Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von György Dalos: Balaton-Brigade. Teil 1

09.03.2006.
Spaziergang 1

Die Geschichte, die ich dir erzählen will, Hugo, ist nur für dich bestimmt. Nur dir kann ich sie erzählen, beim Spazierengehen, beiläufig auf der Straße, ohne Blickkontakt.
     Diese Geschichte begann an einem Samstag, am 5. November 1988. Kann sein, daß dieses Datum für jemand anderen bedeutungslos ist, aber nicht für mich. Natürlich kann man jede Geschichte bei Adam und Eva beginnen, aber bei dieser hier bleibt mir beim besten Willen nichts anderes übrig. Außerdem glaube ich, daß du lange Erzählungen verkraften kannst. Und daß du mein Vertrauen verdient hast. Also: Es geschah an einem Samstag, an einem Spätnachmittag, am 5. November 1988 kurz vor halb sechs. Den Zeitpunkt weiß ich deshalb so gut, weil er sich mit einem Wendepunkt meines Lebens verbindet. Aber über mein Gedächtnis hatte ich noch nie Grund, mich zu beklagen. Auf die Minute genau kann ich das allerdings nicht mehr sagen, denn kurz zuvor hatte ich etwas mehr getrunken als sonst.
     Ja, Hugo, du hast recht, wir können etwas langsamer gehen. Ich werde immer gleich schneller, wenn ich über etwas rede, was mich beschäftigt.
     Getrunken hatte ich - übrigens armenischen Fünf- Sterne-Cognac -, weil bei der Firma eine Betriebsfeier zu Ehren der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution stattgefunden hatte, und der Tag fi el außerdem mit meinem 25. Dienstjubiläum zusammen. Zu diesem Anlaß überreichte mir Major Frickhelm in Anwesenheit der Diensteinheit den Vaterländischen Verdienstorden in Silber, und gleichzeitig verkündete er, der Genosse Armeegeneral hätte mich zum Hauptmann befördert. Die Beförderung war mit einem außergewöhnlich wichtigen Auftrag verbunden: Ab Sommer des nächsten Jahres sollte ich die Sicherheitsarbeit am Nordufer des Balaton gewährleisten. Gleichzeitig verkündete er, daß man mir als Stellvertreter und auch als persönlichen Chauffeur zur Unterstützung der Erfüllung meiner Dienstpfl ichten den Genossen Bönicke zugeteilt hätte.
     All dies hatte bereits seit Wochen in der Luft gelegen und kam für niemanden überraschend, aber dennoch freute ich mich richtig darüber, daß sie der Sache einen solch feierlichen Rahmen gaben. Damals waren wir noch wie eine große Familie. Allerdings verhalten sich die Menschen auch in Familien unterschiedlich zueinander. Als zum Beispiel Major Kuschel, der Chef des Standorts Keszthely, mir gratulierte, konnte ich sicher sein, daß seine freundschaftliche Umarmung ehrlich gemeint war: Er freute sich wirklich über meine Beförderung. Seine Ehefrau Jelena, unsere russische Übersetzerin, die uns auf der Feier mit selbstgemachten Pelmeni überraschte, brach vor lauter Rührung gar in Tränen aus.
     Hauptmann Höcker, unser Mann in Siofok, reichte mir hingegen wenig begeistert die Hand. Man konnte ihn verstehen: Er hatte den gleichen Auftrag wie Kuschel und ich, aber einen niedrigeren Rang. Sein kühles Verhalten ärgerte mich, aber er war mir immer noch sympathischer als dieser Leutnant Bönicke, der von einem Ohr zum anderen grinste, dabei vor Neid fast platzte und außerdem die ganze Zeit Major Frickhelm um den Bart ging. Dieser schleimige Kerl, zwanzig Jahre jünger als ich, nahm mir offensichtlich übel, daß er die ersehnte Entsendung zum Balaton nur als mein Untergebener erhalten hatte.
     Abgesehen von diesen wenig angenehmen Begleiterscheinungen gefiel mir die Feier sehr gut. Trotzdem trank ich nur wenig, denn ich hatte für den Abend Roswitha und Tamara in das Restaurant Moskwa eingeladen, damit wir die Beförderung gemeinsam feiern konnten. Ich hatte sogar einen ganzen Tisch vorbestellt, damit uns der Ober nicht mit jedem Nächstbesten zusammensetzen konnte. Warte ein bißchen, Hugo, die Ampel ist doch schon rot. Du brauchst dich nicht zu beeilen, wir haben jede Menge Zeit.
