Vorgeblättert

Charles Willeford: Die Schwarze Messe. Teil 1

27.06.2005.
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In den Vereinigten Staaten verlassen jährlich dreißig Prozent der Ehemänner ihre Frauen und gehen irgendwohin. Ein hoher Prozentsatz dieser flüchtigen Ehemänner kehrt zurück, zumeist jene, die Kinder haben. Sie vermissen ihre Kinder. Andere werden, wenn man sie aufgespürt hat, zwangsweise, per Gerichtsbeschluss, in den Schoß der Familie zurückbeordert. Nicht wenige besinnen sich, weil sie ihre Frauen entbehren oder erkennen, welche Fron es bedeutet, sich selbst um Wäsche, Mahlzeiten, Sex und so weiter kümmern zu müssen, während man allein in einem Zimmer hockt. Einige der abtrünnigen Ehemänner werden von Verwandten, Pfarrern und reuigen Ehefrauen überredet zurückzukehren.

Viele jedoch verschwinden für immer. Für einen zu allem entschlossenen Mann ist es eine leichte Übung, in den Vereinigten Staaten unterzutauchen. Den ersten Schritt macht man, indem man sich in einen anderen Bundesstaat absetzt, vorzugsweise in eine größere Stadt. Der zweite Schritt besteht darin, sich einen neuen Namen zuzulegen und diese neue Identität offiziell bestätigen zu lassen. Hierfür lässt man sich am besten bei einem Sozialamt registrieren, um sich für den neuen Namen eine entsprechende Sozialversicherungsnummer zu verschaffen. Seitens des Sozialamtes werden keine Fragen gestellt und binnen weniger Tage hält man die neue Sozialversicherungskarte in den Händen. Nun ist der Führerschein an der Reihe. Obwohl unten auf der Sozialversicherungskarte ausdrücklich vermerkt ist, dass sie nicht der Legitimation dient, wird das Kraftfahrzeugamt die Karte in jedem Fall als Legitimation akzeptieren, sofern man dort überhaupt danach fragt.

Mit der neu erworbenen Identität ist der Ehemann jetzt in der Lage, einen Job anzunehmen und zu arbeiten. Innerhalb weniger Monate ist sein Status in der neuen Stadt gefestigt und er kann eine ganze Tasche voller Karten haben: Persönliche Visitenkarten, Mitgliedskarten für den YMCA, den örtlichen Toastmasters Club, für Kiwanis, Boosters und das Fitness-Studio und - sollte er bei irgendeiner Bank über ein Sparkonto verfügen - auch eine Kreditkarte des Diner's Club.

Der Schlüssel zur erfolgreichen Flucht ist Entschlossenheit. Ein Ehemann auf Abwegen muss seine Frau, seine Kinder, seine Verwandten, seine Freunde, seine alten Kriegskameraden und sein früheres Leben wirklich hinter sich lassen wollen. Das ist nicht so leicht, und obwohl Statistiken besagen, dass jedes Jahr dreißig Prozent den Versuch unternehmen abzuhauen, schaffen es lediglich fünf Prozent auf Dauer. Zieht man jedoch die Zahl von fünfzig Millionen verheirateter Männer in den Vereinigten Staaten in Betracht, so sind fünf Prozent Ehemänner auf freiem Fuß eine ganze Menge.

Aber meine Gedanken galten nicht den anderen, sondern ausschließlich mir. Und auf meiner Reise durch die dunkle Nacht Floridas analysierte ich meine Motive. Ganz sicher hatte es nicht in meiner Absicht gelegen, meine Frau zu verlassen, als ich eine einfache Fahrkarte nach Orangeville kaufte. Der Erwerb des Tickets war ein unbewusster Akt. "Geben Sie mir ein Ticket nach Orangeville", hatte ich gesagt. Mehr nicht. Dennoch gab mir mein gesunder Menschenverstand zu verstehen, dass mein Lebensstil in Gefahr sei. Meine Entscheidung, Schriftsteller zu werden, hatte es mir ermöglicht, dem langweiligen, wenig einträglichen Job als Buchhalter in Columbus zu entkommen, der einem noch dazu das Leben vergällte. Umgeben von der friedlichen Atmosphäre meines Arbeitszimmers an jenem Morgen - um mich herum die Bücher aus der Leihbücherei, Magazine, Schreibblöcke und sorgfältig angespitzte Bleistifte -, hatte ich mich gezwungen gesehen, meine Gedanken darauf zu konzentrieren, Wege zu finden, um an Geld zu kommen, und der einzige mir bekannte Weg war der, als Buchhalter zu arbeiten.

