Literatur
Die in den 1920er Jahren geschriebenen Romane des russischen
Schriftstellers Andrej Platonow konnten in der Sowjetunion nicht
erscheinen, erst in den 1980er Jahren, rund dreißig Jahre nach Platonows
Tod, setzte seine Wiederentdeckung ein. Als sein Hauptwerk gilt der
dystopische Roman "Tschewengur", doch die Rezensenten sind sich einig,
dass ihm "Die Baugrube" in nichts nachsteht. Das liegt nicht zuletzt an Gabriele Leupolds Übersetzung, die die als unübersetzbar geltende Vielstimmigkeit des Romans kongenial ins Deutsche überträgt, staunen die Kritiker einhellig. Es geht um die Zeit des ersten Fünfjahresplans in der Sowjetunion, der forcierten Industrialisierung unter Stalin,
die der Autor "tiefschwarz", aber wirklichkeitsgetreu schildert und das
Geschehen zugleich in "phantasmagorischen", poetischen Bildern voller
Drastik so beschreibt, dass es geradezu zeichenhaft "entrückt"
erscheint, schwärmt Katharina Granzin in der FR. Für Tim Neshitov (SZ)
ist die Geschichte um Arbeiter, die einen eindrucksvollen
kommunistischen Bau errichten wollen, dabei jedoch nicht über die Grube
hinauskommen und sich stattdessen in Gefasel, im Resümieren, im Sterben
und Morden verfangen, eindeutig Platonows "Meisterwerk"; für Karla
Hielscher (DLF) ist das Buch "in seiner ergreifenden Merkwürdigkeit einzigartig in der Literaturgeschichte". Hochaktuell nennt den Roman in der Welt Florian
Schmiedler, den die Kluft zwischen politischen Ideen und der davon
betroffenen unbeachteten Arbeiterschicht an die Wutbürger von Pegida und
AfD-Wählern denken lässt. In der FAS hat Andrzej Stasiuk ein großartiges Porträt von Platonow geschrieben, in dem es über "Die Baugrube" heißt, es sei "im 20. Jahrhundert kein schöneres, furchtbareres und klügeres Buch über Totalitarismus und Utopie geschrieben worden."
Buch bestellen
Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag legt Paul Auster seinen
bislang umfangreichsten Roman vor, und wenn man den Kritikern glauben
mag, ist ihm damit ein wirklich großer Wurf gelungen. Vier verschiedene Varianten
der Lebensgeschichte seines Protagonisten Archibald Ferguson erzählt
der Autor und lotet so die große Frage aus, ob Charakter oder Zufall den
Lebensweg bestimmen, fasst Adam Soboczynski in der Zeit zusammen
und versichert, "seit Langem keinen so guten, so durch und durch
widersprüchlichen, so anrührenden, so verspielt leichten und zugleich philosophisch ambitionierten Roman" gelesen zu haben. Ähnlich klingt das bei Peter von Becker im Tagesspiegel ("ein Meisterwerk"), Gabriele von Armin im DradioKultur ("ein grandioses Werk") und Christoph Schröder im DLF ("über weite Strecken ein großes Buch"). Dass die Geschichte zur Zeit der Rassenunruhen, Vietnamkriegsproteste,
Bürgerrechtsbewegung und Studentenunruhen angesiedelt ist, macht die
Lektüre in den ersten Trump-Tagen zu einer gespenstischen Lektüre, meint Judith von Sternburg in der FR: "So nah und fern zugleich". In der FAZ staunt Andreas Platthaus, wie es den Übersetzern
Thomas Gunkel, Werner Schmitz, Karsten Singelmann und Nikolaus Stingl
gelingt, einen einzigen, unverkennbaren Ton zu treffen. Einzig Burkhard
Müller (SZ) findet das Buch "ziemlich öde" und "für das, was es liefert, definitiv zu lang".
