Michael Hagner

Der Hauslehrer

Die Geschichte eines Kriminalfalls. Erziehung, Sexualität und Medien um 1900
Cover: Der Hauslehrer
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010
ISBN 9783518422045
Gebunden, 280 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Im Oktober 1903 findet in Bayreuth ein aufsehenerregender Kriminalprozess statt. Der 23-jährige Jurastudent Andreas Dippold ist angeklagt, als Hauslehrer seine beiden Schüler körperlich so sehr gezüchtigt zu haben, dass einer der Jungen an den Folgen der Misshandlung starb. Der Hauslehrer beharrt auf der Rechtmäßigkeit seines Tuns, weil sich seine Zöglinge dem Laster der Onanie hingegeben hätten. Die großbürgerlichen Eltern der Vater steht an der Spitze der Deutschen Bank setzen alle Einflusshebel in Bewegung, um den Angeklagten als gemeingefährlichen Sexualstraftäter hinzustellen. Das Gericht bewahrt sich seine eigene Sicht und verurteilt Dippold zu acht Jahren Zuchthaus. Es folgt ein Aufschrei der Empörung, Prozeßbeobachter und die breite Öffentlichkeit sind ob des aus ihrer Sicht zu milden Urteils entsetzt. Eine erregte Auseinandersetzung in den Zeitungen des Kaiserreichs beginnt, an der sich auch angesehene Publizisten wie Maximilian Harden beteiligen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 05.10.2010

Für Jutta Person ist dem Wissenschaftshistoriker Michael Hagner mit seinem Buch über einen skandalösen Kriminalfall von 1903 nicht weniger als ein "Meisterstück" gelungen. Die Studie beleuchtet einen die Öffentlichkeit, die Wissenschaft und die Justiz aufpeitschenden Fall, in dem der Hauslehrer Andreas Dippold einen 14-jährigen Schüler totgeprügelt hatte und im Lauf der gerichtlichen Verhandlung zum "Monstrum" eines sadistischen Pädagogen stilisiert wurde, erklärt die Rezensentin. Beispielhaft arbeite der Autor die "Dynamik" der öffentlichen Diskussion und die Entstehung einer wissenschaftlichen Begriffsbildung heraus ("Dippoldismus" wurde die Bezeichnung für pathologisches Prügeln). Zudem erhalte das Thema im Licht der jüngsten Entdeckungen von Missbrauchsfällen an pädagogischen Instituten und Diskussionen über "erblich minderwertige Menschen" eine bestürzende Aktualität, findet Person.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 04.10.2010

Einen zwiespältigen Eindruck hat Michael Hagners Studie über einen Kriminalfall Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts bei Hans Ulrich Gumbrecht hinterlassen. Die Aufbereitung des Falls des Hauslehrers Dippold, der 1903 seinen Schützling, den 14-jährigen Bankierssohn Heinz Koch zu Tode prügelte, hält er für sehr gelungen, reich an Details und durchaus unterhaltsam. Nicht so ganz glücklich scheint Gumbrecht mit dem Versuch des Autors, diesen komplexen Fall zu analysieren und zu verstehen. Er vermisst bei all den psychologisch oder sozialhistorisch relevanten Ansätzen, die der Autor bemüht, letztlich eine "prägnante Beurteilung" oder eine "These". Hagner, so das Gefühl des Rezensenten, läuft Gefahr, "in der von ihm gekonnt aufgefächerten Diskursvielfalt zu verschwinden". Gleichwohl zeigt er sich beeindruckt von der literarischen Qualität" der Erzählungen, mit denen das Buch ausklingt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.10.2010

Im Jahr 1903 trug sich im Fränkischen zu, was Gegenstand dieser Fallstudie des in Zürich lehrenden Wissenschaftshistorikers Michael Hagner ist. Der Hauslehrer Andreas Dippold prügelte einen ihm anvertrauten Zögling zu Tode. Der Fall erregte immenses Aufsehen, Karl Kraus schrieb einen klassischen Aufsatz darüber und viel fehlte nicht und man spräche heute von Dippoldismus statt von Sadismus. Was Hagner hier aufklärt, erläutert ein begeisterter Rezensent Andreas Platthaus, ist der ideologische Motivkomplex, der zur Tat führte. Dazu gehörte nämlich die im Aufschwung befindliche Reformpädagogik ebenso wie eine panische Reaktion auf die Masturbationsneigungen des Zöglings. Für sehr verdienstvoll hält Platthaus die Zurückhaltung des Autors, seine programmatische Weigerung, über den Einzelfall weit hinausreichende (auch theoretische Schlüsse) zu ziehen. Der Bezug etwa auf die Missbrauchsfälle der jüngeren Vergangenheit bleibe dem Leser überlassen. An "Intensität" und "kühler Brillanz" fehle es nicht, Platthaus fühlt sich, und meint das als großes Kompliment, deutlich an Michael Hanekes "Das weiße Band" erinnert.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 30.09.2010

Sehr beeindruckt ist Elisabeth von Thadden von diesem Buch des Wissenschaftsautors Michael Hagner, das in zweierlei Hinsicht überzeugt hat: Zum einen hat sie ebenso fasziniert wie schaudern den Fall des Hauslehrers Andreas Dippold gelesen, der die beiden ihm anvertrauten Söhne des Berliner Bankiers Koch so lange prügelte, bis einer von ihnen starb. Die Eltern waren nicht eingeschritten, der Hausarzt war nicht eingeschritten, einzig der Gärtner hatte gegen die unmenschliche Behandlung der Jungen protestiert. Zum anderen schätzt die Rezensentin sehr Hagners Vorgehensweise, ohne Wertungen zunächst den Fall so zu schildern, wie ihn die Akten hergeben, und dann die Machtverhältnisse zu untersuchen, die dazu führten, dass Pädagogik, Psychologie und Justiz dem pädagogischen Sadismus Vorschub leisteten. Vorbildlich findet Thadden dies: ein "Lehrstück, das niemandem etwas beibringen will". Das aber viel klüger macht.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.09.2010

Für Sylvia Staude hat das Buch von Michael Hagner über einen Hauslehrer, der 1903 vor Gericht stand, weil er einen Jungen in seiner Obhut totgeprügelt hatte, gerade im Licht der jüngsten Debatten über "Sicherheitsverwahrung", gerechtes Strafmaß und Schuldfähigkeit packende Aktualität. Der Wissenschaftshistoriker beleuchtet minutiös den Fall und richtete sein Augenmerk besonders auf die Wandlung der öffentlichen Meinung: war man zunächst der Meinung, der Pädagoge habe durchaus richtig gehandelt, so wurde er im weiteren Verlauf mehr und mehr zur "sexuellen Bestie" gestempelt, die aus Sadismus gehandelt habe, entnimmt Staude der Studie. Sie lobt Hagners Genauigkeit, mit der er diesem Fall recherchiert hat und ist, wie sie schreibt, "ernüchtert", wie ähnlich sich die öffentlichen Debatten von damals und heute sind.