Literatur
Genetik, Big Data und Kryostase - das ist der Stoff, aus dem die Zukunftsromane geschrieben sind. Inspiriert von Kurt Vonnegut, biblischen Texten und Legenden erzählt die 1971 in Erfurt geborene Emma Braslavsky vom Kampf zweier Organisationen über den Weg hin zu einem genetisch verbesserten Menschentypus. taz-Rezensentin Nina Apin ist hin und weg
von dem "hyperaktivem Eklektizismus", mit dem Braslavsky die Geschicke
zweier Ehepaare, Humangenetik, Aussteigerromantik und Pseudo-Idealismus
zusammenrührt. Die will was, meint Peter Henning anerkennend auf SpOn über die Autorin, das "ganz große intellektuelle Ding". Für ihn eine der interessantesten Neuerscheinungen in diesem Herbst. Warme Empfehlung auch von FAZ-Kritikerin Nicole Henneberg, der die bedrohliche Authentizität dieses Romans nicht entgeht. Und siehe da: Im Logbuch Suhrkamp berichtet Emma Braslavsky von ihren Recherchen bei den Genomforschern am Berliner Max-Planck-Institut.
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Ewiges Leben anyone? In Don DeLillos neuem Roman verspricht eine Sekte in Kasachstan, Sterbende so einzufrieren, dass sie in einer besseren Epoche, mit besserer Medizin, aufgeweckt und weiterleben
können. Ein amerikanischer Milliardär möchte diesen Dienst für seine
todkranke Frau in Anspruch nehmen. Die Kritiker gehen in die Knie,
weniger wegen des Themas als wegen DeLillos brillanter Erzählkunst. Er
schafft es sogar, mit dem "ersten inneren Monolog einer Tiefgefrorenen in der Literaturgeschichte" das Herz des einzigen skeptischen Kritikers - Jörg Häntzschel in der SZ - zu erwärmen.
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Die Hauptfiguren in dem Debütroman des kongolesischen Autors Fiston Mwanza Mujila,
der politisch verfolgte Schriftsteller Lucien und sein ehemaliger
bester Freund, der Gauner Requiem, verbringen ihre Nächte im Tram 83,
dem einzigen Nachtclub einer anonymen Stadt in Afrika. Hier
treffen sich Minenarbeiter, Ex-Kindersoldaten, Prostituierte, Studenten
und Glückspieler aller Art. Tagsüber versucht Lucien Fuß zu fassen, wird
dabei immer wieder von Requiem hintergangen, der mit geradezu
sadistischem Vergnügen Luciens berufliches und amouröses Scheitern
beobachtet. Auffällig ist Mujila repetetive Erzähltechnik. Wie ein Jazzstück soll sein Roman klingen, erklärt Mujila im Interview mit Dradio Kultur. Und tatsächlich rühmt Helmut Schödel in der SZ den vitalen Rhythmus und die Komposition des Buchs. Auch Angela Schader lobt in der NZZ die lyrische federnde Sprache und die saftigen Milieuschilderungen. Im Interview mit der White Review erzählt Mujila von seinen Erfahrungen bei der Lesereise zu seinem Roman.
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Fasziniert, aber manchmal auch etwas verloren liest taz-Rezensentin Nina Apin Alissa Ganijewas Roman "Eine Liebe im Kaukasus" (bestellen). Was weiß sie schon über Dagestan?
Über Stammesbräuche und Waldbrüder? Gott sei Dank gibt es ein Glossar,
und auch das Nachwort von Übersetzerin Christiane Körner findet Apin
erkenntnisfördernd. Im Vordergrund steht die Geschichte zweier junger
Menschen, die sich den Traditionen nicht entziehen können: In Moskau
studieren ist ja ganz schön, aber dann heißt es Heimkommen, Heiraten und
Kinderkriegen. Und doch werden in dieser postsowjetischen Gesellschaft
die Bräuche nur noch halb erinnert, so Apin. Zu viel ist zu lange
unterdrückt oder von religiösen Fanatikern verzerrt worden. Das zeigt
sich auch in der ambivalente Rolle der Frauen, meint FAZ-Kritiker
Tilman Spreckelsen, die sich über private Sexfilme wie auch über die
Rekonstruktion des Hymen unterhalten. Im Büchermagazin des Bayerischen Rundfunks lobt Christine Hamel den "kraftvollen und farbigen" Ton dieses Romans.
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Viel zu wenig besprochen wurde Hakan Gündays Roman "Flucht", und taz-Kritikerin Katharina Granzin weiß warum: Das Schicksal des neunjährigen Ich-Erzählers, von dem der türkische Autor hier erzählt, ist kaum auszuhalten. Gaza lebt mit seinem Vater, einem sadistischen Schlepper,
an der türkischen Küste, hilft ihm beim Transport der "Ware", vergisst
einmal die Lüftung des LKWs anzustellen - wodurch ein junger Afghane
erstickt. Gaza selbst wird missbraucht und überlebt nur knapp einen
Unfall, bei dem er tagelang unter einem Berg von Leichen begraben wird.
