Vorgeblättert

Leseprobe zu Alina Bronsky: Scherbenpark, Teil 1

»ICH!« quietscht Alissa durch das ganze Treppenhaus. »Ich! Ich! Ich!«
     Um Alissa mache ich mir keine Sorgen. Sie ist voll dabei, seit sie sich auf die Welt gedrängt hat. Sie ist im Krankenwagen geboren, weil meine Mutter es nicht in die Klinik geschafft hat. Ein rotes, schreiendes Bündel mit pechschwarzem Haarschopf und von der ersten Minute an verblüffend aufmerksamem dunkelblauen Blick. Bildhübsch und energiegeladen. Ich habe sie, die gerade Geborene, in den Armen gehalten, während meine Mutter, die so urplötzlich nicht mehr schwanger war, mit dem Aufzug wieder hochfuhr und sich in ihr Bett legte. So glücklich habe ich sie danach nie mehr gesehen.
     »Ein Mädchen, Sascha«, hat sie die ganze Zeit wiederholt. Sie wollte sich vorher nicht sagen lassen, was sie bekommt. Sie war wie besoffen vor Glück. »Weißt du, Sascha, ich habe es nie gesagt, aber ich habe mir so sehr noch ein Mädchen gewünscht. Mädchen haben es leichter im Leben.«
     »Da bin ich mir nicht so sicher«, habe ich gesagt und Alissas runzliges rotes Gesicht betrachtet. Und Alissa betrachtete mich, prüfend, skeptisch. Und wenn man sie in ihr Bett legte, dann machte sie die Augen zu und riss den Mund auf und brüllte den Solitär zusammen.
     »Schon okay«, habe ich gesagt, »bleib liegen. Ich kann sie halten. Sie ist gern bei mir.«
     »Ich will auch mal«, hat meine Mutter gesagt. »Gib sie her. Gib sie her, sagte ich. Hallo, wer hat sie geboren, du oder ich?«
     Sie wollte niemals abgelegt werden, meine kleine Schwester. Innerhalb weniger Tage richteten sich alle nur noch nach ihren Wünschen. Selbst Vadim überwand seine Enttäuschung darüber, auch diesmal keinen anständigen Stammhalter bekommen zu haben, stellte den Fernseher leiser, trug Alissa umher, bis sie die Windeln voll hatte - »Kinderscheiße ist nichts für einen Mann« -, entdeckte seinen Großvater in ihren winzigen Gesichtszügen, nannte sie »meine Prinzessin« und »Schnuckelhäschen« und kaufte ihr schon mal eine Puppe im rosa Kleid.
     Ich puste auf den Zeigefinger und lege ihn auf den Klingelknopf.
     Ich freue mich drauf, Alissa gleich wiederzusehen.
     In der Tür steht Peter der Große. Ich habe nicht vergessen, dass die kleine Katja seine Schwester ist. Ich habe einfach nicht darüber nachgedacht.
     »Hi«, sage ich, und er nickt und lässt mich in die Wohnung.
     »Eure Kleine«, sagt er anstelle einer Begrüßung, »ist wie eine Sirene. Mir klingeln die Ohren.«
     Er stützt sich mit dem ausgestreckten Arm an der Wand ab und mustert mich von oben nach unten und wieder zurück. Sein Gesichtsausdruck ist undurchdringlich.
     Ich sehe nicht weg. Das fehlte noch.
     Er ist wirklich riesig. Zwei Meter Muskeln und Pickel, Adrenalin, Testosteron und Klebstoffdämpfe, merkwürdig eng sitzende Jeans, weißes Unterhemd. Marlon Brando im Russengetto. Lange schwarze Wimpern, die seinem Gesicht eine feminine Note verleihen. Wahrscheinlich hebt er deswegen so verbissen Gewichte. Hellblaue Augen, rote Lippen, die sich leicht kräuseln, eine dicke Goldkette um den Hals und eine noch dickere ums Handgelenk. Ein fetter Ring am kleinen Finger und Tätowierungen auf den Oberarmen. Die obligatorische nackte Frau ohne Kopf und ein Adler und Symbole, die ich nicht kenne.
