Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Natasha Radojcic: Du musst hier nicht leben. Teil 1

23.01.2006.
1

Was von den frühen Tagen geblieben ist, beginnt mit einem Bild meines Fußes. Er ist schmutzig und von der Hitze geschwollen. Er drückt in den Stuhl. Ein einfacher Stuhl, vier Beine und ein Sitz. Teil eines durchschnittlichen Wartezimmers. Das Wartezimmer ist in einem Irrenhaus. Mein anderer Fuß baumelt.
     Mutter spricht drinnen mit dem Spezialisten und dem Polizisten mit den vielen Streifen.
     Eine grauhaarige Frau sitzt mir gegenüber. Ihre Lippen schmatzen, artikulieren, Hilf mir, hilf mir bitte, jedes Mal, wenn ihr Pfleger wegschaut. Die Falten auf ihrem Gesicht sind tief und schmutzig. Ihre Augen beben vor Angst. Ich frage mich, wo ihre Familie ist. Dann kommt noch ein Pfleger, gefolgt von einer Frau mit einem strengen Dutt. Sie zwingen die grauhaarige Frau aufzustehen. Sie stolpert ein wenig, ihre Arme werden hinten zusammengehalten, und flüstert mir zu, Lass mich nicht allein, bitte, lass mich nicht allein.
     Ich habe Angst um sie, Angst, wohin sie sie wohl bringen. Aber ich weiß nicht, wie ich helfen kann. Sei vorsichtig, rufe ich ihr hinterher. Bleib trocken.

Ich bin fast fünfzehn. Ich bin ausgerissen, und Ausreißerkinder müssen vom Spezialisten untersucht werden. Der Polizist, der mich hergebracht hat, hat gefragt, warum ich weggerannt bin. Ich weiß nicht, habe ich gesagt. Ich wollte einfach nicht nach Hause. Ich saß am Bahnhof unter dem hin und her schwingenden Metallschild Gleis 8 und beobachtete die Soldaten, wie sie durch den Dampf liefen mit ihren großen Taschen voller Versprechen für unser Land, Jugoslawien.
     Vor Monaten hatte ich noch nicht existiert. Nichts von mir existierte. Nur meine langen Haare, die Schleifen, die ich darin trug. Mutter hat sie ausgesucht. Sie waren blau und gelb. Ich war fast den ganzen Tag in meinem Zimmer und las. Mutter kam abends nach Hause, legte sich in unser gemeinsames Schlafzimmer und seufzte über die Härte des Lebens, die rauchige Hitze des Klassenzimmers, in dem sie unterrichtete, und den Verrat meines Vaters. Dann flüchtete ich zum Fernseher.

Unser Fernseher ist schwarzweiß, peinlich. Wir sind der ärmste Teil unserer Familie. Armut bremst Mutter nicht. Sie kauft ein altes Klavier. Für ihr Mädchen, sagt sie. Für ihr süßes kleines Mädchen. Das Klavier ist Teil des Ehrgeizes, den sie für mich hat. Aus mir soll etwas werden. Sei eine Lady. Ich verabscheue das Instrument und streiche es mit billiger Wandfarbe weiß. Die dünne Schicht tropft in schwarzen und grauen Streifen herab. Sie sammelt sich in den Schnitzereien und wird zur Falle für eine unglückliche Fliege.
     Was hast du getan?, fragt Mutter und zeigt auf das langsame Flattern der sterbenden Flügel.
     Ich wollte ein weißes Klavier.
     Aber sieh doch! Es ist widerlich. Ich weiß, sage ich.

Ich habe Mutter nie wirklich verstanden. Auch nicht nach vielen Jahren, ihrem Tod, meiner Heirat, meiner Scheidung. Die Naivität, mit der sie das Leben verfolgte. Der dickköpfige Hunger nach meinem Vorankommen. Vielleicht war es die extreme Armut, in der sie aufgewachsen war, die sie formte und die ihr Narben gab. Sie war eine mittelmäßige Schülerin. Sie hatte nichts außer ihrer Schönheit, dieser kalten blassen Perfektion. Die ließ Männer ersterben. Nach ihrer Scheidung kamen sie vorbei und warteten auf ihr Zeichen zu bleiben. Jedes Zeichen hätte genügt. Aber sie gab keins.

