Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Janos Sekely: Der arme Swoboda. Teil 1

20.02.2006.
Swoboda bedeutet auf Tschechisch Freiheit.
Bei der über Jahrhunderte unterdrückten Bevölkerung Böhmens und Mährens ist dieser Name ebenso geläufig wie in Deutschland die Namen Müller und Schmidt.



1. Kapitel

"Glücklich sind die Einfältigen"

Swoboda war der Gepäckträger des Städtchens. Wenn es stimmt, daß Angebot und Nachfrage einander bedingen, dann mußte seine Existenz allerdings als ökonomische Anomalie bezeichnet werden. Nur zwei Züge täglich hielten in der kleinen Provinzstadt, zwei rauchende, rußige, klepprige, im Schneckentempo keuchende Lokalzüge, und sie wurden hauptsächlich von Pendlern benützt, die mit dem Sechs-Uhr-vierzig zur Arbeit in die nächstgelegene Industriestadt fuhren und mit dem Neunzehn-Uhr-zehn zurückkehrten, ohne Gepäck, versteht sich. Andere Passagiere gab?s kaum. Höchstens hin und wieder ein älteres Ehepaar, das seine Kinder in der Stadt besuchte, oder junge Leute, die zu ihren Eltern fuhren. Lauter Verlustgeschäfte für den Dienstmann: denn die hatten meistens bloß eine Papiertüte mit Geschenken dabei. Touristen und heimliche Liebespaare waren ebenfalls Ausfälle. Erstere buckelten Rucksäcke, während die Wochenend-Liebespaare für zwei Pyjamas und einen Rasierapparat kaum einen Dienstmann brauchten. Swobodas einzige potenzielle Kunden waren griesgrämige, in dynamischeren Märkten erfolglose Handelsreisende, die, volle Musterkoffer schleppend, ihr Glück in der Provinz versuchten.
     Dennoch war Swoboda schon fast seit einem Vierteljahrhundert Dienstmann, ein Phänomen, das sich nur durch seine beispiellose Einfältigkeit erklären ließ. Swoboda gehörte zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Ja, man führte ihn sogar mit fast väterlichem Stolz den Gästen vor, die ob soviel heiliger Einfalt aufrichtig staunten. Zugegeben, er war auch ein seltenes Exemplar: Ein fast zwei Meter großer Hüne, muskulös und massig wie ein Ochse, mit babyblauen Kinderaugen, die treuherzig aus den tiefen Augenhöhlen guckten wie ein fröhliches Sperlingspärchen, das sein Nest in eine gefährliche Klippe gebaut hat: Die stark hervorstehenden Wangenknochen fielen in einem rechten Winkel steil bis zum klobigen Kinn ab; darüber wucherte ein dichter, zausiger, brandroter Haarschopf. Swoboda hätte seine verfilzten Locken niemals einem Barbier anvertraut, nikdy-niemals! Er stutzte sie selbst alle drei Monate mit der großen Schere des Bahnhofsvorstehers.
     Er hieß eigentlich gar nicht Swoboda. Jemand hatte ihn zum Spaß so genannt, als vor vielen Jahren in der Gegend ein Mörder namens Swoboda gesucht wurde. Der Name war an ihm haften geblieben, was als zusätzlicher Beweis seiner Beschränktheit gedeutet wurde.
     Er war in der tiefsten Slowakei geboren worden, wo sich die die Bauern jahraus-jahrein von Kartoffeln ernähren und Tuberkulose und Kropf üppig gedeihen wie winterharte Pflanzen in fetter Ackerkrume. Er war in einem Runkelfeld gezeugt worden und hatte seinen Vater nie gekannt. Seine Mutter erzählte aber oft von ihm: "Ward ne brave Bursch, tvuj Papinek", seufzte sie dann. No-jo, eines Tages würde er bestimmt zurückkommen. Swobodas Vater war nämlich Flußschiffer gewesen, doch die Strömung hatte seine Zille weit-weit in die Ferne getrieben, "no-jo, no-jo." Swoboda liebte seine Mutter über alles - "muj Mamiiinka", wie er sie in seiner breiten böhmakelnden Mundart nannte. Er redete ständig von ihr, "Mamiiinka habts gsagt, Mamiiinka habts gmacht." Zwar wurde niemand klug aus seinen wirren Geschichten, aber sie waren bestimmt herzergreifend, denn er fügte jeweils schniefend hinzu: "Arme Mamiiinka, täts heut noch lebn, wärs Zugluft net gwesn."
     Seine panische Angst vor Zugluft gab Anlaß zu ständigen Witzelen. Wenn der Bahnhofsvorsteher nicht da war, ließen die trödelnden Angestellten Türen und Fenster sperrangelweit offenstehen und riefen nach Swoboda, nur um ihn Hals über Kopf flüchten zu sehen.