Buch bestellen
Eine magisch-realistische "Wunderkugel" von einem Roman hat Juliana
Kálnay mit ihrem Debüt "Eine kurze Chronik des allmählichen
Verschwindens" vorgelegt, staunt Simon Strauss in der FAZ: wie die Autorin in kurzen, leichthändig verknüpften und stimmungsvollen Vignetten vom Leben in einem geheimnisvollen Mietshaus erzählt, findet Strauss fantasievoll, achtsam und geradezu "romantisch dicht". In der FR freut
sich Cornelia Geißler, dass Kálnay ihre im Studium des Kreativen
Schreibens in Hildesheim erworbenen Fähigkeiten nicht dazu nutzt, eigene
Erfahrungen zu verarbeiten, sondern um die Sprache selbst zu erforschen. Cornelius Wüllenkemper (SZ), beeindruckt von der Leichtigkeit, mit der die Autorin Tonlagen, Erzählhaltungen und Formen variiert, fühlt sich an ein Wimmelbild erinnert. Laut Rainer Moritz (Welt)
findet Kalnay dabei trotz unverkennbarer Vorbilder - etwa Joyce,
Cortázar und Perec - einen "ganz eigenen, sympathisch skurrilen Ton".
Der SWR hat den Roman in seine aktuelle Bestenliste aufgenommen. Und für Lettrétage hat sich Michael Lösch mit der Autorin unterhalten.
Buch bestellen
Fasziniert und verstört sind die Rezensenten von Lukas Bärfuss' Kurzroman "Hagard", in dem ein Immobilienmakler
anderthalb Tage lang eine ihm unbekannte Frau durch Zürich verfolgt.
Als "Zauberkünstler, der mit doppelten Böden und Spiegeltricks
arbeitet", offenbart sich der Autor dabei für Richard Kämmerlings (Welt),
der im Verhältnis vom Ich-Erzähler zum Protagonisten und von diesem
wiederum zur weiblichen Zielperson raffiniert das Verhältnis vom Autor
zu seinen Figuren gespiegelt sieht: sie alle sind Stalker. Philipp Theisohn (NZZ) versteht
den Text dementsprechend als beredten Zweifel an seiner eigenen
Legitimation, was den Roman für ihn zu einem "literarischen Erlebnis"
macht. In der Zeit hebt Andreas Isenschmidt die "rhetorisch hinreißende Misanthropie" des Helden hervor, im DradioKultur bezeichnet Jörg Magenau das Buch als eine "kleine, brillante Geschichte mit einer großen Wirkung" und für Meike Fessmann (SZ)
ist der Roman mit seinen meisterhaft eingeflochtenen
zeitgeschichtlichen Bezügen ein "wildes", traumspielerisches "Wunder".
Kritischer vernimmt sich Martin Ebel im Tages-Anzeiger:
er meint, bei der Lektüre dem Kampf des Romanautors Bärfuss mit dem
Leitartikler Bärfuss beizuwohnen und stellt enttäuscht fest: "Der
Romancier hat ihn verloren."
Buch bestellen
Ganz wohl ist nicht allen Kritikern dabei, dass die große Salzburger
Gesamtausgabe der Werke und Briefe Ingeborg Bachmanns mit bisher
unveröffentlichten - und auch nicht zur Publikation bestimmten - therapeutischen Traumaufzeichnungen, Briefentwürfen und Bachmanns fiktiver Rede an die Ärzteschaft
beginnt. Daran, dass die Texte von hoher Qualität und ebenso hoher
werkgenetischer Bedeutung sind, lassen die Rezensenten jedoch keinen
Zweifel. Für Paul Jandl (NZZ) handelt es sich dabei nicht nur um "Prosaminiaturen, deren böse Bilder
vom richtigen Leben bis in den Schlaf leuchten", sondern um "zitternde
Nachbilder der Angst", die in ein literarisches Bewusstsein geholt
wurden und nur über einen kurzen Umweg in "Malina" wieder auftauchen.