Puh. Und trotzdem spricht Granzin eine klare Leseempfehlung aus: Weil
Günday uns zwingt hinzusehen, zugleich virtuos, komisch und "erhellend"
schreibt. Im Interview mit Dradio Kultur skizziert Günday das Thema, um das all sein Schreiben kreist, so: "Mich beschäftigt eine einfache Frage: Kann ein Individuum aus der Zelle, in der es steckt – sei es die Familie, ein religiöser Orden, die Armee, irgendein geschlossenes System eben… Kann man daraus ausbrechen? Und wenn ja, wie?"
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Richard Russos pulitzerpreisgekrönter Roman
wurde bei seinem Erscheinen 2002 in Europa von Franzens "Korrekturen"
ausgestochen. Unverdientermaßen, finden die Kritiker jetzt. Aktuell sei
er aber immer noch: Der über 700 Seiten lange Schmöcker erzählt die
Geschichte einer Kleinstadt im unaufhaltsamen Niedergang. Die Fabriken sind geschlossen,
Geldnöte, Alkoholprobleme, Liebeskummer und vor allem die Angst,
langsam zu versauern, davon erzählt Russo lebensklug und ergreifend,
versichert Oliver Jungen in der FAZ. Es ist ein "Initiationsroman in Slow Motion", lobt Anne Haeming auf Spon. Keinen Moment langweilig, sondern realistische Erzählkunst alter Schule, sekundiert die FAZ.
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Ein Embryo, der die Geschichte seiner Mutter erzählt, von ihrer
Schwangerschaft, ihrer Affäre, ihrem Mord? Der auch noch über den
Zustand der Welt räsoniert? Total unglaubwürdig. Das weiß
selbstverständlich auch Autor Ian McEwan, der es in seinem Roman "Nussschale" (bestellen) trotzdem wagt. Und es funktioniert, versichert Stephan Wackwitz in der taz. Was McEwan hier vorlegt, sei eine Art vorgeburtliches Treffen mit Hamlet, meint eine amüsierte Kristina Maidt-Zinke in der SZ,
das der Autor mit Krimi-, Family-Soap- und Satireelementen ausschmückt.
"Aberwitzig", aufregend, originell, lobt Sylvia Staude in der FR.
Erzählkunst toppt Vernunftssinn allemal!
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Sachbuch
Der in Princeton lehrende Politologe Jan-Werner Müller hat mit seinem Essay
ganz gewiss ein Vademekum für diese Saison geschrieben. Was Populismus
ist, müssen heute alle wissen, die dieses Phänomen bekämpfen wollen.
Müller hat eine griffige These für den Begriff: Populismus sei diejenige
politische Strömung, die behaupte, für das "ganze Volk", "the real people" zu sprechen. Wer widerspricht, wird zumindest diskursiv schon mal aussortiert.
Interessant ist, dass Müller diese Idee ausschließlich der (mehr oder
weniger extremen) Rechten zuordnet. Die "99 Prozent", die etwa Occupy
für sich reklamierte, passen offenbar nicht in seinen Begriff. Wie auch
immer: Nützlich ist Müllers Buch auf jeden Fall. Laut Marian Nebelin in
der FAZ legt er die unterschiedlichen nationalen Ausprägungen
dar und arbeitet Gemeinsamkeiten heraus. Leider kann Müller ihr
allerdings keine Lösungen anbieten. Bei dem Versuch verliere sich der
Autor in Gemeinplätzen und Unkonkretem, stellt Nebelin bedauernd fest.
Jan-Werner Müller hat sich ausführlich auch in Interviews zu seinen
Thesen geäußert, unsere Resümees.
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Cees Nootebooms prächtig ausgestatteter Band über Hieronymus Bosch gehört dazu: kein eitles Alterswerk, versichert Marko Martin in der Welt,
sondern ein belesener Bericht voll aufmerksamer Beobachtungen, denen
Nooteboom noch eine glaubhafte Portion aufrichtigen Staunens beizumengen
vermag. Arno Widmann, ein großer Bewunderer Nootebooms, erzählt in seinem Perlentaucher-Nachttisch, wie es zu dem Band kam: "Da dieser Essay im Auftrag des Prado entsteht, darf er ran an die Bilder,
wie sonst nur die Restauratoren. Er schürt den Neid des Lesers und ist
doch in seiner Hilflosigkeit, was die Entschlüsselungen der Bedeutungen
der Boschschen Bilderwelt angeht, ganz solidarisch mit ihm."
