07.07.2014. Marlene Streeruwitz erfindet sich eine Nachkommin. Karl Ove Knausgård versucht es mal mit Leben. Stefan Aust und Dirk Laabs tauchen ein in die Parallelwelt des Zwickauer Mördertrios - dies alles und mehr in den besten Büchern des Juli.
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Büchern der Saison vom
Frühjahr 2014, unseren Notizen zu den
Literaturbeilagen vom
Frühjahr 2014, den
Leseproben in
Vorgeblättert, in der
Krimikolumne "Mord und Ratschlag" und in den älteren
Bücherbriefen.
LiteraturMarlene StreeruwitzNachkommenRoman
S. Fischer Verlag 2014, 432 Seiten, 19,99 Euro
Seit über zwanzig Jahren schreibt Marlene Streeruwitz Bücher und wird zumeist mit oberflächlich-freundlichen Kritiken abgespeist. Kaum veröffentlicht sie einen Roman über den
Literaturbetrieb, geraten die Kritiker aus dem Häuschen. Das sagt mehr über die Kritiker aus als über Streeruwitz, der dieser Erfolg nur zu gönnen ist. In "Nachkommen" hat sie sich eine Schriftstellerin geschaffen, die ihre Enkelin sein könnte: Nelia Fehn heißt sie, ist für den Deutschen Buchpreis nominiert und muss deshalb auf der
Frankfurter Buchmesse die Honneurs machen. Eigentlich kann sie den ganzen Betrieb nicht ausstehen,
amüsiert sich Richard Kämmerlings in der
Literarischen Welt, sie widersetzt sich einer an "Hierarchien und Kanon klammernden Literaturkritik". Kämmerlings feiert den Roman auch als literarisches Husarenstück, weil Nelia Fehn im Herbst bei Fischer
ein eigenes Buch veröffentlichen wird. Andere Kritiker stimmten in den Lobgesang ein: Während Anne-Dore Krohn im
Kulturradio den "
Literaturbetriebsroman des Jahres" gelesen hat, lotet Ina Hartwig (
Zeit) in diesem "
Freudschen Familienroman" die Grenzen des Unbewussten aus: Denn hier geht es nicht zuletzt auch um die Auseinandersetzung mit und Befreiung von der eigenen Familie. In
Profil lobt Wolfgang Paterno die "virtuose Protokollliteratur … gepaart mit jener
Schlagfertigkeit, die von der institutionalisierten Literaturkritik bei dieser Autorin häufig übersehen wird." bei S. Fischer)
Karl Ove KnausgårdLebenRoman
Luchterhand Literaturverlag 2014, 624 Seiten, 22,99 Euro
In der englischsprachigen Welt ist
Karl Ove Knausgård mehrbändige autobiografische Saga "Mein Kampf" gerade
der Hit! Beim Dinner diskutiert man über ihn "wie Groupies über ihre Lieblingsband",
erklärte eine hingerissene
Zadie Smith in der
NYRB.
Jeffrey Eugenides,
Jonathan Lethem und
Hari Kunzru diskutieren begeistert mit. In
The Nation verriss William Deresiewicz die drei auf Englisch erschienenen Bände, brauchte dafür aber
sechs Seiten! Ben Lerner schaffte es in der
LRB immerhin auf fünf. Lobeshymnen erschienen im
Economist, im
New Statesman, im
New Yorker (
hier und
hier), in der
NYT... Das
Time Magazine und die
Financial Times feierten Knausgaard als "
Norwegens Proust", Evan Hughes
widmete ihm in
The New Republic ein episches Porträt. Bei uns ist jetzt mit "Leben" der vierte Band der Saga erschienen. Im
Tagesspiegel erklärt Gerrit Bartels dem Nichtkenner, was das Phänomen Knausgard auszeichnet: "das ist seine Offenheit,
dieses Ungeschützte, auch seinen unsympathischsten Regungen Nachspürende, dass sich dem Leser und sich selbst
Ausliefernde". In der
Zeit ist Ijoma Mangold, für den dies die erste Begegnung mit Knausgard war, dem Virus
sofort erlegen. In der
taz findet Knausgard-Kenner Dirk Knipphals diesen Roman nicht so gelungen wie die anderen drei, lernt aber einiges über den Kampf des Autors mit seiner
literarischen Form. Im
Freitag widmete Fan Mikael Krogerus dem norwegischen Autor ein großes Porträt, und Richard Kämmerlings
interviewte den Mann für die
Welt. bei Luchterhand)
Will SelfRegenschirmRoman
Hoffmann und Campe Verlag 2014, 496 Seiten, 24,99 Euro
Mit seinem Roman "Regenschirm" bringt
Will Self sogar diejenigen Kritiker zum Jubeln, die seine hakenschlagende Prosa zu fürchten gelernt haben. Natürlich wechselt Self auch hier mehrmals die Epochen und Perspektiven, aber alles sehr nachvollziehbar, wie die Rezensenten versichern. "Regenschirm" erzählt die Geschichte der Sozialistin und
Sufragette Audrey Death, die 1918 von der Schlafkrankheit erfasst wird und fünfzig Jahre später wieder zu einem Leben erweckt wird, das nicht mehr das ihre sein kann. Prägnant und faszinierend findet Angela Schader den Roman in der
NZZ. In der
FAZ erlebt Friedemann Bieber eine regelrechte "
Explosion der Sprache". Und in der
SZ frohlockt Ulrich Baron angesichts dieses "Jahrhundertpanoramas", dass von einem "Tod des Romans", wie ihn Will Self eben noch
selbst deklariert hat, keine Rede sein kann.