Für Iris Radisch (Zeit)
sind die nach Bachmanns Trennung von Max Frisch verfassten Texte nicht
weniger als eine "Sensation", gewähren sie doch ganz neue Einblicke
nicht nur in die produktive Beziehung zwischen Leiden und Schreiben im Leben der Dichterin, sondern auch in Werke wie "Malina" oder den "Todesarten-Zyklus". "Durch diese Edition werden neue, fundiertere Bachmann-Analysen möglich", freut sich Helmut Böttiger im DLF und referiert einige neue Erkenntnisse zur schwierigen Beziehung zu Frisch. Im DradioKultur präsentiert
Elke Schlinsog den Auftakt zur Gesamtausgabe mit zahlreichen Zitaten
aus dem Band sowie O-Tönen von den Herausgebern und Heinz Bachmann, dem
Bruder der Dichterin. Frank Meyer hat außerdem mit den Herausgebern Hans
Höller und Irene Fussl gesprochen.
Buch bestellen
Sachbuch
Den Holocaust nicht nur als spezifisch deutsches Phänomen zu verstehen, sondern in den Kontext eines europäischen Antisemitismus
zu stellen, hat sich der Historiker Götz Aly in "Europa gegen die
Juden" vorgenommen. Der Realität der Judenverfolgung kommt er dabei so
nahe, dass sich das Buch nur in kleinen Abschnitten ertragen lässt, wie
Arno Widmann in der Berliner Zeitung warnt: "Die Wirklichkeit ist ein Splattermovie". Für Michael Kuhlmann (DLF) kommt die Studie gerade zur rechten Zeit, führt sie doch vor, wie Nationalismus
zu Diskriminierung führt - ein auch heute wieder zu beobachtender
Vorgang. Dass der Autor Antisemitismus als antikapitalistischen Affekt
beschreibt, der aus dem Neid auf den Erfolg der Juden im modernen Europa resultiert, findet Stefan Reinecke in der taz
zwar nicht unzutreffend, bedauert jedoch, dass Aly zugunsten dieses
einen Erklärungsmusters andere aufschlussreiche Aspekte ausblendet.
Ähnlich äußert sich Sven Felix Kellerhoff (Welt), der dem Band gleichwohl "ausgearbeitete Gedankenblitze" attestiert. Im DradioKultur haben sich Vladimir Balzer und Axel Rahmlow, im NDR Ulrich Kühn mit Aly unterhalten. Der Perlentaucher hat den Abschnitt über die Konferenz von Evian 1938 vorgeblättert.
Buch bestellen
Wie sich Menschen die Zukunft vorstellen, sagt naturgemäß mehr über die
Gegenwart als über die Zukunft aus. In "Geschichte der Zukunft"
untersucht der Historiker Joachim Radkau Zukunftsvisionen und
Prognosen in Deutschland seit 1945 und malt daraus ein "Wimmelbild"
voller "Kuriositäten und Gedankenblitze", heiter, überraschungsreich und
kunstfertig, freut sich Elisabeth von Thadden in der Zeit. Einen "gesunden Pessimismus" macht Wolfgang Luef (SZ) im Zukunftsbild der Deutschen aus, etwa was das Waldsterben
angeht, und lernt, allzu sicheren Prophezeiungen grundsätzlich zu
misstrauen. Dass der Autor dabei der Versuchung widersteht, "sich in
einer hämischen Besserwisserei der Retrospektive zu ergehen", hebt Stefan Maas im DLF lobend hervor. Verhaltener zeigt sich Alan Posener in der Welt: Während er dem Autor exzellente Kenntnisse von technischen Themen wie Atomindustrie, Raumfahrt und Kybernetik bescheinigt, bietet ihm Radkau zu den Themen Globalisierung, Migration und "Multikulti" kaum mehr als Wikipedia-Wissen. Fürs DradioKultur haben sich Liane Billerbeck und Hans-Joachim Wiese mit Radkau unterhalten.
