Vorgeblättert

Leseprobe zu Abbas Khider: Der falsche Inder, Teil 1

                                                       I

     »Intercity Express 1511, Berlin-München, über Leipzig, Bamberg, Nürnberg, Ingolstadt. Planmäßige Abfahrt 12 Uhr 57.« Unangenehm blechern die Stimme aus dem Lautsprecher. Ein kurzer Blick auf die große Uhr am Bahnsteig: 12.30. Eine knappe halbe Stunde noch. Ich deponiere meine Zeitung und den Kaffee-zum-Mitnehmen auf der Bank. Noch ein langer Blick durch den Bahnhof Zoologischer Garten.
     Alles leer. Für einen Moment das Gefühl, auf diesem Bahnhof mutterseelenallein zu sein. Die Menschen sind verschwunden, oder genauer, niemals da gewesen. Alles leer. Alles hell und sauber. Keine Züge, keine Reisenden, keine Lautsprecher. Nichts, nur ich und der leere Bahnhof Zoo, das große Nichts um mich herum. Wo bin ich eigentlich? Was mache ich hier?Wo sind die anderen? Solche Fragen wirbeln durch meinen Kopf wie Trommeln auf einem afrikanischen Fest. Alles leer wie eine endlose Wüste, nackte Berge oder klares Wasser. Aber auch unheimlich wie der Wald nach einem gewaltigen Gewitter. Und meine Fragen laut und dennoch leise, tönend und dennoch stimmlos.
     Dieses Gefühl dauert ein paar Minuten an, oder waren es mehr als nur ein paar Minuten? Nicht das erste Mal, dass ich die Orientierung verloren habe. Seit einigen Jahren schon erlebe ich ab und zu diesen Wahnsinn. Manchmal habe ich Angst, dass ich eines Tages aus solch einer Wüste in meinem Kopf nicht mehr zurückkehre.
     Gott sei Dank, die Bahnhofshalle ist noch da und auch die Sprüche an den Wänden: »Mein Spaßvogel ist in seinem Spaß verloren geflogen.« »Simone ist meine Maus.« Auch die Currywurst- und die Hotdogbude sind noch da, die Menschen?
     12.40 Uhr. Noch einmal ein Blick über den Bahnhof, aber diesmal ohne Begleitung einer afrikanischen Trommel. Der Bahnsteig voll. Reisende steigen ein oder suchen einen Ausgang. Einige rennen, um den Anschlusszug nicht zu verpassen. Eine Gruppe halbnackter Mädchen und Jungs mit kurzen Hosen und Sonnen-Tops schlendern langsam mit ihren Rucksäcken den Bahnsteig entlang. Beinahe wie eine Schulklasse. Die Mädchen lachen und beleben den Bahnhof mit ihren hellen, lauten Stimmen. Der Gruppe voran ein paar ältere Leute. Wohl die Lehrer. Mit ernsten Gesichtern. Fast alle ziehen schwarze Koffer auf Rollen hinter sich her.
     Überall auf dem Bahnhof Tauben. Sie haben sogar ihre Nester unter die Dachschräge der Bahnhofshalle gebaut. Eine männliche Taube verführt gerade eine weibliche. Das Männchen breitet seine Flügel aus, zieht sie hinter sich auf dem Boden her, schwänzelt um das Weibchen herum und flirtet mit ihm: »Bak, bak, bak, buk.« Das Weibchen stolziert vor ihm auf und ab wie eine Königin,mit hoch erhobenem Kopf.
     Mal bewegt es sich langsam, mal wieder schnell, was das Männchen besonders heiß macht. Nicht weit entfernt von der männlichen Taube versucht einer der Schuljungen, ein Mädchen anzumachen. Die so Umworbene lächelt und er schwänzelt tapfer um sie herum. Sie marschiert geradewegs Richtung Ausgang, er blindlings hinterher. Einer der Lehrer schreit ihm nach: »Lukas, komm zurück!«
     12.45 Uhr. Der Zug fährt ein. Ich finde schnell meinen reservierten Platz im Raucherabteil. Verstaue den Rucksack zwischen den Füßen. Lege ein Heft, ein Buch, eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug auf den Tisch und zünde mir eine Zigarette an?