     Nein, kein Klebstoff, denke ich. Er hat dafür zu klare, berechnende Augen. Höchstens mal ein Bierchen und ein Joint, aber nur am Wochenende. Er kann es sich leisten, da zurückhaltend zu sein. Und wahrscheinlich noch Eiweißdrinks und Vitamintabletten.
     Er ist jünger als ich, denke ich. Er ist, glaube ich, erst sechzehn.
     Es gibt verdammt viele sechzehnjährige Jungs auf dieser Welt.
     »Wie geht’s?« fragt er.
     »Ganz okay«, sage ich. »Und selbst?«
     Eine Tür fliegt auf, und Alissa stürzt heraus. Sie schiebt einen Puppenwagen, in dem drei Barbies liegen, sieht mich und stößt einen Begrüßungsschrei aus und schiebt den Wagen an mir und Peter vorbei um die Ecke.
     »Katja, komm«, schreit sie. »Jetzt komm endlich.«
     Katja kommt. Sie ist ein Jahr älter als Alissa, sie ist schon fünf, ihr Gesicht ist rund, und ihre Strumpfhose ist rosa und verdreht. Und außerdem zu eng. Katja ist eines dieser dicken Kinder, die regelmäßig Schlagzeilen machen. Ich habe sie selten ohne einen Schokoriegel gesehen. Auch jetzt ist ihr Mund braun verschmiert. Alissas allerdings auch.
     »Hallo, Katja«, sage ich, und sie zuckt erschrocken zusammen und starrt mich an. »Was spielt ihr so?«
     »Weiß nicht«, flüstert sie.
     »Wie - weißt du nicht? Du bist doch dabei.«
     »Formel 1«, schreit Alissa aus einem anderen Zimmer. »Wir spielen Formel 1. Katja, jetzt komm endlich.«
     Katja steckt den Daumen in den Mund. Ihre Augen sind wässrig blau wie bei Peter. Im blonden Haar stecken ungefähr 26 Haarspangen.
     Ich zwinkere ihr zu. Sie nimmt die Hand aus dem Mund und versteckt sie hinter dem Rücken.
     »Warum kommst du nicht mal zu uns?« frage ich. »Ich glaube, Alissa würde sich freuen.«
     Katja schweigt und sieht kurz zu Peter rüber. Peter betrachtet mich von oben und sagt ebenfalls nichts.
     »Darf nicht«, flüstert Katja.
     »Wieso darfst du nicht?« frage ich. »Wer sagt das?«
     »Mami«, sagt Katja.
     Ich hebe den Kopf und treffe Peters Blick.
     »Warum darf sie nicht?« frage ich. »Denkt deine Mutter, wir fressen kleine Kinder?«
     Peters Mundwinkel fährt nach oben. »Was weiß ich«, sagt er. »Von mir aus soll sie zu euch. Dann habe ich hier meine Ruhe.«
     »Ich darf nicht«, sagt Katja hartnäckig.
     Ich hocke mich vor sie hin. »Ich frag deine Mami, ob du darfst, in Ordnung?«
     Sie nickt zaghaft. Dann noch mal, heftiger. »Ich will Alissas Roboter sehen«, sagt sie.
     »Ich frag deine Mutter«, wiederhole ich. »Wann kommt sie heim?« Das frage ich Peter.
     »Vergiss es«, sagt Peter und streckt sich und berührt dabei die Decke. »Sie kommt um sieben, aber das kannst du dir echt sparen.«
     Ich richte mich auf. Ich strecke mich ebenfalls, so weit es geht, trotzdem reiche ich ihm gerade mal bis zur Schulter. »Wieso?« frage ich scharf. »Was haben wir deiner Mutter getan?«
     »Du weißt doch, wie die Alten sind«, sagt Peter. »Sie hat halt Angst. Sie war an dem Abend zu Hause, als es bei euch geknallt hat. Ich hab’s ja schon kaum glauben können, dass euer Zwerg überhaupt zu uns kommen darf. Die Alten sind feige und blöd.«
     »Es war Vadim«, sage ich. »Vadim hat geschossen. Nicht ich. Nicht Maria. Warum darf Katja nicht kommen?«
     Peter zuckt mit seinen monumentalen Schultern.
