07.03.2013. Eine Jugoslawin in Berlin, Cromwell und Anna Boleyn, Ein-Kind-Politik in China, eine van-Gogh-Biografie, der Antisemitismus der Linken und eine kleine Geschichte des Maghreb - dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in den
Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den
Büchern der Saison vom
Herbst 2012 und unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Herbst 2012 und in den älteren
Bücherbriefen.
Literatur Marica BodrozicKirschholz und alte GefühleRoman
Luchterhand Literaturverlag 2012, 224 Seiten, 19,99 Euro
Ins Zentrum des zweiten Teils ihrer Romantrilogie über eine nach den
Jugoslawienkriegen verlorene Generation stellt die 1973 in Dalmatien geborene Autorin Marica Bodrožić die Freundin der Heldin aus dem ersten Band ("Das Gedächtnis der Libellen"), die ins
Exil nach Berlin gezogen ist. In der
taz lobt Carola Ebeling die Mischung aus Kindheitserinnerungen, Erinnerungen an die Pariser Studentenzeit und den Krieg in Sarajewo und die Eindrücke des Neuankömmlings von Berlin, die Bodrožić in "berührenden Momentaufnahmen" montiere. Dem
SZ-Rezensenten Karl Markus Gauß gefällt dieser Band noch besser als der erste. Er ist hingerissen von der
reinen Poesie, den intensiven Bildern und der stimmigen Atmosphäre, die Bodrožić zeichnet. Auch Andreas Platthaus in der FAZ lobt die Bildgewaltigkeit und
rhetorische Experimentierfreude. Er nennt den Roman ein "subtiles Selbstvergewisserungsvorhaben" und freut sich über gelegentliche "sentimentale" Gefühle. (Hier eine
Hilary MantelFalken Roman
DuMont Verlag 2013, 480 Seiten, 22,99 Euro
Die Rezensenten sind sich einig: Hilary Mantel hat ganz allein das Genre des
Historienromans nobilitiert. Auch der zweite Band der Saga um
Thomas Cromwell - der hier den Aufstieg Anna Boleyns begleitet - lässt die Kritik in Lobeshymnen ausbrechen. Das ist
ganz große Literatur, rühmt Joachim Käppner in der
SZ, der schon den dritten Booker-Preis für Mantel voraussagt. Eine "Großmeisterin des historischen Romans" nennt sie
FAZ-Rezensent Andreas Kilb und stellt Mantel neben Victor Hugo und Heinrich Mann. In der
NZZ hebt Michael Schmitt die raffinierte literarische Erzählweise der Autorin hervor: In der
dritten Person und im Präsens erzählt Mantel und bietet dem Rezensenten so eine ungewöhnliche Halbdistanz zum Geschehen und zum Taktieren der Figur, dass noch Spielraum für die Fantasie des Lesers lasse.
Eva MenasseQuasikristalleRoman
Kiepenheuer und Witsch Verlag 2013, 432 Seiten, 19,99 Euro
Eva Menasses Roman "Quasikristalle" erzählt von Stationen in der Lebensgeschichte einer ganz gewöhnlichen Frau - immer
aus der Perspektive von anderen. Einer Schulfreundin, einem Vermieter, einem Geliebten etc. Die Frau selbst spricht nie, außer in der Erzählung anderer. Die Kritiker waren über dieses Experiment geteilter Meinung. Hannelore Schlaffer in der
NZZ und Christopher Schmidt in der
SZ fanden die Konstruktion
überformalisiert, sie vermissten den Erzählstrom. In der
FAZ ist Sandra Kegel dafür hin und weg von den
schwindelerregend vielen Identitäten, die sich ihr hier in einer Person offenbaren. Und in der
Zeit ist Ijoma Mangold beeindruckt, wie Menasse die verschiedenen Erinnerungsfragmente nach dem Vorbild der titelgebenden Quasikristalle anordnet: sie bilden "
Verknüpfungsmuster, die nach Zufall aussehen, weil wir ihre aperiodische Ordnung nicht erkennen", schreibt er. (Hier eine
Mo YanFrösche Roman
Carl Hanser Verlag 2013, 512 Seiten, 24,90 Euro