Was hatte ich in diesem Bus verloren, der Kurs nahm auf ein verschlafenes Nest in Florida, und was glaubte ich in einem kurz vor dem Ruin stehenden Kloster zu finden, das es wert sein könnte, dass ich darüber schrieb? Na was schon? Meiner Frau konnte ich etwas vormachen, aber wie hätte ich mir etwas vormachen können? Im Grunde verschwendete ich das bisschen Geld, das mir geblieben war, was mich wiederum der Notwendigkeit eines Vollzeitjobs so viel näher brachte.

Ein ganzes Jahr lang hatte ich die Früchte meines Romandebüts genießen können. In der friedlichen Stille der Ocean Pine Terraces hatte ich die Ehemänner der Nachbarschaft beobachtet - am Morgen, wenn sie zur Arbeit fuhren, und am Abend, wenn sie heimkehrten. Ein kläglicher Haufen. Am frühen Abend, beim Sprengen meines Rasens, hatte ich verfolgt, wie sie ihre Autos abstellten, und ihnen freundlich zugewinkt. Sie taten mir Leid; obwohl ich mir der Missgunst und des Hasses der meisten von ihnen bewusst war, verstand ich ihre Empfindungen. Gefühle zu zeigen, darüber war ich als Schriftsteller erhaben, und ganz allmählich, als die Tage zu Wochen wurden und diese zu Monaten, verlor ich die Fähigkeit, überhaupt etwas zu empfinden.

Besagtes Jahr hatte mich gelehrt, das zu erleben, zu sehen, zu genießen, glasklar zu erkennen, was in meinem Leben mir entgangen war, während ich mehr als zehn Jahre über Hauptbücher gebeugt bei der Tanfair Milk Company gearbeitet hatte. Anfänglich war mein Herz voller Mitgefühl für alles und jeden. Ich liebte sie alle. Wie hätte ich auch anders empfinden können? Doch ich sah keine Möglichkeit, Gefühle zu äußern, also zwang ich mich auch nicht dazu.

Wie hätte ich meinem Nachbarn von nebenan, einem Vermögensverwalter der Citizen's Bank, auch sagen sollen, dass er mir Leid tue? Wenn ich sah, wie er auf seinen Stellplatz fuhr und mit einer prall gefüllten Aktentasche unter dem Arm aus seinem neuen Wagen stieg, quoll mein Herz über vor Mitleid mit diesem armen Burschen. Bis weit in die Nacht würde das Licht bei ihm brennen, während er über seinen Bankunterlagen brütete. Hätte ich ihm von dem leuchtend roten Kardinal berichten können, der jeden Morgen auf meinem Fensterbrett saß, erzählen sollen, wie schön der kleine Vogel war und wie sehr ich den putzigen Kerl vermisste, wenn er es einmal versäumte, mit Anwesenheit zu glänzen?

Natürlich nicht. Das Einzige, was mein Bankernachbar und ich gemein hatten, waren die Bodenwanzen auf dem Rasen!

Ich kannte diese berufstätigen Männer. Schließlich war ich einer von ihnen gewesen und wusste nur zu gut, dass es reine Augenwischerei war, wenn sie glaubten, ihre Tätigkeiten seien von Belang.

Im Laufe der Zeit blendete ich alle Überlegungen über meine Nachbarn aus und lebte ausschließlich in mir selbst. Ich brachte meine streunenden Gedanken zu Papier, Fetzen imaginärer Dialoge, ein paar Kurzgeschichten - und das Essay über D.H. Lawrence. Pro Woche las ich drei bis fünf Bücher aus der Stadtbücherei, Bücher, die ich zwar immer hatte lesen wollen, bisher aber nicht hatte lesen können, und ich las nochmals viele meiner Lieblingsbücher. Ein- oder zweimal die Woche fuhr ich an den Strand, lag entspannt im heißen Sand und genoss die subtropischen Strahlen einer hellen, liebenswürdigen Sonne. Allein schwamm ich hinaus, hinter die donnernde Brandung, trieb auf dem Rücken liegend dahin und fing die changierenden Töne des Himmels mit meinen Augen ein. Ich war angefüllt mit lebendiger Energie und mir der Schönheit jener Welt voll bewusst, die mir lange verschlossen geblieben war angesichts des unbeständigen Klimas in Columbus, das mir dicke, wollene Kleidung aufgezwungen hatte, ganz zu schweigen von den verdammten Krawatten und quälenden Kragen.

Und zur Bestürzung meiner Frau war ich auch noch enthaltsam geworden. Wie viele Monate waren es gewesen? Ich zählte es an den Fingern ab - fünf Monate, eine lange Zeit ohne Sex. Aber es kümmerte mich nicht, der Gedanke an Sex ließ mich kalt - es war alles derart profan und obendrein unrein.