     Gegen Ende der Feier, die ungefähr eine Stunde dauerte, war ich in ausgezeichneter Stimmung - wäre ich pathetisch, dann würde ich sagen, ich schwebte an diesem Nachmittag auf einer Wolke des Glücks. Aber wie du weißt, ist mir jedes Pathos fremd, und während ich mich noch über die Entsendung freute, fand ich gleichzeitig, daß die Beförderung und auch der Kampfauftrag bei meinen Verdiensten eher eine Selbstverständlichkeit waren. Mit vierundfünfzig Jahren hatte ich nun endlich das erreicht, was anderen bereits viel früher zugefallen war: die zu mir passende Aufgabe im angemessenen Rang. Die Arbeit als Aktenwurm hatte mich schon lange angeödet. Ich hatte immer nur die langweiligen Berichte der anderen zu lesen, oder ich mußte das konfuse Zeug der Inoffi ziellen Mitarbeiter und Kontaktpersonen zu verständlichen Berichten zusammenfassen.
     Du weißt, daß ich kein Angeber bin, aber den Balaton kannte ich inzwischen besser als alle, die unsere Vorgesetzten bisher für die operative Sommerarbeit als geeignet betrachtet hatten. Das sage ich, obwohl ich vor Übernahme dieser Aufgabe noch nie am Plattensee gewesen war und in den letzten Jahrzehnten auch kaum mal nach Ungarn gereist bin. Einmal habe ich im Frühjahr 1981 eine Dienstreise dorthin gemacht. Ich mußte zur Budapester Vertretung des DDR-Reisebüros, um die Sicherung der Sommersaison abzusprechen. Zum See haben sie mich leider nicht geschickt, und einfach privat hinreisen durfte ich nicht - das habe ich dir ja schon mal erzählt, Hugo. Und dann war ich erst wieder neulich in Ungarn, lange nach der Wende, in meinem Geburtsdorf Csalanyos, zu Vaters Beerdigung. Aber bereits seit Gründung der Balaton-Brigade hatte ich die per Kurierpost zu mir gelangten Materialien immer sehr gründlich gelesen, mindestens genauso intensiv, als wären sie Nachrichten von meiner Familie oder von Zuhause. Bei manchen Fotos oder ausführlichen Schilderungen hatte ich ein sehr bitteres Gefühl. Um wieviel besser und nützlicher hätte ich die Sommermonate dort verbringen können, statt in dieser öden Kaserne, in der wir als Untermieter der Nationalen Volksarmee untergebracht waren! Für den Balaton-Einsatz hielt ich mich schon deshalb für besonders geeignet, weil Ungarisch meine Muttersprache ist. Aber ich glaube, Hugo, nach unserer manchmal etwas krausen Logik mußte ich wahrscheinlich genau aus diesem Grund so lange auf meine Entsendung nach Ungarn warten.
     Diese Logik, wenn auch im Ganzen akzeptabel, sorgte in Einzelfällen für unverständliche Situationen. Zum Beispiel kann ich bis heute nicht begreifen, warum ausgerechnet wir, die Mitarbeiter der Abteilung Auslandstourismus / Sozialistischer Wirtschaftsbereich, nicht bei den Genossen in Lichtenberg arbeiten durften. Dort standen dem Dienst immerhin achtundvierzig vierstöckige Gebäude zur Verfügung, und dort gab es alles: eine riesengroße Kantine, ein Einkaufszentrum und eine Poliklinik. Aber deshalb mußt du noch lange nicht an irgendwelchen westlichen Luxus denken. Das Sortiment war dasselbe wie draußen, aber man brauchte nicht Schlange zu stehen, konnte in der Kantine zwischen drei Menüs wählen, und wenn man krank war, wurde man gründlich untersucht. Bis heute kann ich nicht verstehen, warum man uns von der Zentrale ferngehalten hat. Selbstverständlich erledigten wir unsere Arbeit auch in der Außenstelle gewissenhaft. Wir fühlten uns aber wie in der Verbannung, denn das war kein Haus, das diesen Namen verdiente, sondern ein monströses Gebäude mit kalten, langen Wänden, widerhallenden Korridoren und steifen, aufgeblasenen Armeeoffi zieren, von denen man im Aufzug mißtrauisch gemustert wurde. Zudem hielten sich sämtliche Entscheidungsträger in der Zentrale auf, und Major Frickhelm beklagte sich, daß er wegen allerlei hanebüchener Angelegenheiten ständig dorthin beordert wurde. Warum das so war, habe ich nie erfahren, und es hatte noch nie zu meinen Gewohnheiten gehört, viele Fragen zu stellen. Ich tat einfach, was getan werden mußte - wegen der Gesinnung, der Ehre und der Treue. Und ausgerechnet über Treue muß ich doch dir, Hugo, keine Vorträge halten.

Teil 2