Als
Mo Yan im vergangenen Herbst der Literaturnobelpreis verliehen wurde, war vielerorts der Vorwurf zu hören, der Autor flüchte vor den politischen Problemen Chinas in fantastische Märchenwelten. Davon kann in seinem neuen Roman "Frösche" keine Rede sein. Die Kritik zeigt sich beeindruckt von dem
radikal moralischen Text über die gesellschaftlichen Verhältnisse, insbesondere die
Ein-Kind-Politik, unter Mao in den 60er und 70er Jahren. In der
FAZ bescheinigt Mark Siemons dem Buch, es könne nicht nur unser Bild des Autors verändern, sondern auch unsere Vorstellung davon, "was im
Herzen der chinesischen Gesellschaft vor sich geht". "Seltsam, dass man diesen Dichter für einen Staatsschriftsteller halten konnte", stellt in der
SZ ein sichtlich begeisterter Ulrich Baron fest. Im
DRadio würdigt Katharina Borchardt, dass Mo Yan "die Ohnmacht der einfachen Leute gegenüber den Handlangern der Kommunistischen Partei" schildere, dabei aber auch die
Mittäterschaft und Mitschuld der kleinen Leute nicht ausblende. Auf
SWR2 unterhält sich Borchardt mit dem Sinologen
Tilman Spengler über "Frösche". (Hier eine
Patrice NganangDer Schatten des Sultans Peter Hammer Verlag 2012, 540 Seiten, 26 Euro
Im öffentlichen Bewusstsein beginnt die Geschichte
Kameruns erst mit der Unabhängigkeit 1960. In seinem Roman "Der Schatten des Sultans" begibt sich der kamerunische Autor
Patrice Nganang in die
Kolonialzeit zurück, in die fürstliche Residenz Mont Plaisant, wo der exilierte Sultan Njoya mit seinem Hofstaat lebt. Dazu gehört Sara, die als alte Frau ihre bewegte Lebensgeschichte in einer Rahmenhandlung der amerikanischen Historikerin Bertha erzählt: als neunjährige wurde sie
dem König geschenkt, konnte sich eine gewisse Zeit als Junge verkleiden und wurde schließlich eine von Njoyas zahlreichen Ehefrauen. Almut Seiler-Dietrich
würdigt Nganang in der
NZZ als "
modernen Griot", der "mündliches Erzählen in Romanform gießt".
Sachbuch Steven Naifeh, Gregory White SmithVan GoghSein Leben
S. Fischer Verlag 2012, 1214 Seiten, 34 Euro
Die größte Aufmerksamkeit an der umfangreichen
Vincent van Gogh-Biografie des pulitzerprämierten Autorenduos
Steven Naifeh und
Gregory White Smith erregte die These, der Maler habe sich seinen tödlichen Bauchschuss nicht selbst zugefügt, sondern sei versehentlich
von Kindern erschossen worden, die mit der Pistole des Gastwirts spielten. Etliche Zeitungen (
darunter der
Spiegel) berichteten über diese These und die amerikanische TV-Sendung "60 Minutes"
widmete ihr eine Folge. Dabei gerät in den Hintergrund, dass Naifeh und Smith in
zehnjähriger Recherche und auf rund 1200 Seiten (plus 5000 Kommentarseiten, die ins Internet
ausgelagert wurden) etliche weitere neue Erkenntnisse ausbreiten und damit neue Perspektiven auf einen Künstler ermöglichen, den jeder bereits zu kennen glaubt. Cosima Lutz
spricht in der
Welt von einem "so erschütternden wie lakonischen" Buch, und Ingo Arend
hebt in der
taz lobend hervor, dass die Autoren van Gogh nicht verklären, sondern sich ihm "
erkenntnisfördernd nüchtern" annähern. (Hier eine
Wolfgang KraushaarWann endlich beginnt bei Euch der Kampf gegen die heilige Kuh Israel? München 1970: über die antisemitischen Wurzeln des deutschen Terrorismus
Rowohlt Verlag 2013, 880 Seiten, 34,95 Euro
Es ist eindeutig das
umstrittenste Buch des Jahresanfangs und hat in den Zeitungen leidenschaftliche und kontroverse Reaktionen ausgelöst - von begeisterter Würdigung bis zu brutaler Vernichtung. In der
