Rudi Dutschke

Jeder hat sein Leben ganz zu leben

Die Tagebücher 1963-1979
Cover: Jeder hat sein Leben ganz zu leben
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2003
ISBN 9783462032246
Gebunden, 432 Seiten, 22,90 EUR

Klappentext

Herausgegeben von Gretchen Dutschke. Rudi Dutschke war einer der originellsten politischen Köpfe der Bundesrepublik. Er kämpfte für eine sozialistische Revolution in Westdeutschland und gegen den Spätstalinismus in Osteuropa. Er gehörte zu den wenigen Linken, die die deutsche Einheit forderten. Er war das Idol einer Generation, die den Wohlstandsmief wie die Verdrängung des Nationalsozialismus in Frage stellte. Rudi Dutschkes Tagebücher, die bisher nur in Auszügen bekannt waren, werden in diesem Band zum ersten Mal vollständig veröffentlicht. Dutschke beobachtet aufmerksam, manchmal aufgeregt die Ereignisse seiner Zeit. Er protokolliert die Angstattacken, die dem Attentat folgen. Er schildert, wie er sich müht, seiner Rolle als Mann, Ehemann und Vater gerecht zu werden. Die Tagebücher dokumentieren Zweifel und Ratlosigkeit und ebenso seine unbeirrbare Überzeugung, dass die Gesellschaft radikal verändert werden muss, damit der Mensch ein Mensch sein kann.

Im Perlentaucher: Rezension Perlentaucher

Sechzehn Jahre umfasst das Tagebuch von Rudi Dutschke. Es ist eine sensationelle Publikation. Es wird aufräumen mit dem Mythos von 1968. Damals fand keine Befreiung statt. Der Muff unter den Talaren wurde möglicherweise beseitigt. Aber nicht um endlich frische Luft zu haben, sondern um besser im eigenen Mief ersticken zu können. Auf 370 Seiten ist der mit weitem Abstand bekannteste Sprecher der außerparlamentarischen Opposition (APO), Rudi Dutschke (1940-1979), an keiner Stelle von irgendetwas begeistert. Nicht von der Liebe, nicht von der Natur, nicht von Schönheit. Nicht einmal. Es gibt zwei Stellen, an denen er vermerkt, dass es ihn freut, wenn er seine Kinder Musizieren hört. Sonst kommt Musik nicht vor. Essen und trinken spielen bei dem Anhänger des historischen Materialismus keine Rolle. Kein einziger Roman wird gelesen, kein Gedicht. Malerei kommt nicht vor. Die Natur lässt ihn kalt. Alles lässt ihn kalt. Und doch ist er immer erregt...
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.07.2004

Viel Neues liefern die Tagebücher Rudi Dutschkes zwar nicht, stellt Werner Bührer fest, "anrührend" findet der Rezensent jedoch, wie der Studentenführer sich nach dem Attentat um "die Rückgewinnung der Denk- und Sprachkompetenz" bemüht. Dass er von nun an erst einmal auf das Private verwiesen sein würde, sei Dutschke klar gewesen, auch wenn er weiterhin ein wacher Beobachter der politischen Entwicklungen geblieben sei. Überhaupt nimmt die Dichte der Einträge nach der gewalttätigen Zäsur auffällig zu - fünf Sechstel der Einträge sind überhaupt erst nach dem 11. April 1968 entstanden. Das "turbulente Jahr 1967" werde auf spärlichen 24 Seiten abgehandelt, und die ersten 100 Tage des folgenden Jahres finden in einem einzigen knappen Eintrag ihren Niederschlag. Am interessantesten inmitten all der bekannten Fakten erscheint dem Rezensenten "noch der Bericht über die Reise in die Sowjetunion 1965 und die damit verbundene Desillusionierung über den real existierenden Sozialismus". Dutschkes Fazit klingt tatsächlich trostlos: "Hoffnung hatten wir aus diesem Land nicht mitgebracht."
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 31.05.2003

Tagebücher im strengen Sinn, meint der Rezensent Rainer Hoffmann, sind das hier nicht. Dazu habe Dutschke zu viel an Aktion und Wirkung gelegen, für die Introspektion blieb nicht viel Zeit. Aus den Jahren "unserer kurzen Rebellionsperiode" sei wenig zu lesen, mehr schon aus der Zeit der Rekonvaleszenz nach dem Attentat. Uninteressant ist der Band, so Hoffmann, dennoch nicht, ein neuer Blick auf die "Brüche, Kontinuitäten und vielfältigen Kontexte" werde durch die vorhandenen Reflexionen, Skizzen, Notizen durchaus möglich. Vom Anfang der 60er Jahre etwa datiert ein Gebet, das die Gläubigkeit des frühen Dutschke vor Augen führt. Besonders beeindruckt zeigt sich Hoffmann von der "bedrückend präsenten Mühsal" der Wiedergewinnung der Welt nach dem nur ums Haar fehlgeschlagenen Mordversuch an Dutschke. Die "immensen Anstrengungen", die Dutschke unternahm, das Engagement für die Grünen bis zu seinem Tod 1979, findet Hoffmann durchaus "bewundernswert".

