Judith Kuckart

Kaiserstraße

Roman
Cover: Kaiserstraße
DuMont Verlag, Köln 2006
ISBN 9783832179564
Gebunden, 314 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Als Leo Böwe im Spätherbst 1957 durch die Frankfurter Kaiserstraße geht, hört er vom Mord an der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt. Der Name setzt sich in seinem Kopf fest wie der Name einer Geliebten, der er nie begegnet ist. Böwe ist im Begriff, eine Stelle als Vertreter für Waschmaschinen anzutreten, er lernt die Regeln des Geschäfts: "Der Verkauf beginnt, wenn der Käufer Nein sagt." Zehn Jahre später hat Böwe eine Tochter, Jule, die beiden haben es nicht leicht miteinander. Als Jule im Fernsehen den erschossenen Benno Ohnesorg sieht, beschließt sie: "Papi, wenn ich groß bin, erschieße ich dich auch." Durch fünf Jahrzehnte begleitet Judith Kuckarts großer Roman das Leben von Leo und Jule Böwe. Kaiserstraße ist ein Fotoalbum in Worten, in fünf Stationen verfolgt es die Entwicklung zweier gegensätzlicher Helden und markiert zugleich fünf Wendepunkte in der Geschichte der Republik: 1957, 1967, 1977, 1989, 1999. Und wie das Land sich verändert, verändern sich auch seine Bewohner. Es ist eine brüchige Karriere - denn verkaufen lässt sich vieles, Waschmaschinen ebenso wie Ideen, Werte und Politik. Verkaufen kann man am Ende auch sich selbst.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 28.03.2006

Judith Kuckart sei etwas gelungen, staunt Rezensentin Andrea Köhler, was nur allzu oft schief gehe, nämlich die in Klischees erstarrten 50er und 60er Jahre in lebendig Erinnerung zu rufen. Darüber hinaus reiche Kuckarts Roman bis in die Gegenwart und habe als "Aufhänger" der fünf Kapitel historische Ereignisse. Der Mord an einer Prominenten-Prostituierten 1975, die Erschießung Benno Ohnesorgs 1967, die Ermordung Hans Martin Schleyers 1977, der Mauerfall 1989 und die Jahrtausendwende 1999. Zentrale Figur des in parallelen Geschichten erzählten Romans, referiert die Rezensentin, sei Leo Böwe, ein ohne Liebe aufgewachsenes Trümmerkind, das im Adenauerdeutschland Karriere als Waschmaschinenvertreter mache und gewissermaßen die Träume aller vertrete. Aus einer beiderseits enttäuschenden Ehe wird Jule geboren, die mit 16 ein Kind bekomme, dass sie fortgebe. Ein Kreislauf der leer laufenden Sehnsüchte. Judith Kuckart, so die Rezensentin, hauche dieser traurigen Prosa der Wirklichkeit nun dadurch Leben ein, dass sie die Sprache ihrer Figuren zu einem "poetischen Kunstjargon" forme und zum Sprechen bringe. Hinter den "flotten Parolen" und "hemdsärmeligen Sprüchen" zeigten sich die "Wünsche", die "stumm rebellieren".

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 16.03.2006

Eine gewisse Schieflage glaubt Marion Lühe in Judith Kuckarts Roman "Kaiserstraße" auszumachen. Während die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte geradezu detailversessen in die Handlung eingeflochten werde, blieben die Figuren und ihre psychologische Motivation unterbelichtet. Die Rezensentin kann sich einfach nicht erwärmen für die unterkühlt geschilderte Vater-Tochterbeziehung zwischen dem Waschmaschinenvertreter und späteren Aufsteiger Leo Böwe und der 1960 geborenen Jule. Aber es geht ja um mehr: In der Entwicklung beider Figuren spiegelt sich zugleich die Geschichte der Bundesrepublik. Allerdings haben die wie "Duftmarken in jeden Abschnitt gesetzten Zeichen der Zeit" nach Ansicht Lühes etwas "Aufgesetztes, Requisitenartiges" - seien es "pastellfarbene Eisdielen" der 50er oder Miniröcke und Led Zeppelin in den 70er Jahren. Ambivalent sei auch die Sprache des Romans: Zwar finde dieser manch "schöne Bilder für die Traurigkeit und das Gefühl der Entwurzelung" von Jule und Leo. Häufig aber droht laut Lühe eine "wortkarge Lakonie, die Kuckart so glänzend beherrscht, in prätentiöse Abstraktheit" umzuschlagen.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.03.2006