     »Mir isses eh scheißegal«, sagt er. »Meine Mutter sagt, im elften Stock riecht es immer noch nach Unglück. Sie ist halt ein bisschen daneben. Wenn sie eine schwarze Katze sieht, dann spuckt sie dreimal über die linke Schulter, damit ihr ja nichts passiert.«
     »Ist es deswegen?« frage ich. »Nur, weil sie abergläubisch ist?«
     »Weißt du«, sagt Peter, »ich habe sie nie danach gefragt. Aber an eurer Stelle würde ich aus der Wohnung ausziehen.«
     »Wieso?«
     »Weil dort die Luft vergiftet ist. Im achten Stock ist vor neun Jahren einer erstochen worden, da wart ihr noch nicht da, da ist bis heute nur eine Wohnung vermietet.«
     »Das ist doch nicht dein Ernst.«
     »Man sieht doch bis heute die Blutflecken vor eurer Tür.«
     »Das ist Dreck.«
     »Erzähl mir was.«
     »Wenn dein Vater deine Mutter umbringt«, sage ich, »würdest du dann ausziehen? Aus der Wohnung, in der du mit ihr gelebt hast? Wo dein Zuhause war? Und ihr letztes Zuhause? Würdest du dann abhauen?«
     »Meiner Mutter«, sagt Peter, »würde so etwas bestimmt nicht passieren.«
     Da tut es mir plötzlich weh. Ich verstehe erst nach einer Sekunde, dass es daher kommt, dass sich meine Fingernägel in den geballten Fäusten in die Haut geritzt haben. Es sind mehrere halbmondförmige rote Einschnitte.
     »Deiner Mutter«, wiederhole ich. »Nein, ihr würde das wahrhaftig nicht passieren.«
     »Was?« fragt Peter. »Was meinst du damit?«
     »Und was hast du vorhin gemeint?« frage ich.
     Und dann denke ich, dass er klüger ist, als ich dachte. Er antwortet nämlich nicht.
     Die Kinderstimmen sind verstummt. Und da höre ich die Musik, die aus Peters Zimmer durch die geöffnete Tür drängt. Ich kenne diesen Song.
     Der betrunkene Arzt
     hat gesagt,
     dass es dich
     nicht mehr gibt.
     Die Feuerwehr meinte,
     dein Haus
     ist abgebrannt.
     »Nein«, sage ich. »Du hörst Nautilus Pompilius?«
     »Was soll ich denn sonst hören?« fragt Peter feindselig. »Die Lollipops? Was ist mit dir?«
     Mit mir ist nichts. Ich stehe da, versuche zu atmen, alles zerfließt vor meinen Augen.
     »Du hörst das?« wiederhole ich sinnlos.
     »O Mann«, sagt Peter genervt. »Nein, ich höre das nicht. Ich esse das.«
     Es ist ein Lied, das wie ein Schlag in die Magengrube ist.
     Es kann nicht sein, dass Peter die längst vergessene Musik einer alten Gothic-Band vom Ural einlegt, denke ich. Meine Mutter hat sie gemocht, sie hat viel Pop und Rock gehört, Chansons und Musicals und Opern, sie hat nie in Schubladen gedacht.
     Wie kann es sein, denke ich, dass Peter in dieser Wohnung, die nach Kohl riecht, die blitzblank gescheuert ist, in der auf jedem Schrank ein Spitzendeckchen liegt, auf den Fensterbänken die Alpenveilchen blühen, an den Wänden Nachdrucke hässlicher rosiger Kinderporträts hängen, drei Bilder für sechs Euro im benachbarten Supermarkt, wo rot karierte Vorhänge an den Fenstern flattern, dass in dieser Wohnung diese Musik gespielt wird?
