Christoph Nonn

Eine Stadt sucht einen Mörder

Gerüchte, Gewalt und Antisemitismus im Kaiserreich
Cover: Eine Stadt sucht einen Mörder
Vandenhoeck und Ruprecht Verlag, Göttingen 2002
ISBN 9783525362679
Broschiert, 248 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

Frühjahr 1900: In der westpreußischen Kleinstadt Konitz wird die zerstückelte Leiche eines Schülers gefunden. Die Ermittlungen der Behörden verlaufen ergebnislos. In der Stadt wuchern Gerüchte: Der Schüler sei Opfer eines jüdischen Ritualmordes geworden. Die in Konitz lebenden Juden werden daraufhin zur Zielscheibe wüster Beschimpfungen, von Drohungen und handfester Gewalt. Erst der massive Einsatz von Militär vermag den Aufruhr der christlichen Nachbarn niederzuschlagen. Christoph Nonn erzählt diese Geschichte zum ersten Mal auf der Grundlage der zeitgenössischen Untersuchungsakten und Prozessprotokolle. Sie ist spannend wie ein Kriminalroman. Und sie ist ein Lehrstück: über gesellschaftliche Ausgrenzung, über die Entstehung von Gerüchten, über die Folgen von individuellem und kollektivem Geltungsbedürfnis.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.03.2003

Im Jahr 1900 fand man in der westpreußischen Kleinstadt Konitz die zerstückelte Leiche eines Schülers, was in der Bevölkerung schnell zu Spekulationen über einen jüdischen Ritualmord und zu heftigen antisemitischen Ausschreitungen führte: soweit die Faktenlage, wie sie Christoph Jahr einer Sammelbesprechung vorausschickt. Ausführlich geht er auf die Untersuchung von Christoph Nonn ein, der vermeintlich in die Rolle des Reporters schlüpft und vom armen wilden Osten des Kaiserreiches berichtet, wo die jüdische Bevölkerung eine Zwischenposition zwischen der katholisch-polnischen und der deutsch-protestantischen Einwohnerschaft einnahm. Die journalistische Herangehensweise des Verfassers, der sich methodisch dem Historismus verpflichtet sieht, wie Jahr mitteilt, mache die Untersuchung sehr lebendig, gelegentlich jedoch auch spekulativ. Für Nonn seien die Konitzer "Gelegenheitsantisemiten" gewesen, referiert Jahr, die sich der Ritualmord-Legende aus Geltungsdrang und Sensationslust bedienten. Nonns Bewertung der antisemitischen Ausschreitungen als "anthropologischer Konstante" lassen den Rezensenten trotz lesenswerter Darstellung unbefriedigt, und er verweist auf die Untersuchung von Helmut Walser Smith ("Die Geschichte des Schlachters") zum selben Vorfall.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 16.12.2002

Im März des Jahres 1900 entdeckte man in der westpreußischen Kleinstadt Konitz die verstümmelte Leiche eines 18-Jährigen Gymnasiasten. Die Schuld an diesem Verbrechen gab die nichtjüdische Bevölkerung der Stadt den Juden und verübte fortan Pogrome bis hin zur Zerstörung der Synagoge, erzählt Benjamin Ziemann. Der Fall wurde nie aufgeklärt, doch mit dem Phänomen des Antisemitismus, das hier in aller Deutlichkeit zutage getreten war, haben sich gleich zwei Wissenschaftler zufällig zeitgleich näher beschäftigt, berichtet der Rezensent. Während der US-Amerikaner Helmut W. Smith in seiner Studie "Die Geschichte des Schlachtens" kulturanthropologische Theorien zugrunde lege, habe der Deutsche Christoph Nonn seinen Max Weber gründlich studiert und sei eher mit der Auslegung persönlicher Motive beschäftigt, so Ziemann. Und damit komme Nonn zu einer anderen Interpretation als sein US-amerikanischer Kollege. Detailliert habe er das soziale Umfeld der Beteiligten untersucht und ihre Motive "seziert". Das lese sich zwar sehr spannend, aber trotzdem fragt sich der Rezensent, ob diese Motivanalyse zum Ziel führe. Diesen Aspekt näher zu beleuchten, findet Ziemann durchaus angemessen, aber er allein könne die Ereignisse in Konitz nicht entschlüsseln, denkt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 24.10.2002

Es geht um Konitz, eine kleine Stadt in Westpreußen im Jahre 1900, und wie der Historiker aus Trier einen antisemitischen Pogrom, der sich an einem mysteriösen Mordfall entzündet hat, interpretiert. Volker Ullrich weist darauf hin, dass der Autor, "einem neuen Trend der Forschung folgend", sich mit der "Gegenöffentlichkeit" des Gerüchts beschäftigt: ihn interessiert die Frage, "wie Gerüchte entstehen". Dabei deutet Nonn die "Ritualmordlegende", so Ullrich, nicht als "tiefverwurzelte antisemitische" Denkart, sondern als Lust auf die "Faszination des Bizarren". Für Nonn ist insofern das Pogrom in Konitz "kein Beispiel, aus dem sich Schlüsse ziehen lassen" für das, was danach kam. Vielmehr steht Nonn, so urteilt der Rezensent, in der Tradition deutscher Geschichtsschreibung, die den virulenten Antisemitismus im Kaiserreich bis heute verharmlost.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.10.2002

Ein schöner Zufall: Zwei Wissenschaftler arbeiten gleichzeitig am gleichen Thema. Der Trierer Historiker Christoph Nonn sowie der Amerikaner Helmut Walser Smith untersuchen einen Mordfall im Kaiserreich, der antisemitische Ausschreitungen zur Folge hatte. Beide Bücher sind akribisch recherchiert, pflegen die direkte Rede, haben unterschiedliche Schwerpunktsetzungen und kommen teilweise zu verschiedenen Schlüssen. Gangolf Hübinger stellt sie vor.

