Rafael Chirbes

Der Fall von Madrid

Roman
Cover: Der Fall von Madrid
Antje Kunstmann Verlag, München 2000
ISBN 9783888972430
Gebunden, 301 Seiten, 20,35 EUR

Klappentext

Der "Fall von Madrid": Das ist ein besonderer Tag. Der Tag, an dem Franco stirbt. An dem Jose Ricart 75 Jahre alt wird. An dem seine Schwiegertochter Olga für ihn ein Fest vorbereitet. An dem die Geheimpolizei einen alten kommunistischen Arbeiter erschießt. Der Tag, an dem in einem überfüllten Bus, der an Francos Domizil vorbeifährt, die Leute plötzlich aus vollem Hals anfangen zu singen: Adieu von Herzen! Rafael Chirbes erzählt einen einzigen Tag im Leben der Familie Ricart und entwirft zugleich ein Familienepos über drei Generationen, in dem sich der Aufbruch Spaniens in eine neue Zeit spiegelt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.12.2000

Eberhard Falcke gefällt Rafael Chirbes` Roman, in dem der Autor ein Gesellschaftspanorama von Spanien im November 1975 - Diktator Franco liegt im Sterben - entwirft. Er lobt die "Multiperspektivität und Vielstimmigkeit" und vergleicht Chirbes mit Max Aub, der über den spanischen Bürgerkrieg schrieb. In "Der Fall von Madrid" beschreibe Chirbes Menschen, die zwar in einem losen Verbund miteinander stehen, den gesellschaftlichen Umbruch aber von sehr verschiedenen Perspektiven aus sehen. Trotz der großen Gegensätze, die er hier zusammenführt, vermeidet er nach Falckes Meinung ein polarisiertes, schwarz-weißes Gesellschaftsbild, sein Blick gilt vielmehr den Nuancen und Widersprüchlichkeiten. Dabei beweist er psychologisches Feingefühl, lobt der Rezensent: Chirbes " treibt seine Sonden und Sensoren hauptsächlich in die Gefühlsschichten der Figuren vor, dorthin, wo Ereignisse sich in Empfindungen verwandeln". Trotz der sensiblen Darstellungsweise entdeckt Falcke in dem Roman einen subtilen, ironischen Kommentar zu der Tatsache, dass Francos Diktatur erst durch dessen Tod beendet wurde: "So verrät jede Gesellschaft ihren Charakter durch die Art der Umwälzungen, die sie produziert."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.12.2000

Hans-Jürgen Schmitt verleiht seiner tiefen Enttäuschung über diesen Roman des spanischen Autors, den er durch frühere Romane schätzen gelernt hat, wortreich Ausdruck. Scheint ihm die Exposition des Buches, das den Sterbetag Francos als epochemachendes Datum für die Madrider Gesellschaft entwirft, noch "vielversprechend", ist er bald ermüdet vom "umfassenden Personenensemble", das Chirbes auftreten lässt. Die Porträts der zahllosen Figuren sind zumeist "Karikaturen", für die der Leser "kaum Interesse" entwickeln kann, und lediglich bei den "kleinen Leuten" gelingt die Darstellung wirklicher Menschen, bemängelt der Rezensent. Ihm fehlt es insgesamt an "Zuspitzung und Höhepunkten", was sich besonders bei der Protagonistin Olga bemerkbar mache, die "seitenlang leeres Stroh" drischt, wie Schmitt bissig anmerkt. Auch die Übersetzerin kommt bei dem Rezensenten nicht besonders gut weg, der ihr vorwirft, an der "hohen Tonlage" des Romans nicht ganz unschuldig zu sein.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.11.2000

Für Kersten Knipp entwirft Rafael Chirbes ein düsteres Psychogramm der zu Ende gehenden Franco-Epoche. Wirkliche Helden, die mit einem Aufruf zum Widerstand ihr Leben riskierten, gebe es bei Chirbes kaum, meint Knipp, er folge der Einsicht seines Landsmannes Cervantes, dass "die Heimstatt des Großmuts einzig und allein die Sprache ist". Unter die Haut geht ihm darum vor allem die Charakterisierung jener Studenten- und Intellektuellenschickeria, die im Madrid der 70er Jahre antifranquistische Parolen schwingt, wie beispielsweise die Künstlerin Ada, die den "Müll des Faschismus" sammelt, verwertet und damit im spätfranquistischen Spanien Karriere macht. Gute und Böse unterscheiden sich bei Chirbes kaum, fasst Knipp zusammen, da gebe es eher große und kleine Unaufrichtigkeiten, verstrickt aber seien alle, was für eine insgesamt deprimierende Atmosphäre sorge. In seiner Besprechung verweist Knipp auf einen bislang nur auf spanisch vorliegenden Roman des "El Pais"-Redakteurs Cebrian, der den Aufbruch Spaniens in die Demokratie viel optimistischer schildere. Das "scheinbar so schillernde moralische Farbenspektrum" bei Chirbes ergebe in der Summe erstaunlicherweise, so Knipp, "ein trübes Grau".

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 19.10.2000

Walter van Rossum preist dieses Buch als "Meisterwerk", dessen "Kühnheit" darin liege, aus einem bestimmten geschichtlichen Ereignis einen wirklichen Roman zu machen und nicht nur ein Geschichtsbuch in Romanform. Indem der Autor die verschiedensten Stimmen zu Gehör bringt, schafft er ein beeindruckendes Gesellschaftsbild Spaniens zur Zeit von Francos Tod, schwärmt der Rezensent. Dabei sei die Romanhandlung so spannend, dass dem Leser suggeriert werde, der Ausgang der Geschichte sei noch offen, so der Rezensent beeindruckt. Er rechnet es Chirbes hoch an, dass er keine Opfer-Täter-Rechnung aufmacht, weder ein "Mahnmal des Bösen" errichtet noch die "Schreie der Opfer in Musik verwandelt" und statt dessen Fragen offenlässt, die die "übliche Kommentierung" geschichtlicher Tatsachen unterläuft.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 18.10.2000

Als ein `detailgenaues Mosaik des Zeitgeistes` schätzt Diemut Roether diesen Roman ein, der das Leben verschiedener Protagonisten am Tag vor Francos Tod schildert. Ein historischer Moment scheint hier eingefangen - denn der Tag ist nach Roether vergleichbar mit dem des Mauerfalls in Deutschland: Jeder weiß, was er an diesem Tag getan hat und verknüpft damit persönliche Erinnerungen. Aber so gut Roether Chirbes` literarisches Projekt gefällt, so sehr macht sie doch auch kritische Anmerkungen zu Chirbes` Figuren, die ihr zuweilen ein wenig als soziale Stellvertreter und als Klischees erscheinen. Dies gelte noch mehr für die Frauen als für die Männer. Denn während Roether selbst in der Figur des frankistischen Polizeichefs oder des durch frankistische Protektion hochgekommen Unternehmers noch eine gewisse Gebrochenheit erkennt, findet sie die Industriellengattin oder die Tochter aus gutem Hause mit revolutionären Ambitionen einfach überzeichnet. Entziehen kann sich Roether dem Roman dennoch nicht und führt dies auf Chirbes `ausgesprochen präzise Sprache` zurück.