Buch bestellen
Der im vergangenen Jahr neunzigjährig gestorbene Pierre Boulez
gehörte zu den renommiertesten Dirigenten seiner Zeit und als Komponist
zu den herausragenden Vertretern der musikalischen Avantgarde. Der
Bamberger Musikwissenschaftler Martin Zenck legt nun die erste
umfassende Studie über Boulez' Gesamtwerk in deutscher Sprache vor, die
Olaf Wilhelmer in der FAZ sehr begrüßt. Besonders freut sich der Rezensent, dass der Autor Boulez nicht nur als Dirigenten und Komponisten begreift, sondern ihn auch als Theatermacher
würdigt und seine Verbindungen zur zeitgenössischen Philosophie klug
darlegt. Neben der überzeugenden Analyse, die das gängige Boulez-Bild
mal bestätigt, mal revidiert, liest Wilhelmer hier nicht zuletzt eine
formidable "Abenteuerreise" durch die Geistesgeschichte
des zwanzigsten Jahrhunderts. Dennoch hätte der Kritiker dem Buch ein
sorgfältiges Lektorat gewünscht, das Redundanzen kürzt und
"komplizierte" Formulierungen und "Flüchtigkeitsfehler" ausbessert. Zum
Einstieg ins Thema kann man Zencks Würdigung zum neunzigsten Geburtstag
des Komponisten im März 2015 in der NZZ lesen.
Buch bestellen
Georg Forsters Bericht der "Reise um die Welt", die er als erst
zwanzigjähriger Begleiter der zweiten Weltumsegelung von Captain Cook
1775/1776 verfasst hatte, ist längst ein Klassiker der Reiseliteratur.
Sehr viel weniger bekannt sind Forsters fünfzehn Jahre später
entstandenen "Ansichten vom Niederrhein" - zu unrecht, wie die Rezensenten einhellig feststellen. Zur Erstveröffentlichung wenig beachtet, ist für Uli Hufen (DLF) jetzt die Zeit gekommen, Forsters zweitem "Meisterwerk" die gebührende Würdigung zukommen zu lassen. Alexander Kosenina (FAZ) zeigt sich fasziniert vom Scharfblick des Autors auf Details der Menschheitsgeschichte, der Revolution namentlich,
die Forster in Analogien zwischen Natur und Politik, in spannenden
Kontexten und in Abgrenzung zu moralphilosophischen Sichtweisen zeitlos
verpackt - und das alles in einem "lockeren, auch heute noch leicht
lesbaren Plauderton", wie Tobias Schwartz im Tagesspiegel betont. Nicht weniger als ein "Jahrhundertbuch" ist mit den in der Anderen Bibliothek als reich illustrierte Folio-Ausgabe neu aufgelegten "Ansichten" zu entdecken, versichert Benedikt Erenz in der Zeit: sie sind das politische Vermächtnis des wenig später in Paris verstorbenen Autors und aktueller denn je.
Buch bestellen
Ein Drittel der weltweiten Rohstoffvorkommen liegt unter der
Erdoberfläche Afrikas, doch für den allergrößten Teil der Bevölkerung
bewirkt dieser Reichtum nicht Wohlstand, sondern Armut, Kriminalität, Korruption und Gewalt. In "Der Fluch des Reichtums" beleuchtet Tom Burgis, Reporter der Financial Times, nicht nur die globalen wirtschaftlichen Zusammenhänge, sondern schildert auch konkrete Einzelfälle und benennt klar die Verantwortlichen, berichtet Isabel Pfaff in der SZ, die dem Buch "seltene empirische Tiefe" bescheinigt. Im Freitag hebt
Jan Pfaff hervor, dass sich der langjährige Afrika-Korrespondent Burgis
mit seinen Recherchen nicht auf Afrika beschränkt, sondern das internationale Geflecht
von Spekulanten, Großkonzernen, Schmugglern und Warlords aufdeckt, in
dem "Interessen von Hedgefonds und multinationalen Konzernen mit denen
chinesischer Geschäftsleute kollidieren". Auf diese Weise kommen
"Biografien und kunstvoll kaschierte Machtkonstellationen, die bisher der Öffentlichkeit größtenteils verborgen waren", ans Licht, meint Marko Martin im DradioKultur. In der Zeit rechnet
Christiane Grefe es dem Autor hoch an, dass er "in bester britischer
Journalismustradition" auf jedes "Empörungspathos" verzichtet.
Buch bestellen
|
Büchersuche
Das Buch beim Perlentaucher
|
|