Keine besonders sympathische Erscheinung ist der Held von Judith Kuckarts neuem Roman mit Namen Böwe: ein Profiteur des Wirtschaftswunders, ein politischer Hinterbänkler, ein bigotter Saubermann mit Ehefrau und Geliebter, so charakterisiert ihn Rezensentin Gabriele Killert. Man "sagt nein" zu ihm, zu seinem ganzen dumpfdeutschen Provinzlertum, stellt sie fest, werde aber trotzdem in seine Geschichte dank der starken Imaginationskraft und Empathie der Autorin hineingezogen. Killert vergleicht Kuckart an diesem Punkt mit Alfred Döblin, der sich ebenfalls dem "Normalfall Mensch" gestellt habe. Und dieser Normalfall Mensch sei zugleich die Bundesrepublik Deutschland, deren fünfzigjährige Geschichte die Autorin hier Revue passieren lasse. Dies erwirkt sie, indem sie im "filmischen Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren" auch die Tochter Böwes zur Sprache kommen lässt, wobei - Ironie der Geschichte - die rebellische Tochter am Ende verbürgerliche, während der spießige Vater ein Rebell a la Heiner Geißler werde. Am Ende, resümiert Killiert, stehe ein Toleranzpakt der Generationen, den die Autorin mal zum Pathetischen, mal zum Ironischen neigend herleite.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 15.03.2006

"Eindringlich, schön und auch traurig" findet Rezensent Martin Lüdke die Art und Weise, wie Judith Kuckart 50 Jahre deutscher Geschichte erzählt. Anhand von wenigen Figuren schreibt sie sich durch Wirtschaftswunder, deutschen Herbst und Wendezeit; im Mittelpunkt steht ein Emporkömmling der Nachkriegsjahre, der Karriere im Betrieb und in der Politik macht, dabei aber Frau und Kind immer mehr vergisst. Ein einfacher Familienroman sei das nicht, meint der Rezensent, eher eine "Sittengeschichte" mit vielen Bildern, "die wie Pilze, die durch den Waldboden an die Oberfläche drängen, oft erst einmal nur zu erahnen sind." Denn Kuckart verzichte auf alles "Plakative", spiele auf wichtige Entwicklungen nur kurz an, doch gerade die Lücken in der Geschichte verdeutlichen das Wesentliche. Ein Roman, der zeigt, dass die persönliche Entwicklung der Menschen nicht immer parallel zum wirtschaftlichen Aufschwung verläuft. Der Rezensent ist überzeugt: "'Kaiserstraße' ist Judith Kuckarts wohl bester Roman."

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.03.2006

Stephan Maus kann es kaum fassen! Für eine derart konventionelle Wirtschaftswunder-Familiengeschichte soll "Wolfgang Koeppen gestorben" oder "Arno Schmidt durch sein Heidemartyrium gegangen" sein? Der wütende Rezensent sieht, wohin er in diesem Roman auch blickt, Klischeefiguren, Sentimentalitäten und Stereotypen. "Im Weichspülgang" erzähle Judith Kuckart 50 Jahre Nachkriegsgeschichte, in deren Mittelpunkt der Waschmaschinen-Vertreter Leo Böwe, seine Frau Liz und die gemeinsame Tochter Jule stehen, und an keiner Stelle bietet die Autorin je eine "überraschende Perspektive", ärgert sich Maus. Er findet, dass das Buch "Opfer eben jedes Spießertums" wird, die es zum Inhalt der Geschichte machen wollte und verpasst den Roman böse das Etikett "Neobiedermeier". Nichts als "billige Symbolschminke", die keiner der Figuren auch nur die Spur eines Geheimnisses lässt, allenthalben "gewollte Symmetrien und Korrespondenzen" aufbietet, nach deren Sinn der Leser vergeblich fahndet, wettert der Rezensent. In bissiger Variation auf das Stendhal-Motto des Romans geißelt er das Buch als "schminkeverschmierten Handspiegel" der von "Hedwig Courths-Maler durch die Lindenstraße spazieren" getragen wird.
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