Als Schriftsteller spielte sich mein Leben im Kopfe ab. Das genügte. Ich stieß einen Seufzer aus, ein qualvolles Geräusch aus den Tiefen meiner Brust. Dieser Ton weckte meinen Nebenmann, einen älteren Herren in einem grauen bügelfreien Dacron-Anzug, und er starrte mich an.

Was ist los, Kumpel? ist Ihnen schlecht?", fragte er.
"Nein", antwortete ich wütend. "Ihnen etwa?"
"Wenigstens mach ich keine Geräusche, als würde ich gleich das Zeitliche segnen." Der alte Mann wandte den Kopf zur Seite und schlief weiter.

Orangeville mit seinen 603 Einwohnern war keine reguläre Station auf der Strecke von Miami nach Jax, und bevor ich überhaupt realisierte, dass ich wieder Boden unter den Füßen hatte, war der Fahrer mit seinem großen Bus in die Gänge gekommen und bereits auf dem Highway. Meine Timex zeigte 4 Uhr, und kein Anzeichen von Licht in dem Städtchen. Meine kleine Reisetasche zwischen den Beinen, blinzelte ich in die Dunkelheit und fragte mich, wo das Kloster liegen möge und wie ich es in dieser Finsternis finden solle.

An einer dunklen Tankstelle bis zum Morgen zu warten, danach stand mir nun wirklich nicht der Sinn, außerdem brauchte ich dringend einen Kaffee. Etwa eine Meile entfernt waren wir an einer Save!-Tankstelle vorbeigefahren und ich machte mich auf den Weg zu dieser von Neonlicht erleuchteten Oase. Zumindest gäbe es dort einen Cola-Automaten und Licht und nicht zuletzt auch einen Angestellten, mit dem man quatschen konnte.

Mit Blick auf den schwachen Verkehr wanderte ich am Rande des Highways entlang, bis ich irgendwann an die geöffnete Tankstelle kam. Im Anschluss an eine Sitzung auf der Herrentoilette unterhielt ich mich mit dem Tankwart, einem jungen Mann Ende zwanzig, der an der Clewiston High School Amerikanische Geschichte lehrte, um sein Salär aufzubessern.

Er war froh über meine Gesellschaft und erzählte begeistert von dem aktuellen Projekt seiner Studenten, einem satirischen Sketch, der die vermeintlichen Unterschiede der beiden Parteien thematisiere; ein Freund von der Florida State University habe die Musik dazu geschrieben.

Höflich wartete ich auf eine Pause in seinem Monolog, und als sich die Gelegenheit bot, fragte ich den Benzin zapfenden Lehrer, wo das berühmte Kloster der Kirche der Herde Gottes sei. "Es ist geschlossen", sagte er.

"Ich weiß, aber der Abt ist noch da und ich habe eine Verabredung mit ihm."
"Sind Sie mit dem Bus bis in die Stadt gefahren?"
"Ja, und dann bin ich den Weg hierher zurückgegangen."
"Das hätten Sie besser nicht gemacht. Sie hätten den Fahrer bitten sollen, Sie am Kloster abzusetzen. Es liegt fünf Meilen davor." Er wies mit dem Daumen nach Süden.
Ich fluchte und schaute wieder auf die Uhr. 4.45 Uhr.
"Dann sollte ich mich jetzt wohl auf die Socken machen", sagte ich zu dem Angestellten.
"Um halb sieben kommt meine Ablösung. Wenn Sie bis dahin warten, setz ich Sie dort ab", bot er mir eilfertig an, wohl unzufrieden damit, dass ich ihn verlassen wollte.
"Nein", ich schüttelte den Kopf. "Der Marsch bringt mich wieder in Schwung."

Wir verabschiedeten uns höflich, per Handschlag, und ich zog los mit meiner leichten Reisetasche. Die Nacht war pechschwarz und Rauchgeruch von einem mehrere Meilen entfernten Kartoffelfeuer wehte herüber, hing stark in der Luft und verflüchtigte sich wieder. Am Horizont konnte ich ein schwaches rotes Glühen ausmachen und ich meinte mich zu erinnern, dass es in Zentralflorida ständig unbeaufsichtigte Feuer gab. Nur selten und noch dazu in großen Abständen fuhren Autos den Highway entlang - der Highway, der jetzt wie ein gerades graues Band in der verlassenen Landschaft lag. Die Nacht war erfüllt vom Lärm der Grillen und anderer Insekten und alle fünf Minuten brüllte ein Alligatorbulle aus den Tiefen des Sumpfes, der sich rechts vom Highway träge ausdehnte.