     13.02 Uhr. Der Zug setzt sich etwas verspätet in Bewegung. Ich bemerke auf dem Nebensitz einen großen, dicken Umschlag. Anscheinend ein ganzer Stapel Blätter darin. Außen in schnörkeliger Handschrift auf Arabisch: »Erinnerungen«. Mein Platznachbar ist wahrscheinlich kurz auf der Toilette oder im Bordrestaurant. Bestimmt kommt er bald wieder zurück. Ich freue mich schon auf einen arabischen Gesprächspartner. Unter Umständen sogar ein Poet, oder zumindest jemand, der sich fürs Lesen und Schreiben interessiert.
     13.30 Uhr. Der Nachbar ist immer noch nicht da. Der kommt sicher bald. Wird seinen Umschlag doch nicht ewig hier liegen lassen. Wo mag er wohl herkommen? Es gibt so viele arabische Staaten. Hoffentlich aus einem Land, das ich gut kenne. Dann haben wir sicher viel zu plaudern.
     14.16 Uhr. Der Zug erreicht die nächste Haltestelle. »Nächster Halt Leipzig«, leiert die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Umschlag liegt immer noch da. Ein paar Leute steigen aus, andere ein. Ein Mädchen setzt sich mir gegenüber. Den Kopfhörer übergezogen, genießt sie den Lärm ihres MP3- Players. Ein Junge hockt sich neben sie und schaltet sein Notebook ein. Eine Dame mit kurzem, blondem Haar, das Handy am Ohr, schickt sich an, direkt an meiner Seite Platz zu nehmen. Sie greift nach dem Umschlag, schaut mir vorwurfsvoll ins Gesicht, legt mir den Umschlag auf den Schoß, lässt sich lässig in den Sitz fallen und telefoniert in aller Seelenruhe weiter.
     Was sollte denn das? So eine Gans! Dieses rücksichtslose Verhalten mancher Leute ist einfach einzigartig. Soll ich ihr sagen, dass mir der Umschlag nicht gehört? Gott! Sie telefoniert immer noch! Sie ist wohl so um die fünfzig. Sieht aus wie viele Damen in diesem Land. Ein Anflug von Lippenstift, Rock, Bluse, eine winzige Minihandtasche, die eher zu einer Bienenkönigin zu passen scheint. Und schwarze, hochhackige Schuhe. Unberechenbar, solche Frauen. Besser ruhig Blut?
     14.20 Uhr. Der Zug fährt langsam an. Ich nehme den Umschlag vorsichtig in die Hand, verlasse das Abteil und suche das Zugcafe. Die hübsche junge Kellnerin serviert mir rasch einen großen Kaffee. Vor mir auf dem kleinen Tisch der Umschlag. Eine schwierige Entscheidung. Soll ich ihn als Fundstück beim Zugpersonal abgeben? Aber meine Neugier ist einfach zu groß. Ich beschließe, den Umschlag zu öffnen und zu lesen, bevor ich ihn eventuell weitergebe.
     Durch das Fenster des Zugs leuchtet das Flaschengrün der Landschaft in der Sonne. Ich schlürfe langsam meinen Kaffee. Zünde mir eine Zigarette an. Mustere die Kellnerin. Sie ist jung, zwischen achtzehn und zwanzig. Die Haare rot gefärbt, trägt sie die blaue Jacke der Deutschen Bahn, darunter eine Jeans und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift »Sexy Girl«. Unter dem Schriftzug zeichnet sich ein kleiner, fester Busen ab.
     Ich nehme meinen Kaffee und den Umschlag und gehe wieder zurück zu meinem Platz im Abteil, wo die Dame immer noch telefoniert, der Junge immer noch auf seinem Notebook herumhackt und das Mädchen sich immer noch von seiner MP3-Musik berieseln lässt.
     14.45 Uhr. Der Zug fährt weiter.
     Ich mache den Umschlag auf.

Teil 2