SZ hat Willi Winkler dabei ideologischer reagiert als etwa Andreas Fanizadeh
in der taz. Für Winkler hat Kraushaars Buch nur einen einzigen Zweck, nämlich die gloriose und romantisierte akademische
Linke der 68er-Zeit des Antisemitismus zu überführen. Genau das ist es aber, was Kraushaar nach Fanizadeh und den meisten anderen Rezensenten tatsächlich gelingt: Dass Dieter Kunzelmann ein
infamer Judenhasser war, kann nach Kraushaars Recherchen als gesichert gelten - Kraushaar hatte das ja bereits in seinem Buch
"Die Bombe im jüdischen Gemeindehaus" belegt. Weniger klar wird aus Kraushaars Buch nach
Gerd Koenen in der
Zeit aber, ob Kunzelmann und seine Kumpels tatsächlich zu einem Attentat wie dem von München 1970 auf ein
jüdisches Altenheim (sieben Tote) fähig gewesen wäre. Koenen scheint es Kunzelmann und Fritz Teufel nicht zuzutrauen. Fast alle Rezensenten sind sich einig, dass Kraushaar der Beweis einer Täterschaft Kunzelmanns letztlich nicht gelingt, auch deshalb weil
Zeitzeugen beharrlich schweigen. Das Verdienst von Kraushaars Buch ist es aber nach fast einhelliger Rezensentenmeinung, überhaupt wieder auf diese fast vergessenen Anschläge vor München 1972 aufmerksam gemacht zu haben.
Götz AlyDie Belasteten"Euthanasie" 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte
S. Fischer Verlag 2013, 352 Seiten, 22,99 Euro
FR-Rezensent Harald Jähner
ist sehr beeindruckt von diesem "großen Buch" über die
Euthansiemorde in Nazideutschland. Besonders bitter findet er die Auskunft, dass in den allermeisten Fällen die Angehörigen der Opfer ausdrücklich darum gebeten hatten, durch
fingierte Todesursachen getäuscht zu werden, sollte die Anstalt Maßnahmen ergreifen: fabrizierte Ahnungslosigkeit, anscheinend eine "Lieblingsdisposition der Deutschen", staunt der Rezensent. Er hat hier auch gelernt, dass oft gerade
fortschrittlich denkende Ärzte bei der Selektionierung mitgemacht haben, um "Ballast" loszuwerden und die vielversprechenderen Überlebenden dann umso besser therapieren zu können. In der
Zeit findet der Historiker Tobias Freimüller das Buch zwar durchaus kompetent geschrieben, "überspitzt" erscheint ihm jedoch Alys These, die
Passivität der deutschen Bevölkerung gegenüber den Krankenmorden hätte das NS-Regime zur systematischen Judenvernichtung "ermutigt". "Die Belasteten" steht auf der
Shortlist für den
Preis der Leipziger Buchmesse. (Hier eine
Armin KrishnanGezielte TötungDie Individualisierung des Krieges
Matthes und Seitz 2012, 270 Seiten, 17,90 Euro
Gezielte Tötungen wie die Liquidierung
Osama bin Ladens oder Drohnenangriffe auf andere Al-Qaida-Führer in Pakistan bestimmen zunehmend den Alltag des Krieges. Die Kritiker begrüßen daher sehr diesen Essay des texanischen Militärforschers
Armin Krishnan. In der
FAZ interessierte Thomas Thiel besonders, wie gezielte Tötungen, die man als Mittel der Wahl bisher eher
Geheimdiensten oder der
Mafia zuschrieb, zum "Standard militärischer Konflikte" werden konnte. Aber auch das "
undurchsichtige Zusammenspiel", mit dem Geheimdienste und Regierungen die Todeskandidaten auswählen, hat er hier beleuchtet gesehen. Oskar Piegsa
moniert zwar auf
Spiegel Online manch verschwörungstheoretische und spekulative Exkurse, attestiert dem Buch aber trotzdem, hintergründig und substanziell zu informieren. Im
Deutschlandradio Kultur hat Ernst Rommeney
gelernt, dass Drohnenangriffe nicht ein Mehr, sondern ein
Weniger an Sicherheit nach sich ziehen könnten.