Yves BonnefoyDie lange AnkerketteHanser Berlin 2014, 136 Seiten, 16,90 Euro
Mit über neunzig Jahren legt der französische Lyriker
Yves Bonnefoy mit "Die lange Ankerkette" noch einmal einen Band mit Prosastücken, Sonetten und Gedichten vor, in denen er den Themen seines Lebens - etwa Sprache und Kindheit - nachspürt. In der
NZZ bewundert Eberhard Geisler, wie Bonnefoy immer wieder die Grenzlinie zwischen Prosa und Lyrik aufhebt.
Meisterstücke des kleinen Bandes sind für ihn aber die Texte zur
Dichtung, etwa zu Baudelaire, zur
Architektur und zur
Malerei - beispielsweise zu drei Gemälden Poussins. Geisler findet gar Metaphysisches in dieser Poesie, wenn sie dem "Geheimnis des Kindseins" nahezukommen versucht. Der wundervolle Band verführt zum Nachdenken und Weiterschreiben, lobt Geisler. bei Hanser)
Sachbuch
Stefan Aust,
Dirk LaabsHeimatschutzDer Staat und die Mordserie der NSU
Pantheon Verlag 2014, 864 Seiten, 22,99 Euro
Die Taten der
Zwickauer Terrorbande haben die deutsche Öffentlichkeit nicht annähernd so traumatisiert wie der Linksterrorismus der RAF seit den siebziger Jahren. Warum das Thema des
Rechtsterrorismus in Deutschland immer wieder unter der Wahrnehmungsschwelle verschwindet, obwohl er eher mehr Leichen produzierte, wäre mal einen eigenen Essay wert. Stoff zum Nachdenken bietet die große Recherche "Heimatschutz" von Stefan Aust und Dirk Laabs, die bisher nur - unter den von uns ausgewerteten Zeitungen - von Nils Minkmar in der
FAZ besprochen wurde. Tief beunruhigend ist die Lektüre nach Minkmar, unter anderem weil er erfährt, wie die
Parallelwelt des Mördertrios aussah, wie sich dilettantische Banküberfälle und kaltblütige Morde zum Grauen ergänzten. Erkennen kann er auch, dass die Polizei in Thüringen und Sachsen mitnichten auf dem rechten Auge blind war. Im Gegenteil: Die Dienste versuchten durch
V-Männer Aufschluss zu bekommen - und sie verstanden offenbar nicht, dass diese V-Männer ihre
Loyalität zur Szene nicht aufgaben und sich gleichzeitig vom deutschen Staat alimentieren ließen. In
Telepolis ist Aust ausführlich zu seinem Buch
interviewt worden. bei Pantheon)
Peter SloterdijkDie schrecklichen Kinder der NeuzeitSuhrkamp Verlag 2014, 489 Seiten, 26,99 Euro
Als "Schwarzbuch über kommende Generationen" annonciert der Verlag Peter Sloterdijks neuen Großessay über "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit". Um
Fortschritt geht"s hier (je älter man wird, desto problematischer scheint man diesen Befgriff zu finden), und um den Begriff der Generation, der vielleicht die Vorstellung einer Weitergabe einschließt. Höchst widersprüchliche Kritiken hat das Buch bisher auf den Plan gerufen. Der altlinke Publizist Rudolf Walther fasst das Buch in der
taz mit
spitzestmöglichen Fingern an. Was ihn erbost: Für Sloterdijk begann der ganze Ärger nach der Französischen Revolution. Gustav Seibt bespricht das Buch dagegen in der
SZ aus der Perspektive des heiter gelassenen Konservativen. Ausgebreitet unter einer "Kuppel von schimmernden Aphorismusmosaiken" erwarte uns hier eine ganze Spielzeugkiste voll mit
Sinnfiguren: "Adam und Eva, Aeneas, Jesus Christus, der Heilige Franz, uneheliche Condottieri, Universalkünstler der Renaissance" und viele mehr. Also anregend ist es allemal und ein Gegenmittel zu "
anti-patriarchalischem Fortschrittsstress", dem wir unserem Alter nicht mehr so gern ausgesetzt sind.