     Im fremden Zimmer
     mit weißer Decke
     ein Recht auf Hoffnung
     und der Glaube
     an die Liebe.
     Ich fixiere die karierten Vorhänge.
     Wir hatten nie Vorhänge. Meine Mutter hat sie gehasst. Wahrscheinlich war es das Einzige, das sie wirklich kategorisch abgelehnt hat. Sie wollte die Fenster offen haben. Die Sonne sollte rein. »Lass die Sonne rein, denn es wird Regen geben« - meine Mutter hat selbst die »Fantastischen Vier« gemocht. Als Maria kam, hat sie als Erstes Vorhänge genäht, so ganz quietschbunt, mit großen Blumen, und sie befestigt und zugezogen.
     Dann kam ich von der Schule, und sie hat sie ganz schnell wieder abgehängt. Hat dann eine Bluse für sich daraus genäht und eine für Alissa.
     Alissas Bluse hat sie dann ganz schnell in drei Puppenkleider umgewandelt.
     Der betrunkene Arzt
     hat gesagt,
     dass es dich
     nicht mehr gibt.
     Peter streckt den muskelbepackten Arm aus und tippt mit dem Zeigefinger auf meinen nackten Oberarm.
     »Was?« frage ich und gehe einen Schritt zurück.
     »Warum kommst du nicht mal mit in den Scherbenpark?« fragt er, ohne mich anzusehen. »Du weißt schon - unter den Eichen.«
     »Wo ihr euch besauft und bekifft und wo sich drei deiner Kumpels im Gebüsch ein Mädel teilen? Was soll ich da?«
     »Na ja … Eben das.«
     »Ich verzichte.«
     »Das stimmt nicht, dass sich drei eine teilen, wo hast du das her? Das war nur zweimal, und sie wollte das echt selber.«
     »Also, ich will das nicht.«
     »Hast du Angst?«
     Ich gehe ganz nah an ihn ran und stelle mich auf die Fußspitzen.
     »Merk dir was«, sage ich. »Ich. Habe. Niemals. Angst.«
     »Dann komm doch. Wo ist dann das Problem?«
     »Ihr ödet mich an. Das ist das Problem.«
     »Ah«, sagt er ruhig und beugt den Kopf. »Du willst was Besseres.«
     »Genau«, sage ich und beobachte, wie sich sein Gesicht verändert. Als wäre er gestochen worden.
     Dann bringt er seine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle.
     »Das würde ich an deiner Stelle nicht sagen«, spricht er langsam aus. »Das könnte sich rächen.«
     »Ich habe schon die Hosen voll. Vor Angst.«
     »Sehr klug von dir.«
     »Alissa«, sage ich laut. »Wie lange soll ich noch auf dich warten? Ab nach Hause.«
     Keine Antwort.
     »Fickt er gut?« fragt Peter plötzlich und sieht mir genau ins Gesicht.
     »Wer?« frage ich erstaunt.
     »Der reiche Daddy, den ich hier einmal gesehen habe. Der dich mal hier abgesetzt hat. So ein alter Knacker mit grauen Haaren. Ich weiß doch, wie du bist. Du tust so, als wären wir alle der letzte Dreck. Und in Wirklichkeit bist du die schlimmste Schlampe von allen. Fickt er gut?«
     »O ja«, sage ich. »Ganz wunderbar. Ich kann es kaum aushalten bis zum nächsten Mal. Alissa! Ich gehe!«
     Sie schießt um die Ecke und umklammert meine Hand mit ihren heißen klebrigen Fingern.
     »Das Armband kannst du behalten«, sagt sie zu Katja, die ihr ein wenig lethargisch hinterherwinkt. »Das schenke ich dir. Wer ist Vadim?« fragt sie im Aufzug. »Halt! Lass mich drücken!«
     »Vadim?« frage ich und hebe sie hoch, damit sie an die Knöpfe drankommt. »Niemand.«

Teil 2