Boualem SansalMaghreb - eine kleine WeltgeschichteBerlin University Press 2012, 126 Seiten, 19,90 Euro
Der Algerier
Boualem Sansal ist kein Historiker, sondern einer der spannendsten Schriftsteller Nordafrikas, der immer wieder auch die
Geschichtsvergessenheit seiner Region beklagt hat. Wenn er also eine Geschichte des Maghrebs vorlegt, darf man keine nüchterne Erinnerung erwarten, wie Martin Ebel in einer sachkundigen Rezension im
Deutschlandfunk für das Buch
wirbt, sondern eine emotionale, nostalgische und sehr sinnliche: "Es ist ein melancholisches, manchmal tieftrauriges, manchmal sarkastisches und zorniges Buch." In der
SZ folgt Joseph Hanimann dem Autor freudig durch die Jahrtausende währende Geschichte der Berber, die Sansal anhand der großen Stationen Ägypten, Numidien und Algerien erzähle,
gelehrt und weltoffen. Und in der
taz preist der irakische
Autor Najem Wali dieses fantasievolle Werk, das ihn mal zu den Mumieneinbalsamierer im Amonstempel von Theben führte, mal zu den
numidischen Schafhirten in Karthago.
Frank SchirrmacherEgoDas Spiel des Lebens
Karl Blessing Verlag 2013, 325 Seiten, 19,99 Euro
Oh Gott,
Informationskapitalismus! Noch schlimmer als der normale Kapitalismus, warnt Frank Schirrmacher und prophezeit, dass wir schon bald von Spieltheoretikern und Computerspezialisten zu Marionetten degradiert werden. Die zwei Hauptpositionen zu diesem Buch sind schnell festgemacht: Für den ehemaligen Feuilletonchef der
SZ, Andreas Zielcke, ist Schirrmachers Buch der Beweis, dass Feuilletonisten
besonders scharfe Kapitalismuskritiken schreiben können. Offenbar, so Zielcke, hätten sie die besondere Begabung, etwas Wirkliches wie den Kapitalismus als
Narration zu durchschauen. Für Bettina Röhl sorgt dieser "
annmaßende unpolitische Politjournalismus" dagegen vor allem für eine Verdrängung der Realität zugunsten von "Blut- Gen- und Monsterphantasien",
schreibt sie in der
Wirtschaftswoche.
Kapitalismuskritiker wie Thomas Assheuer
in der Zeit, Georg Seeßlen
im Freitag oder Christian Schlüter
in der FR stimmten Schirrmacher zu, wenn auch leicht pikiert, dass sie ausgerechnet vom Feuilletonchef der konservativen
FAZ links überholt wurden. Die detaillierteste Kritik
lieferte in der
Welt Cornelius Tittel, dem Schirrmachers Thesen jedes Mal, wenn er ihre
Quellen überprüfte, zwischen den Fingern zerbröselten. (Hier eine) Wer nach diesem typisch deutschen Untergangsszenario auch mal einen
beschwingt optimistischen Blick in die Zukunft werfen will, dem sei
Chris Andersons "Makers" wärmstens empfohlen.
Simon GarfieldJust my TypeEin Buch über Schriften
Ullstein Verlag 2012, 368 Seiten, 19,99 Euro
Schrift umgibt uns überall. Aber wer kennt sich schon mit
Schrifttypen aus? Der britische Journalist Simon Garfield hat jetzt einen offenbar höchst informativen und unterhaltenden Band über die
Geschichte der Typografie veröffentlicht. Neben Interviews mit berühmten Grafikdesignern wie Matthew Carter, zeigt er anhand ausgewählter Beispiele die Entwicklung der Schrift von Gutenberg bis zum heutigen Computerzeitalter.
FAZ-Rezensent Hannes Hintermeier hat viel gelernt und fand das Buch auch "optisch sehr abwechslungsreich". "Wenn Sie jemals das Dropdown-Menü in Word beachtet und sich gefragt haben, was
Garamont ist oder was eigentlich neu an
Times New Roman ist, dann ist Garfield genau Ihr Typ",
flachst Telegraph-Rezensent Peter Robins, der viel Spaß beim Lesen hatte. Wunderbar und mit
ansteckender Begeisterung für Schriften geschrieben, die uns täglich umgeben,
lobt im
Observer Jessica Holland. Und ein glücklicher Wes Bausmith
ruft in der
Los Angeles Times: "
Print lebt!"