George PackerDie Abwicklung
Eine innere Geschichte des neuen Amerika
S. Fischer Verlag 2014, 512 Seiten, 24,99 Euro
George Packer ist
Reporter beim
New Yorker, für den er lange Zeit aus dem Irak oder den Krisenregionen Afrikas berichtet hat. In seinem Buch "Die Abwicklung" betrachtet er die USA als
Land im Niedergang: Eliten versagen, Instituitionen erodieren, die Gesellschaft fällt auseinander. In der
Welt sieht Mladen Gladic mit dem Buch weniger den Verfall eines Landes geschildert als den einer Weltanschauung, nämlich des Neoliberalismus. Im
Deutschlandfunk sperrt sich Sabine Matthay zwar gegen eine Erzählung Amerikas als
Schauergeschichte, ist aber ausgesprochen beeindruckt von den Porträts, die Packer seinen arbeitslosen oder abgehängten Protagonisten widmet und die sie an die großen Sozialreportagen von
John Dos Passos oder
James Agee erinnern. In der
SZ führte Jörg Häntzschel ein großes Interview mit Packer, der dabei auch einen nostalgischen Zug offenbarte: "
Die Fünfziger sehen immer besser aus! Ich weiß, die Frauen haben gelitten, die Schwarzen kämpften im Süden um ihr Leben, Schwule existierten erst gar nicht. Aber es gab Zusammenhalt und Sicherheit." Ein
fast einstündiges Interview mit Packer findet man auf
Youtube. bei S. Fischer)
Artur DomoslawskiRyszard KapuscinskiLeben und Wahrheit eines "Jahrhundertreporters"
Rotbuch Verlag 2014, 704 Seiten, 29,95 Euro
Mit seiner Biografie der polnischen Reporterlegende
Ryszard Kapuscinski hat Artur Domoslawski vor vier Jahren in Polen gehörigen
Wirbel verursacht. Erst wollte sein Verlag das Buch nicht veröffentlichen, dann die Witwe dagegen klagen. Denn Domoslawski kann belegen, dass Kapuscinski nicht nur seine eigenes Lebensgeschichte zusammengeflunkert hat, sondern auch einige seiner großartigsten Reportagen. Er ist
Che Guevara oder
Patrice Lumumba nie begegnet, dafür war er in den 50er und 60er Jahren überzeugter Kommunist und Zuträger des
polnischen Geheimdiensts, erst mit den Streiks der Solidarnosc 1980 stellte er sich gegen das Regime und schrieb literarische Reportagen wie "König der Könige" als kritische Parabeln. In der
FAZ hält Marta Kijowska den Ball flach: Domoslawskis zerstöre hier kein Lebenswerk, sondern zeige mit kritischer Sympathie, wie Kapuscinksi seine
eigene Legende geschaffen habe. In der
London Review of Books erklärte Neal Ascherson mit echter Erschütterung das Buch zur Pflichtlektüre für Journalisten, denn es erzähle von Blindheit und Opportunismus in der Diktatur, vom Glauben an die eigenen Fiktionen und vom engagierten beziehungsweise nicht-engagierten Journalismus. Ein
Interview der
Polityka mit Domoslawski über die Mechanismen der Macht und die "
Lizenz zur Poesie" 2010 kann man auf Englisch bei
signandsight.com lesen.