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Faszinierend klingt, was Harald Eggebrecht in der SZ (eigentlich eher als Musikkritiker bekannt) über Charles C. Manns Buch erzählt: So hat er hier etwa erfahren, dass die Urbevölkerung
Amerikas zahlenmäßig keineswegs so klein war, wie lange angenommen,
sondern immer mehr Berichte von vor Menschen "wimmelnden" Dörfern
und Städten auftauchen. Darüber hinaus lernt der Rezensent, dass die
Vorstellung von einer unberührten Wildnis, die die europäischen
Entdecker angeblich angetroffen haben, mit Blick auf die bereits
entwickelten Hochkulturen verschiedener Indianerstämme, die auch
das Land kultivierten, längst hätte revidiert werden müssen. Das Buch
ist in den USA schon vor einigen Jahren erschienen. "Was aufscheint ist
eine epische Geschichte, eine Tragödie, deren Akzente sich verändert
haben", schrieb damals Kevin Baker in der New York Times. "Trotz aller europäische Gräueltaten in Amerika war die Eroberung schon weitgehend vor ihnen abgelaufen - durch die Mikroben, die ankamen, bevor die Mensche in großer Zahl auftauchten."
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Simon Sebag Montefiore erzählt in seinem Historienschmöcker "Die Romanows" (bestellen)
nach dem für Leser stets behaglichen Muster vom "Glanz und Untergang"
der Zarendynastie. Das monumentale Buch ist bisher nur in der SZ besprochen, aber was Sonja Zekri erzählt, klingt schaurig und für die Gegenwart belehrend zugleich, ein "Glanz- und Splatter-Epos"
sei das. Untergegangen sind dann ja nicht nur die Romanows, sondern mit
ihnen die Hoffnung des Landes und seiner Bewohner auf einen Anschluss
an Moderne, Demokratie und Wohlstand.
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Edmund de Waals "Die weiße Straße" ist eine ganz persönliche Geschichte des Porzellans, mit unglaublicher Leidenschaft erzählt, lobt eine hingerissene Rezensentin Susanne Kippenberger in der Zeit. De Waal, selbst Töpfer, kann geradezu filmisch genau beschreiben, lernt sie, er springt von einer Idee zur nächsten, von der Fabrik in ein Archiv und weiter zu einem Mönchskappenkännchen. Das liest sich für die Rezensentin wie ein überbordender Abenteuerroman.
Der "sehr eigene, literarische Ton" des Autors und seine Fähigkeit,
sachliche Informationen mit Reflektionen über die Schönheit des
Handwerks und persönlichen Erinnerungen zu verblenden, hat auch den
SZ-Rezensenten Ulrich Rüdenauer einfach bis zum Ende mitgerissen, obwohl
Porzellan nicht unbedingt zu seinen Leidenschaften gehört.
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Gilles Kepel ist einer der besten Kenner des Islamismus, im Original erschien sein Buch "Terror in Frankreich" kurz nach den Anschlägen von Paris vor einem Jahr. Anders als sein soziologischer Gegenspieler Olivier Roy betrachtet der Politikwissenschaftler den Terrorismus in Frankreich nicht als nihilistische Revolte, sondern als weitere Variante des weltweiten Dschihadismus,
der nun nicht mehr auf die fernen USA, sondern auf das nahe Europa
zielt. Besonders hier, im "weichen Bauch des Westens", wollten die neuen
Dschihadismus ein Klima des Schreckens erzeugen, das sich durch gegenseitige Radikaliserung zum großen Bürgerkrieg
hochschaukeln soll. Frankreich nimmt aufgrund seiner Kolonialgeschichte
und seiner sozial verelendeten Vorstädte eine besondere Rolle ein, die
nicht unbedingt auf andere Länder übertragbar sei. In der FAZ findet Helmut Mayer das Buch zwar ein wenig mit heißer Nadel gestrickt und auch ein wenig grell, aber absolut erhellend und schlüssig in seiner Argumentation. Im Interview mit dem Deutschlandfunk erläutert Kepel ausführlich seine Thesen.
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Unter den zahllosen Luther-Neuerscheinungen der Saison ragt Lyndal Ropers ausnahmslos gefeierte Biografie eindeutig heraus. Zu den Rezensenten zählte der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann - selbst Autor eine aktuellen Geschichte der Reformation - der sich in der FAZ freute, dass er in Ropers Biografie auch originelle Perspektiven und Akzente, wie den Blick auf das mansfeldische Bergbaumilieu,
Luthers Lebensfreundschaften oder seine Wahrnehmung der Körperlichkeit
fand. Diese spielt eine besondere Rolle, betonen alle Kritiker. Luther
war drastisch, der Sexualität nicht feindlich gesonnen. Und Röper
versuche Luther erstmals "leibseelisch" zu begreifen, so Elisabeth von Thadden in der Zeit,
die erzählt, das Roper zehn Jahre lang die osteuropäische Provinz auf
sich nahm, um die Quellen zu Luther zu studieren und zu bündeln.
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