Ich legte Marschtempo vor, neunzig Schritte pro Minute, und das bedeutete einen Schnitt von zweieinhalb Meilen pro Stunde, wenn ich nach der ersten Stunde eine Pause von zehn Minuten einlegen würde. Ich hatte es nicht eilig und empfand das Laufen als angenehm, besonders als die Sonne aufging. Ein Sonnenaufgang in Florida unterscheidet sich von Sonnenaufgängen anderswo. Der zuvor tintenschwarze Himmel wird mit einem Mal perlmuttfarben, als habe jemand einen Dimmer angeschaltet; nur wenige Augenblicke später wird der Dimmer voll aufgedreht und die Sonne steht am Himmel. Der Sonnenaufgang schleicht sich nicht heran wie Kaufhausmusik, er ist plötzlich da und überflutet das Land mit weißer Hitze. Der Schweiß fließt in Strömen und man glaubt, es nicht aushalten zu können, doch irgendwie ist es mittags nicht heißer als bei Tagesanbruch. Solange die Sonne am Himmel steht, ist der Hitze eine lästige Eintönigkeit eigen, an die sich die meisten aus dem Norden scheinbar nicht gewöhnen können.

Unter einem orange gestrichenen und mit Stuck verzierten Torbogen aus Zementziegeln hindurch gelangte man auf das Klostergelände, und ging man den gelblichen Kiesweg entlang, kam man zu einer Reihe kleiner Bungalows, bei deren Anblick man unwillkürlich an ein Motel denken musste. Insgesamt gab es sieben dieser Einraum-Hütten, jede in einem anderen Orangeton gestrichen. Am Ende der Reihe schimmerte ein großer Butler-Bau im Sonnenlicht - ebenfalls orange getüncht -, an dessen Schrägdach ein orangefarbenes Holzkreuz genagelt war. Vermutlich handelte es sich hierbei um die Kapelle. Üppig wachsender vielfarbiger Wunderstrauch wucherte um jedes Gebäude, hier und da versetzt mit blauen Agaven, Rizinus, Stechpalmen, Surinam-Kirschhecken, verkrüppelten Fächerpalmen und rotem, gefülltem Hibiskus. Zwischen all dem Grünzeug schossen Gamagras und alle erdenklichen Arten von Wildpflanzen munter ins Kraut. BÜRO und ABT stand neben der Fliegengittertür der ersten Hütte, aufgemalt in schwarzen altenglischen Lettern, und wilder Wein rankte sich nicht nur hoch bis zum Dach, sondern hatte sich bereits an der gesamten Seite des Gebäudes breit gemacht.
Etwa sieben Meter hinter den Hütten erstreckte sich ein Orangenhain von vielleicht acht oder zehn Hektar über eine Bodenerhebung, verlief in der Ferne weiter und endete auf einem kleinen Hügel, am Fuße einer primitiv zusammengezimmerten Mühle, deren Flügel sich gemächlich im Wind drehten. Ausgerechnet in Windrichtung standen sieben Umzugskartons, umgeben von einem hüfthohen Gatter, das - wie unschwer am Geruch zu erkennen war - einmal Ziegen beherbergt haben musste.

Ein Mann in schwarzem Talar machte vor der Hütte des Abtes, besser gesagt vor dessen Zelle, Freiübungen und zählte dabei mit lauter, befehlsgewohnter Stimme "Eins, zwei, drei, vier". Ich zündete mir eine Zigarette an und beobachtete, wie er zu Kniebeugen überging, eine Übung, so ermüdend, dass bereits das Zusehen mich erschöpfte. Der Abt war von kompakter Statur, mindestens ein Meter fünfundachtzig groß, und hatte einen glatt rasierten, sonnengebräunten Schädel. Seine Nase erinnerte mich an eine unförmige Kartoffel, die man mehr schlecht als recht in sein flaches, mit frischen Kratzern übersätes Gesicht verpflanzt hatte, das noch dazu schweißnass und rot war von den intensiven Übungen. Dominierende, kalte blaue Augen musterten mich, ohne dass der Mann seine Übungen oder das Zählen unterbrochen hätte. Es war etwas Merkwürdiges an diesem Menschen, das ich einen Moment lang nicht hätte umreißen können, doch dann fiel mir auf, dass seine Augenbrauen rasiert waren, und ich entdeckte zudem die Silberplakette an seiner linken Brust: zwei gekreuzte Gewehre und ein Querbalken mit der Aufschrift 'Bester Schütze'. Rasierte Augenbrauen sind ungewöhnlich, und nicht jeder Mann Gottes trägt eine Schützenmedaille, und ich kam zu dem Schluss, dass diese Kombination der Grund für seine befremdliche Aura sei.

"Guten Morgen", sagte ich, "sind Sie Abt Dover?"
"Eins!", er hob merklich die Stimme, "zwei, drei, vier!"
Schwer atmend nahm er Haltung an. "Diese Kniebeugen sind hart, mein Junge! Schon mal welche gemacht?"

Teil 2
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