Literatur

Annie Ernaux: Die Jahre. Roman

Annie Ernaux, 1940 in kleinen Verhältnissen in der Normandie geboren, umfasst in ihrem Blick zurück auf "Die Jahre", die seitdem vergangen sind, gleich die ganze französische Gesellschaft. "Ernaux traut sich etwas", ruft Nils Minkmar im Spiegel. "Bevor man es nicht gelesen hat, hält man so etwas gar nicht für möglich." Denn dieses als Roman bezeichnete Buch, lernen wir, hat keine "Spielhandlung" und kein Ich - jedenfalls lange Zeit nicht. Es erzählt vielmehr, aus der Perspektive der Bourdieu-geschulten Annie Ernaux, das gesellschaftliche Wir - von der Algerienkrise, den Bomben der OAS in Paris, sexueller Unterdrückung und Befreiung, dem Attentat auf de Gaulle und den 68ern, von Hoffnungen, Enttäuschungen und der zunehmenden Melancholie nach der Jahrtausendwende, so der hingerissene Klaus Bittermann in der taz. In der FAS ist Anna Vollmer beindruckt von dem nostalgiefreien Blick der Autorin. Klingt das jetzt mehr nach soziologischer Arbeit als literarischem Werk? Das würden wohl alle Rezensenten verneinen. Bei Ernaux "wird das Private politisch, die Politik in Gespräch überführt, und aus alledem wird brisante, aktuelle und poetische Literatur", versichert Minkmar.
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Peter Nadas: Aufleuchtende Details

255 Seiten braucht die 1940 in der Normandie geborene Annie Ernaux, das Frankreich der Nachkriegszeit bis heute zu erinnern. Es ist bestimmt interessant, Peter Nadas' "Aufleuchtende Details" dagegen zu halten, auch wenn er es einem mit 1250 Seiten nicht ganz leicht macht. Auch dies ist kein Roman im eigentlichen Sinne. Nadas' Erzählung beginnt im Oktober 1942, als seine Mutter in Budapest mit der Straßenbahn zur Entbindung fährt und zur gleichen Zeit Jan Karski der polnischen Exilregierung in den Pyrenäen vom Widerstand berichtet. Die Jahre zwischen 1944 und 1956 sind das Kernelement des Buchs, erklärt Tilman Spreckelsen in der FAZ, wobei ein Teil in Budapest spielt, ein anderer im französischen Lager in Le Vernet, wo viele Ungarn, darunter auch Nadas' Vater inhaftiert waren, erzählt Karl-Markus Gauß in der SZ. Kriegserlebnisse, Faschismus, Kommunismus, Privates - alles greift ineinander, mal essayistisch, mal detailverliebt, schreibt Iris Radisch in der Zeit, die den Autor getroffen hat: "Wenn Nádas sich für die historischen Tiefenschichten seines verwundeten Ich interessiert, für die ererbten Gefühle und Verletzungen, die von der Forschung 'transgenerationale Traumatisierung' genannt werden, dann niemals im Sinn einer Versöhnung mit der Vergangenheit, sondern ausschließlich im Dienst einer Klarstellung. Man muss seinen Niederlagen offen in die Augen sehen."
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Daniel Kehlmann: Tyll. Roman

Daniel Kehlmanns "Tyll" hat fast so enthusiastische Reaktionen hervorgerufen wie seine preisgekrönte "Vermessung der Welt". Auch "Tyll" ist ein historischer Roman, eine Adaption der Till-Eulenspiegel-Sage, die Kehlmann ins 17. Jahrhundert verlegt hat, um den Helden durch das 30 Jahre lang von europäischen Glaubenskriegen zerstörte Deutschland zu führen. Magischer Realismus, polyperspektivische Erzählstrukturen und amüsant ist es auch noch, versichern die begeisterten Rezensenten in NZZ, SZ, FAZ, Welt und Zeit. Christoph Bartmann sieht in der Süddeutschen den Autor auf den Spuren von Leo Perutz. Anspielungen auf die Gegenwart, meint er, interessieren Kehlmann eher nicht. Dieser Roman erzählt vor allem "vom Erinnern und vom heilsamen Vergessen, vom Verschweigen des allzu Furchtbaren", erkennt Tilman Spreckelsen in der FAZ.
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Alain Mabanckou: "Die Lichter von Pointe-Noire". Roman