     Swoboda war vierzehn, als "Mamiiinka" starb. Das war 1905 gewesen. Glückliche Zeiten, wie die Geschichtsschreiber der Habsburger Monarchie behaupten. Die einfache Bevölkerung hingegen muß wohl Scheuklappen getragen haben, denn sie vermochte weit und breit nicht zu sehen, wie glücklich sie war. Ein Jahr nach "Mamiiinkas" Tod, in jenen himmlischen Zeiten des Friedens und des Wohlstands, wäre das Waisenkind beinahe verhungert. Holzfäller fanden den Jungen im Wald, blutig verprügelt von einem zornigen Gutsbesitzer, der ihn beim Aprikosenstehlen erwischt hatte. Danach nahm ein gütiger Bauer den Knaben bei sich auf und ließ ihn zehn Stunden am Tag arbeiten für einen Kanten Brot und das Privileg, neben den Kühen im Stall zu schlafen.
     Als Swoboda das Wehrdienstalter erreichte hatte, bekundete der Staat zum ersten Mal Interesse an ihm, schenkte ihm ein Gewehr und sorgte für sein leibliches Wohl in der Hoffnung, eine nützliche Begabung zu fördern, die, sollten die Zeiten es erfordern, aus ihm einen Mörder machen würde. Die Investition zahlte sich aus. Zwei Jahre später brach der Krieg aus, und es herrschte große Nachfrage an Knallköpfen. Swoboda erwarb sich einen ganzen Strauß an Auszeichnungen; 1915 traf ihn jedoch ein Schrapnell. Er wurde mit achtzehn Splittern im Körper in die Heimat zurückverfrachtet. Als die meisten entfernt waren und die Wunden mehr oder weniger verheilt, schickte man ihn in ein Soldatenheim in der kleinen Provinzstadt.
     Zum ersten Mal in seinem Leben unbeschäftigt, langweilte sich Swoboda zu Tode. Er trieb sich immer öfter im Bahnhof herum, denn die Eisenbahnen hatten es ihm angetan, erinnerten sie ihn doch daran, wie sein Soldatenleben begonnen hatte. Als er nun eines Tages auf dem Bahnsteig hockte, bat ihn ein neuankommender Rekonvaleszent, ihm doch bitte sein Gepäck zu tragen. Was Swoboda bereitwillig tat und für seine Mühe eine Krone bekam. Am nächsten Tag bot er also seine Dienste weiteren Neuankömmlingen an. Von da an war Swoboda der Gepäckträger des Städtchens.
     Die Jahre vergingen. Das Gemetzel wurde vorübergehend eingestellt. Das Soldatenheim wurde aufgegeben, und die Stadt hatte keine ersichtliche Verwendung für einen Dienstmann. Swoboda blieb trotzdem am Bahnhof. Warum? Weil er nun einmal da war, ganz einfach. Hätte der Zug ihn woanders abgesetzt, wäre er eben woanders geblieben.
     Hier war er, und hier blieb er. Und weil ein Mann essen muß, verdiente er sich auch recht und schlecht seinen Lebensunterhalt. Seine Unbedarftheit kam ihm dabei sehr zustatten. Ein Mann mit auch nur einer Unze Verstand hätte seine Kräfte dazu verwandt, Geld für die Miete beschaffen, zum Beispiel. Swoboda legte keinen Wert auf eine Wohnung, also hatte er auch keine Probleme mit der Miete. Als das Soldatenheim endgültig die Tore schloß, schulterte Swoboda seinen Koffer, der seine ganze irdische Habe enthielt, brachte ihn zum Bahnhof, gab ihn bei der Gepäckaufbewahrung ab und richtete sich im Wartesaal häuslich ein. Jeden Abend, wenn der Neunzehn-Uhr-zehn durch war und die Bahnhoflampen auf Nachtbeleuchtung geschaltet, streute Swoboda frisches Heu auf den Fußboden und legte sich zum Schlafen nieder. Er schlief so tief, daß der Nachtexpress nach Prag ihn in den ganzen zwanzig Jahren kein einziges Mal geweckt hatte. Und wenn morgens die Sechs-Uhr-vierzig-Pendler erschienen, hatte er sein Lager bereits weggeräumt. Freilich benützten die Passagiere den Wartesaal nur notgedrungen, bei besonders schlimmem Wetter, denn Swobodas ganz besonderer Duft verzog sich nicht einmal im Sommer vollständig, auch wenn die Tür den ganzen Tag offenstand.
