderer. Ich trug eine Tunika, die aus einer Matrosenbluse mit breitem Hemdkragen bestand und vorne zur Zierde vier große Messingknöpfe hatte, dazu eine kurze Hose mit Seitentaschen und genau dieselbe Art Mütze wie Ouari.
     Mein Onkel erhob sich zur Begrüßung, als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte. Er war so über alle Maßen glücklich, dass es mich schon beunruhigte.
     "Ist er nicht wunderbar, mein kleiner barfüßiger Prinz?", rief er aus.
     "Hör auf, du wirst noch den bösen Blick anlocken! Und was die bloßen Füße betrifft, du hast vergessen, ihm Schuhe zu kaufen!"
     Mein Onkel schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn.
     "Stimmt. Wo hatte ich nur meinen Kopf?"
     "Gewiss in den Wolken."
     Mein Onkel ging sofort aus dem Haus. Nach einiger Zeit kam er mit drei Paar Schuhen verschiedener Größe zurück. Die kleinsten passten. Es waren schwarze Schnürschuhe aus weichem Leder, die mich an den Knöcheln ein wenig kratzten, aber meine Füße ganz wunderbar umfassten. Mein Onkel brachte die anderen nicht in den Laden zurück, sondern hob sie für die nächsten Jahre auf ?
     Sie ließen mich nicht eine Sekunde allein, kreisten um mich herum wie zwei Schmetterlinge ums Licht, führten mich durch das ganze Haus, dessen Schlafzimmer mit den hohen Decken so geräumig waren, dass sie die gesamte Mieterschaft von Bliss, dem Makler, hätten aufnehmen können. Stoffvorhänge wallten zu beiden Seiten von Fenstern mit blitzblanken Scheiben und grünen Fensterläden zu Boden. Es war ein schönes sonnendurchflutetes Gebäude, ein wenig verwinkelt, so kam es mir am Anfang vor, mit all den Korridoren und Geheimtüren, Wendeltreppen und Wandschränken, die ich erst für Zimmer hielt. Ich dachte an meinen Vater, an unsere ärmliche Hütte auf dem verlorenen Grund und Boden, unser Rattenloch in Djenane Djato; der Kontrast erschien mir so ungeheuerlich, dass mir schwindelte.
     Germaine lächelte mich jedes Mal an, wenn ich zu ihr hinsah. Sie verhätschelte mich bereits. Mein Onkel wusste nicht, wie er mich am besten zu fassen bekam, ließ aber nicht von mir ab. Sie zeigten mir alles auf einmal, lachten über jede Kleinigkeit, hielten sich manchmal an den Händen und beobachteten mich, zu Tränen gerührt, während ich, ungläubig staunend, die Gegenstände der modernen Welt entdeckte.
     Abends wurde im Wohnzimmer gegessen. Auch das war seltsam: Mein Onkel brauchte keine Petroleumlampe, um seine Nächte zu erhellen. Er musste nur auf einen Lichtschalter drücken, schon gingen ein paar Glühbirnen an der Decke an. Ich fühlte mich sehr unwohl bei Tisch. Daran gewöhnt, aus derselben Schale wie der Rest der Familie zu essen, kam ich mir vor dem eigenen Teller ziemlich hilflos vor. Ich bekam kaum einen Bissen herunter. Dieser Blick, der pausenlos jede meiner Bewegungen verfolgte, machte mich verlegen; diese Hände, die mir dauernd über die Haare strichen oder mich in die Wange kniffen, störten mich.
     "Nur nichts überstürzen!", ermahnte Germaine meinen Onkel ein ums andere Mal. "Lassen wir ihm die Zeit, die er braucht, sich an seine neue Umgebung zu gewöhnen."
     Mein Onkel hielt sich einen Moment zurück, im nächsten ging die Begeisterung aufs Neue mit ihm durch.
     Nach dem Abendessen begaben wir uns in den ersten Stock.
     "Das ist dein Zimmer, Jonas", verkündete mir Germaine.
     Mein Zimmer ? Es lag am Ende des Korridors und war doppelt so groß wie das in Djenane Djato, in dem meine ganze Familie wohnte. In der Mitte befand sich ein breites Bett, rechts und links von zwei Nachttischen bewacht. An den Wänden gab es Bilder, traumartige Landschaften oder Betende mit goldenem Heiligenschein, die Hände unterm Kinn gefaltet. Auf dem Kaminsockel ragte eine kleine Bronzestatue in die Höhe: ein geflügeltes Kind, und darüber hing ein Kruzifix. Ein wenig abseits standen, traut vereint, ein kleiner Schreibtisch und ein Polsterstuhl. Ein eigentümlicher Duft hing im Raum, süß und flüchtig. Der Blick durch das Fenster fiel auf die Straßenbäume und die gegenüberliegenden Hausdächer.
     "Gefällt es dir?"
     Ich gab keine Antwort. Die luxuriöse Umgebung erschlug mich fast, machte mir Angst. Ich fürchtete, beim ersten falschen Schritt alles umzuwerfen, so sehr schien die Ordnung ringsum bis ins kleinste Detail ausgeklügelt und am sprichwörtlichen seidenen Faden zu hängen.
     Germaine bat meinen Onkel, uns allein zu lassen. Sie wartete, bis er gegangen war, dann begann sie, mich auszuziehen und streckte mich auf dem Bett aus, als ob ich unfähig gewesen wäre, mich ohne ihre Hilfe hinzulegen. Mein Kopf versank in den Kissen.
     "Schlaf gut, mein Junge, und träum was Schönes."
     Sie zog die Bettdecke über mir gerade, drückte mir einen endlosen Kuss auf die Stirn, machte die Nachttischlampe aus und huschte auf Zehenspitzen aus dem Raum, die Tür behutsam hinter sich schließend.

Teil 2