Viola Roggenkamp

Familienleben

Roman
Cover: Familienleben
Arche Verlag, Zürich - Hamburg 2004
ISBN 9783716023259
Gebunden, 437 Seiten, 23,00 EUR

Klappentext

Hamburg, 1967. Eine alte, abbruchreife Villa im feinen Harvestehude. Fania Schiefer, dreizehn Jahre alt, findet sich nicht zurecht, weder in ihrer deutschen Muttersprache noch in ihrer deutschen Vaterstadt.Ihre jüdische Mutter hat mit Hilfe des Vaters die Nazizeit überlebt. Jeden Montagmorgen wird Paul Schiefer, Vertreter für Brillengestelle, mit Winken und Küssen verabschiedet und jeden Freitag ebenso überschwenglich von seiner Frau , den beiden Töchtern und seiner Schwiegermutter wieder empfangen. Während der Woche wacht Alma Schiefer liebevoll-unerbittlich über das Leben ihrer Familie, in der Weinen und Lachen, übergroße Nähe und der Wunsch nach Trennung miteinander verknüpft sind. Aus der Enge und Verzauberung der familiären Innenwelt findet die Ich-Erzählerin Fania leise ihre Spur nach draußen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.06.2004

Viola Roggenkamps "Familienleben" entwickelt ein feuchtwarmes Biotop, meint Kristina Maidt-Zinke, dem sich die Leser entweder widerstandslos überlassen oder schnellstmöglich zu entkommen trachten müssten, um nicht darin einzugehen. Maidt-Zinke scheint der 13jährigen Ich-Erzählerin Fania, die aus einer deutsch-jüdischen Familie stammt und die Besonderheiten ihres Lebens im Nachkriegsdeutschland der 60er Jahre schildert, zunächst recht gerne gefolgt zu sein. In dem Roman wimmelt es nur so von Küssen, erzählt sie amüsiert, physische Nähe spiele eine ganz große Rolle und erfülle die Funktion, Geborgenheit zu stiften und Ängste zu stillen, die auf die Traumatisierung der Familie während des Dritten Reiches zurückzuführen seien. Wie die Überlebenden und ihre Kinder in der frühen Bundesrepublik lebten, das habe in dieser Form noch niemand so berichtet, hebt Maidt-Zinke hervor. Diese Familie nähme sich geradezu exotisch im Vergleich zu dem biederen bundesdeutschen Milieu aus. Kritik übt die Rezensentin an zwei Punkten: der Roman spielt im Jahr 1967, und obwohl die Autorin journalistisch genau recherchiert habe, seien die atmosphärischen Details dieses Umbruchjahres nicht richtig eingefangen. Der Roman transportierte eher das Kolorit der 50er und frühen 60er Jahre. Das zweite Argument Maidt-Zinkes wiegt schwerer: der Roman atme ein Jungmädchenpathos, das sich ständig an der Grenze zum Kitsch bewege. Die Suche nach jüdischer Identität und sexuelle Selbstfindung seien hier zu einer - feministisch überhöhten - Sache vermengt.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 22.05.2004

Der Rezensentin Angelika Overath zeigt sich angetan von Viola Roggenkamps Roman "Familienleben", sie beschreibt ihn als "Entwicklungsroman und Sittenbild aus den sechziger Jahren". Im Mittelpunkt stehe das Alltagsleben der deutsch-jüdischen Familie Schiefer, deren Elterngeneration den Holocaust überlebt hat. Die Geschichten dieser Generation, so die Rezensentin, sind allerdings schon geschrieben worden. Das Neue an Roggenkamps Geschichte sei die Perspektive der Nachgeborenen, der "Kinder, die mit den Traumatisierten leben", die in deren "fremde Angst" eingeübt werden, bis sie von ihr mehr geprägt sind, als von "möglichen eigenen Erfahrungen", von denen sie aus Angst "künstlich abgeschirmt" werden. Am stärksten und gleichzeitig am literarischsten findet die Rezensentin das Buch, wenn Roggenkamp "das Detail ernst nimmt", wenn sie die Genauigkeit eines Reporters an den Tag legt. Am schwächsten und unglaubwürdigsten werde der Roman, wenn die Autorin zu sehr literarisch werden wolle, etwa in Fanias Traumfantasien, die der Rezensentin "beliebig" und aufgrund ihrer alttestamentlichen Sprache schon fast "komisch" vorkommen. Völlig unstimmig sei jedoch die Liebeszene zwischen Fania und einer Freundin ihrer Mutter. Auch leidet der Roman für die Rezensentin unter einer "prinzipiellen Schieflage": Einerseits schreibe die Autorin aus der Perspektive einer Dreizehnjährigen, andererseits aber wolle sie ein differenziertes Bild der Zusammenhänge geben und mische ihre eigene, reifere Stimme in die von Fania, die damit stellenweise unglaubwürdig werde. Alles in allem jedoch findet Overath den Roman "spannend" und "voller Alltagswitz".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 22.04.2004

Eine "Lücke im kollektiven Gedächtnis" des Wirtschaftswunder-Deutschlands hat Viola Rogggenkamp mit ihrem ersten Roman geschlossen, lobt Andreas Nentwich. Die Geschichte von zwei Mädchen im schönsten Backfischalter und damit auf der ewigen Suche nach der eigenen Identität, stünde im Vergleich zu anderen Werken "quer im bundesdeutschen Schrebergarten". Das ganze "Spektrum deutscher Ansichten" vor 1968 schildere die Autorin auf eine eigene "untypische" und exotische Weise, und der Rezensent glaubt zu wissen, warum. Witz, Wärme und die "kluge Ambivalenz" der Erzählung seien Früchte eines wunderbar komplizierten, "unspießigen" Familienlebens der Autorin, die in ihren Beschreibungen das "Klima" im biederen Nachkriegsdeutschland immer treffe.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 14.04.2004

In dem "einfühlsam, furiosen wie liebevoll-kritischen Porträt" des Alltagslebens einer jüdisch geprägten Familie sieht Barbara von Ecker eine "seltene Kostbarkeit an Kulturgeschichte, auch von Kulturgeschichte in Deutschland." Viola Roggenkamp schildert in ihrem autobiografisch inspirierten Roman das Leben einer deutsch-jüdischen Familie nach 1945, das von den traumatischen Erfahrungen der Vergangenheit bestimmt ist und sich überwiegend zwischen den Frauen abspielt. Der Vater arbeit wochentags, kehrt erst am Wochenende wieder heim. Zwischen den zwei Töchtern besteht eine besondere Beziehung, die Becker als "einzigartigen Kokon aus Liebe, Fürsorge, Trennungs- und Verlustängsten" beschreibt. Die besondere Form der Familienbeziehung offenbare sich darin, dass die Küsse zwischen den Familienmitgliedern schon weit über Zärtlichkeitsbekundungen hinausgehen: "meine Eltern füttern uns mit Küssen, und wir füttern sie, wir lecken ihnen ihre Unruhe aus dem Gesicht", zitiert unsere Rezensentin, die es geradezu "grandios" findet, wie Roggenkamp nur in Andeutungen eine Welt "an Farbigkeit, Kraft, Witz, Menschlichkeit" öffnet und das "Vorhandensein und die Verdrängung des Jüdischen erzählerisch sinnlich" macht.
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