Der heute in Kalifornien lebende Alain Mabanckou erzählt in seinem autobiografischen Roman "Die Lichter von Pointe-Noire" von seinem Besuch in seiner Heimatstadt im Kongo, die er 23 Jahre zuvor Richtung Paris verlassen hatte. Man lernt die zahlreiche Verwandschaft kennen, unternimmt mit Mabanckou Streifzüge durch die Stadt und trauert mit ihm um die Mutter, die ihn verstoßen hatte, als er nach Frankreich ging, und die starb, ohne ihn wiedergesehen zu haben, so einhellig die Rezensenten, die ebenso angeregt wie berührt von dem Buch sind: Der Humor und die Ehrlichkeit, mit der der Autor von seiner Identitätssuche und dem Gefühl des Fremdseins erzählt, haben Karen Krüger in der FAZ beeindruckt. "Ich wollte, dass die Leute verstehen, was es heißt, ein Afrikaner zu sein, der seinen Kontinent verlassen hat", zitiert ihn Holger Heimann in der Stuttgarter Zeitung. "Es ist eine Reise in ein Land, das dem Autor selbst oft fast fremd vorkommt mit seinem Mix aus traditionellem Aberglauben, postkolonialem Marxismus und amerikanisierter Konsumkultur", aber es sei auch eine Erinnerung an den Kongo seiner Kindheit, schreibt Zeit-Rezensent Caspar Shaller, der von der Trauer und dem Humor Mabanckous stark beeindruckt ist.
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Ottessa Moshfegh: Eileen. Roman

Vor der Abgründigkeit von "Eileen", dem zweiten auf Deutsch erschienenen Roman der amerikanischen Schriftstellerin mit kroatisch-iranischen Wurzeln, Ottessa Moshfegh, hätte selbst Hitchcock den Hut gezogen, schwärmt Elmar Krekeler in der Welt. Denn in diesem in den Sechzigern spielenden Noir um die vielfach missbrauchte Heldin, die auf einem Dachboden bei ihrem alkoholabhängigen Vater haust und bei ihrer Arbeit im Jugendknast auf Menschen trifft, denen Ähnliches widerfahren ist, erzähle Moshfegh spielerisch und doch mit atemberaubender Präzision nicht nur vom "White trash avant la lettre", sondern jagt auch "erzmännliche Erzählmuster durch alle Genresäurebäder", lobt der Kritiker. Einem ungewaschenen, psychisch schwer gestörten, ebenso grausamen wie sensiblen Ekel begegnet SZ-Kritikerin Luise Checchin und staunt doch über die Mitleidlosigkeit, mit der die gealterte Eileen auf ihr jüngeres Ich zurückblickt. In der FAZ bewundert Tilman Spreckelsen den "hinterlistigen Eifer", mit dem die Autorin die "monströsen Fantasien" der jungen Frau seziert.
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Sachbuch

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt

Als Ergänzung zu Gerd Koenens Generalabrechnung mit dem Kommunismus "Die Farbe Rot" dürfte es sich empfehlen, Karl Schlögels "Das sowjetische Jahrhundert"  zu lesen - mit 912 Seiten vom Umfang genauso monumental, vom Ansatz aber miniaturistisch: "Jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Duft, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren", heißt es im Klappentext: Schlögel hebt den Stein, unter dem der Kommunismus begraben ist und inspiziert das darunter zum Vorschein kommende Gewimmel. Alles kommt vor in diesem "Museum der Sowjetzivilisation", schreibt Jens Bisky in der SZ: Schlögel erzähle vom Gulag und vom Terror, natürlich, aber auch vom Parfüm "Rotes Moskau", vom Wohnen in der Kommunalka.
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Martin Geck: Beethoven. Der Schöpfer und sein Universum