     Um Schneiderrechnungen brauchte Swoboda sich ebenfalls keine Sorgen zu machen. Die Anzüge, die er zum ersten Mal trug, waren gewöhnlich bereits zehn oder fünfzehn Jahre früher bezahlt worden. Er bekam sie nicht etwa unentgeltlich. O nein! Dies nun doch nicht! So verschwenderisch war niemand in der Stadt. Swoboda arbeitete hart für seine Garderobe. Wenn ein großer Hausputz bevorstand, schickte man das Hausmädchen nach ihm. Mit der Zeit brachte er es im Teppichklopfen zur Meisterschaft und auch im Fußbodenschrubben und im Insektenvertilgen; er hatte sogar gelernt, selbständig die Vorhänge herunterzunehmen. Er spaltete das Anbrennholz in schön regelmäßige Scheite und nahm nach und nach dem Hausmädchen alle Arbeiten ab, die für es zu schwer waren.
     Sein Lohn bestand aus den Mahlzeiten, aus alten Schuhen, fadenscheinigen Hemden, verwaschenen Unterhosen ? Manchmal sogar aus einem abgewetzten Anzug oder einem verschabten Überzieher. Die kostbare Garderobe mußten natürlich hart erarbeitet werden, denn es gab kein Kleidungsstück, egal wie alt und schäbig es war, das für die knickrigen Bürger nicht mehr wert gewesen wäre als ein Tagelohn für Swobodas Hilfe. Waren keine alten Kleider da, drückte ihm der Hausherr ein paar Heller in die Hand, wofür Swoboda sich mit einem herzlichen "Dankserr" bedankte. Er umklammerte die Münzen, als hänge sein Seelenheil davon ab, hätte es aber für unter seiner Würde gehalten, das Geld in Anwesenheit seines Kunden zu zählen. Auch die Bahnangestellten trugen ihm Besorgungen auf, und Anfang des Monats, solange ihr Gehalt es noch zuließ, gaben sie ihm ein kleines Trinkgeld. Swoboda stand jedermann zu Diensten und bedankte sich für die kleinste Belohnung mit einem breiten, freundlichen Grinsen.
     Die Leute behandelten ihn wie ein großes, gutmütiges Trampeltier, und Swoboda schien das nicht weiter zu kümmern. Er war immer fröhlicher Laune und mit sich und dem Lauf der Welt vollauf zufrieden. Intelligenz, so zeigt sich immer wieder, ist eine weit überschätzte Eigenschaft. Zu einer Zeit, da intelligente Menschen zu Tausenden keinen anderen Ausweg aus ihrer finanziellen Misere sahen als in Gift, Stadtgas oder Pistole, ging es dem depperten Swoboda prächtig. Er fand, er hatte alles, was ein Mensch sich nur wünschen kann.
     Ja er hatte sogar ein Gschpusi, unser Swoboda! Und nicht etwa ein leichtsinniges slowenisches Luder, wie mancher vermutet hätte. So ungewöhnlich es klingen mag: die Dame seines Herzens verfügte über ein selbständiges Einkommen und besaß ein eigenes Haus. Das Haus, no-jo, war eine baufällige Kaluppe neben dem städtischen Müllablageplatz. Doch ein Haus ist ein Haus, und dieses war ihr Eigentum! Sie hatte die Kaluppe von ihrem verstorbenen Mann geerbt. Einst hatten ein Hof und etliche Hektar Land dazu gehört, aber der Mann war ein Säufer, und so waren Hof und Hektar den Weg alles Alkoholischen gegangen. Er war an Delirium tremens gestorben und hatte seiner Frau nur noch die heruntergekommene Pawlatsche zurückgelassen.
     Wie oft hatte seine brave Frau ihm gepredigt, wenn er sturzbetrunken nach Hause kam, es würde gerade noch soviel übrigbleiben, um auf der Müllhalde zu verhungern! Der Müll hatte offensichtlich ihre verbitterten Wort als Herausforderung verstanden und darum, der landläufigen Meinung zum Trotz, bewiesen, daß man auf einer Müllhalde sowohl verhungern als auch anständig von ihr leben kann. Alle paar Monate waren Fetzentandler und Straßenfeger aus der Stadt zum Müllabladeplatz hinausgefahren, um Lumpen, Glas, Metall, Holz und Kautschuk aus dem sich türmenden Abfall zu sammeln. All dieser Zinnober, hatte die Wittib von ihnen erfahren, ließ sich an die Altwarenhändler in der Industriestadt verkaufen. Als nun ihr Mann sie mittellos zurückließ, beschloß sie, die Goldgrube vor ihrem Haus selbst auszubeuten. Bei ihrem nächsten Besuch fanden die Fetzentandler und Straßenfeger nichts Brauchbares im Müll, denn alles Verkäufliche lag säuberlich aussortiert und gestapelt zum Abtransport im Hof der Wittib bereit. Zuerst gab?s ein Mordskrawall, doch schließlich mußten die Männer einsehen, daß sie auf den Müll nicht mehr Anspruch hatten als die Frau, und man einigte sich gütlich.

Teil 2