Am Tag, bevor ich wegrannte, schlug ich die arme Yana, das hässlichste Mädchen der ganzen Schule. Die Passivität, mit der sie sich ihrem unschönen Körper ergab, machte mich wahnsinnig, die Stumpfheit in ihren Schlachthausaugen. Mit vierzehn hatte sie bereits kapituliert. Ich schlug sie mit meinen Fäusten, zog sie an den Haaren und bespuckte sie. Die anderen Kinder umringten mich und riefen Irre, Irre. Mutter wurde herbeizitiert. Vater auch, aber er kam nicht. Ich bin das einzige Kind, dessen Vater nie kommt. Die Direktorin bestand darauf, dass sie nicht wisse, warum mich alle Irre nennen, aber es sei genug, dass andere Kinder, vom Vater gut behütet und gut erzogen, dächten, ich sei es. Sehen Sie, raunte sie verschwörerisch in Mutters zartes Ohr, sie hat eine Geschichte über den Teufel und Engel und Flügel und Ketten und den Himmel geschrieben, und es ist doch kein Platz für solche Sachen im Kopf einer wahren kommunistischen Jugendlichen. Überhaupt kein Platz. Bitte greifen Sie härter durch. Sonst.

Bitte, flehte ich Mutter nach dem Gespräch an. Ich möchte Schriftstellerin werden.
     Aus dir muss was Anständiges werden, nichts Verlottertes. Ärztin, Anwältin. Eine reiche Gattin, befahl sie.
     Anständig zu sein lag weit jenseits meiner Möglichkeiten, aber ich wollte sie nicht enttäuschen. Also beschloss ich zu verschwinden.
     Ich rannte.
     Und schlief auf der Bank. Der Bahnhofswärter bemerkte mich und fragte, wie alt ich sei. Fast fünfzehn, sagte ich, und er glaubte mir nicht. Du bist so lecker, so fleischig, so üppig, sagte er. Sein Atem war nah und feucht. Du bist bestimmt achtzehn.
     Fünfzehn, sagte ich und starrte auf den dicken Dreck unter seinen Fingernägeln. Das machte ihn wütend.
     Der Polizist erschien und fragte, warum bist du nicht in der Schule, wo sind deine Bücher, deine Eltern, und wo in aller Welt wohnst du? Er packte meinen Arm und führte mich zum Auto. Wir liefen an dem Bahnhofswärter vorbei, der schrie, Achtzehn.

Schon da wusste ich, wie man sie erregt, die Männer. Ein kleines Mädchen. Ein verlorenes Mädchen. Ich sehe das Bild klar vor mir. Der junge Körper ist leicht nach vorn geneigt, schaut nach unten. Die Augen sind bescheiden, haften immer am Boden, während sie etwas in die Luft senden. Es ließ sie kommen: den Bahnhofswärter, den Polizisten. Es lässt sie immer noch kommen. Stürmen.
     Schon damals war ich darin besser als die meisten Frauen. Sogar besser als Mutter. Ich gab mich niemals Hautremes, Kleidung, Intrigen hin. Ich habe nie versucht, extravagant zu sein. Ich habe es nie versucht. Ich hatte einfach Durst, einen Durst, der immer da war. Lange bevor ich mit dem Trinken und dem Heroin aufhörte, sogar lange bevor ich damit anfing. Der Durst heftete sich an mich, änderte mich. Ich wurde Durst, und die Männer wussten das. Auch heute, jetzt in dieser Minute, habe ich Durst.

Im Polizeiwagen nach Hause gebracht, so dass die Nachbarn es sehen konnten, Schande, Schande, heulte Mutter. So etwas ist noch nie passiert. Einmal war ein kleines Mädchen gefunden worden, wie es in Unterwäsche durch die Gegend lief. Ihre Familie, die irgendwelche Kriegsflüchtlinge waren, brachen unseren Keller auf und nisteten sich ein. Mutter kam an diesem Tag blass nach Hause. Sie drohte sich umzubringen, falls eine solche Schande die Unterwäsche unserer Familie beschmutzen würde. An dem Mädchen hat jemand rumgemacht, sagte Onkel. Die sind nicht wie wir, tröstete Großmutter. Wir sind kein Vieh. Das sich für die Sonderangebote am Dienstag beim Fleischer anstellt, die Kinder mit billigem Reis und kleinen Stückchen Kalbsherz und Hühnermagen füttert. Wir nicht. Wir essen. Wir essen, so viel wir wollen. Große Stücke frisches Fleisch, Riesenflatschen Kaltgeräuchertes, Pasteten, gefüllt mit Käse und Gehacktem. Wir haben es verdient. Die Nazis dafür bekämpft. Wir sind hart und voller Stolz.
     Großmutter gebar neun gesunde Kinder, sechs davon Jungs. Sie verlor ihren Mann im Zweiten Weltkrieg. Ihr Jüngstes strampelte da noch nicht mal im Bauch, sagte sie. Die zwei nächsten krabbelten noch. Sie war unsere Stütze, bevor Senilität sie wieder zum Kind machte. Jetzt ruht sie sich die meiste Zeit aus, weit oben in den Bergen von West-Bosnien, und trägt Windeln.

Teil 2