Zunächst liefert Hübinger die Basisdaten zum sogenannten "Konitz-Mord". In dem westpreußischen Städtchen wurde im Jahr 1900 die zerstückelte Leiche eines Gymnasiasten aufgefunden, der Mordfall konnte nie richtig geklärt werden. Während die Polizei im Dunkeln tappte, wurden in Windeseile antisemitische Stereotypen virulent, es kam zu einer antijüdischen Hetzkampagne und Ausschreitungen, viele jüdische Einwohner zogen fort. Hübinger zufolge arbeitet Nonn in seinem Buch "Eine Stadt sucht einen Mörder" die wirtschafts- und politikgeschichtlichen Aspekte des Themas auf; ihn interessiert die soziale Kraft des Gerüchtes, die Bereitschaft zur Denunziation, er analysiert die politische Konstellation (kurz vor einer Landtagswahl) und berücksichtigt die ökonomische Schere, die die Agrarregion ins Abseits drängte. Nonn, resümiert Hübinger, sieht Konitz, auch wenn es von ihm klar als antisemitischer Vorgang behandelt wird, nicht als "Meilenstein auf dem Weg nach Auschwitz". Für ihn beruhe das Amalgam aus sozialen Härten und mentalem Klima eher auf anthropologischen Konstanten.

Anders als bei seinem Kollegen Nonn, mit dem sich Helmut Walser Smith in der Frühphase der Arbeit auch ausgetauscht hat und auf dessen methodisch anders gewichtete Arbeit er fairerweise sogar verweist, wie Gangolf Hübinger berichtet, stellt Smith in "Die Geschichte des Schlachters" den Konitz-Mord sehr wohl in einen Kontinuitätszusammenhang mit der Geschichte des Dritten Reiches, auch wenn die Konitzer Juden durch das Einschreiten des preußischen Militärs geschützt wurden. Smith nähert sich seinem Fall ganz anders, so Hübinger: Er berichtet aus der Perspektive eines der Beteiligten, der verdächtig war, den Verdacht von sich abzulenken. Durch diesen Kunstgriff können die antijüdischen Stereotypen noch einmal durchgespielt werden, erklärt Hübinger, denen Smith mit eher literaturwissenschaftlichen Kategorien zu Leibe rücke und die er kulturgeschichtlich verdrahte: von der mittelalterlichen Transsubstantiationslehre zum modernen Antisemitismus. Für Smith ist der Befund klar, sagt der Rezensent, sein Stufenmodell der kleinstädtischen Kollektiverzählung und Mythenbildung überzeuge. Smith plädiere - darin mit seinem Kollege Nonn einig - dafür, die Unterscheidung zwischen altem Antijudaismus und modernen Antisemitismus endlich fallen zu lassen.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.10.2002

"Eine Stadt sucht einen Mörder" und "Die Geschichte des Schlachters": zwei Bücher zum selben Fall, unabhängig voneinander recherchiert und nur gemeinsam zu besprechen. Peter Schöttler findet es in seiner taz-Rezension erstaunlich, wie unterschiedlich das Quellenmaterial zu einem Mord, der 1900 in der Kleinstadt Konitz stattgefunden und zu antisemitischen Ausschreitungen geführt hat, von den beiden Historikern, die diese Studien verfasst haben, aufgearbeitet wurde. Er betrachtet diese beiden Studien "als eine Art unfreiwilliges geschichtswissenschaftliches Experiment", bei der trotz ähnlicher Quellenlage und Bezugnahme auf das gleiche geschichtswissenschaftliche Verfahren (die 'historische Anthropologie') komplett unterschiedliche Interpretationen herauskommen.

Mit Christoph Nonns Arbeit "Eine Stadt sucht einen Mörder" ist der Rezensent nicht sehr zufrieden. Das Buch kommt ihm einfach zu unwissenschaftlich daher, der Autor ist eher als Reporter denn als akribischer Rechercheur unterwegs und lässt "seiner Fantasie freien Lauf". Dabei ist nach Schöttlers Meinung "eine Mikrogeschichte an der Grenze zur historischen Belletristik" herausgekommen, der man das Aktenstudium ihres Verfassers nicht mehr wirklich anmerkt. Der Rezensent vermutet, dass es dem Autor gar nicht so sehr um die Entwirrung dieses speziellen Kriminalfalls geht, sondern dass er viel mehr an der "Psychologie des Gerüchts" interessiert ist. Deshalb kommt der antisemitische Hintergrund der Geschichte auch viel zu kurz.

"Die Geschichte des Schlachters" von Helmut Walser Smith lobt Schöttler dagegen als "eine gründliche wissenschaftliche Untersuchung" dieses wegen der späteren Ausschlachtung durch die Nazis relativ bekannten Falls. Deswegen gelingt es dem Autor auch, am Schluss eine plausible Erklärung der Ereignisse vorzulegen. Peter Schöttler lobt ganz explizit das vielseitige Quellenstudium des Autors, der auch polnische Archive aufgesucht hat und sich mit mittelalterlichen Pogromen gegen Juden beschäftigt hat. Entscheidend für die Krawalle, die auf den Mord folgte, war nach Walser Smiths Meinung der "ebenso latente wie strukturelle Antisemitismus" der damaligen Gesellschaft - eine Einschätzung, der auch Schöttler zustimmt.