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.04.2003

Antiautoritäre Studenten folgten imaginären Vätern - so geht Stephan Wackwitz zufolge der Plot des "linken Familienromans", der ins fundamentale Textwerk der Bundesrepublik einging und ausgerechnet Rudi Dutschke zu einem ihrer "Gründerväter" machte. Denn mit seiner Ausstrahlung des ewigen Bubens sei er nicht zufällig zur führenden Gestalt einer nach intellektuellen und moralischen Ersatzvätern suchenden Generation geworden, zu einer Figur populärer und emotionaler Anteilnahme. "Rührend und tragisch" seien auch seine Aufzeichnungen, die noch einmal die "Unschuld und Vertrauensseligkeit" Dutschkes offenbarten. Überaus wichtig seien sie, weil sich gerade in der Gedankenformierung des viel lesenden, aber als Theoretiker unbedeutenden Dutschke die "lebenspraktische Unmittelbarkeit" abzeichne, mit der die Söhne und Töchter der Naziväter die Theorien der adoptierten Vorfahren in besseres Leben zu übersetzen versuchten. Und auch überraschend seien Dutschkes Tagebücher, weil zum ersten Mal deutlich werde, wie prägend seine religiöse Frömmigkeit war.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.03.2003

Im Italowestern der APO, weiß Barbara Sichtermann, war Baader der "Böse", Krahl der "Philosoph" und Rudi Dutschke der "Gute". Der Gute? Wie kam es eigentlich dazu? Seine jetzt veröffentlichten Tagebücher haben ihr eine Antwort gegeben; Dutschkes "christliche Haltung" und "freundlich-gelassene Art" waren ja schon bekannt, jetzt aber werde deutlich: "Der Mann war ein Kämpfer", ein Draufgänger - idealistisch, ungebrochen und tragisch. Wie er nach seiner schweren Verletzung wieder um körperliche und geistige Gesundheit rang, wie er bis zuletzt von der Weltrevolution träumte, obwohl die politische Lage keinen Anlass dazu bot, das habe Dutschke so sympathisch gemacht. Ebenso die "Selbstverständlichkeit, mit der er als Revolutionär zugleich Familienvater war". Und all das - die politischen Bestandsaufnahmen, das tägliche Rehaprogramm, die Kontaktpflege, die Entwicklung seiner Kinder, die Resignation und die nie ganz verebbende Hoffnung - könne man jetzt nachlesen, "wie es aussieht unzensiert, allen Privatkram einschließend". Sichtermann hat das "mit großer Anteilnahme" getan.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 20.03.2003

"Ein Dokument: berührend, aufregend, Applaus und Kritik gleichermaßen provozierend. Anteilnahme allemal." Fritz J. Raddatz hat noch einmal mit Rudi Dutschke gelitten, hat seinen Kampf um Gesundheit nach dem Attentat bewundert - und um ihn getrauert. Mehr noch aber ist er verzweifelt an seinem politischem Denken, wie er es in den Tagebüchern wieder vorgefunden hat: ein hastig zusammengelesener "Instant-Marxismus" sei das, der dem gläubigen Dutschke zugleich als Religion diente - ein "atemloser Wirbel toter, weil nicht wirklich durchdachter Begriffe". Ein Anspruch, wie er idealistischer nicht sein könnte, aber - und hier offenbart sich Raddatz das tragische Scheitern Dutschkes - eine Lebenspraxis wie "jeder Kreissparkassenangestellte", nicht wie der von ihm beschworene "neue Mensch". All das bezeugen diese Aufzeichnungen und ergeben, so Raddatz, die "Skizze zu einem Selbstporträt". Eine "haarsträubend" schlampig edierte allerdings, schimpft er abschließend auf Verlag und Lektoren, zählt eine lange Liste von Verfehlungen auf und fordert, auf das "Gebot des noblen Umgangs mit dem Nachlassbuch Rudi Dutschkes" pochend, eine Neuausgabe.