Merkwürdig, man kann andere Götter neben Beethoven zulassen? Martin Geck tut es in seiner neuen Biografie und Rezensent Jan Brachmann findet es in der FAZ sogar wohltuend, denn Geck verteidige zugleich auch Beethovens Größe (ebenso merkwürdig: kann man die denn bestreiten?) Brachmann schätzt an der Biografie, wie Geck den Komponisten in den Kontext einbettet, nicht immer systematisch, aber anregend. Noch mehr schätzt er, wie auch Johan Schloemann in der SZ, wie Geck über bestimmte Werke spricht. Bei Brachmann ist es die Fünfte. Schloemann verliebt sich in Gecks Interpretation von Beethovens Achter, in der der Komponist das heroische Programm aus der Frühzeit nicht ohne Grausamkeit gegen sich selbst ironisiere. Merkwürdig übrigens auch, dass man zu dieser Biografie über Google nicht ein einziges längeres Gespräch mit dem Autor in unseren geschätzten öffentlich-rechtlichen Programmen findet - so ein schönes Dreistundengespräch mit viel Musik, wie es das früher mal gab.
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Thomas Macho: Das Leben nehmen. Suizid in der Moderne

Fasziniert haben die Kritiker Thomas Machos Kulturgeschichte des Selbstmords gelesen: "Das Leben nehmen" verbindet in loser Chronologie Fallgeschichten, historische Diskurse und kulturelle Betrachtungen. Macho lässt die großen Theoretiker zu Wort kommen, Jean Améry, Michel Foucault und Emile Durkheim, und behandelt den Suizid in all seinen Facetten: als psychische Katastrophe, als romantischen Liebestod, Märtyrertod und terroristische Inszenierung. In der SZ betont der Schriftsteller Georg Klein in seiner eingehenden Besprechung des Buches vor allem den großen Bruch, den die Moderne brachte: Das Leben gehört nicht mehr Gott oder König, sondern dem Menschen selbst, er darf es sich also auch selbst nehmen. Klein attestiert dem Buch einen geradezu "gefährlichen Reiz". In der FAZ nennt Petra Gehring es ein großes Werk, das sie besonders für seine Milde und seine Diskretion schätzt. Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur plädiert Macho dafür, neben die Prävention auch "Respekt und Anerkennung" des Selbstmords zu stellen.
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Philipp Ther: Die Außenseiter. Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa

Philipp Thers Studie "Die Außenseiter" ist bisher recht wenig besprochen worden. Dabei hat sie es in sich: Der Historiker Ther geht darin den großen Fluchtbewegungen im Europa der Neuzeit nach, von der Vertreibung der sephardischen Juden aus dem Spanien der Reconquista über die Flucht der Hugenotten und die großen Vertreibungen vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Zeit preist Elisabeth von Thadden die Fülle der Einsichten und der Geschichten: 1685 etwa nahm das dreißigtausend Einwohner zählende Frankfurt hunderttausend Hugenotten auf. Im Spiegel wurde Tobias Rapp angesichts der eigenen Sicherheit ganz schwindlig. Und er lernt: Je mehr Bereitschaft eine Gesellschaft zeigt, Flüchtlinge aufzunehmen, desto besser klappt die Integration.
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Jennifer Ackerman: Die Genies der Lüfte. Die erstaunlichen Talente der Vögel

In der SZ hat der bekannte Ökologe Josef H. Reichholf, selbst Autor eines Buchs über Krähen, Jennifer Ackermans "Die Genies der Lüfte - Die erstaunlichen Talente der Vögel" wärmstens empfohlen: Es ist offenbar eine Erkenntnis der letzten Jahre, dass viele Vögel eine erstaunliche Intelligenz besitzen, mit Werkzeugen hantieren und zu Abstraktion fähig sind. Durch viele eigene Recherchen und Gespräche mit Forschern schaffe die Autorin Einblick in "Vogelgehirne, Sozialverhalten, Gesänge und Ästhetik beim Nestbau". FAZ und NZZ schließen sich mit sehr positiven Rezensionen an. Einziger Kritikpunkt: Sowohl Thomas Weber in der FAZ als auch Jürgen Brocan in der NZZ vermissen ökologische Aspekte des Themas, etwa über die Bedrohung des Lebensraums der Vögel.
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