11.02.2017. Aufatmen, Kosslick: Nach Ildikó Enyedis Wettbewerbsfilm "On Body and Soul" ist "Django" verziehen. Im Forum öffnet sich eine Tür ins magische Haus - und offenbart nichts als lauter fantastische Nicht-Ereignisse. Beim "Tiger Girl" gehen alle in Deckung. Rüdiger Suchsland sucht derweil die große Retrospektive zu 100 Jahre UFA - und findet bloß Science Fiction. Die Presseschau.
Der zweite Berlinale-Tag beginnt mit einem kleinen Kritikerliebling: Von
Ildikó Enyedis Wettbewerbsfilm "On Body and Soul"
fühlt sich
taz-Kritikerin Barbara Wurm in "eine neue Dimension des
Bewusstseins-
und Seelenstudiums" versetzt. "Grandios"
fand Perlentaucher Thomas Groh darin das Liebesspiel zwischen Hirsch und Hirschkuh. Verena Schmöller von
kino-zeit.de hat viel Freude am Spiel der beiden Hauptdarsteller.
critic.de-Kritiker Lukas Stern
kommt zu dem Schluss: "Träume muss man nicht analysieren, man muss sie aktualisieren,
mitsamt ihrer Absurdität." In dieser "Komödie der Dualitäten"
sieht Welt-Kritiker Hanns-Georg Rodek sogar schon den ersten Bärenkandidaten. Alles in allem also: Aufatmen, Kosslick, nach dem vermasselten "Django"-Auftakt
gestern sind die Kritiker wieder so sanft wie ein Reh im ungarischen Schneewald.
Außerdem besprochen aus dem Wettbewerb werden
Oren Movermans Kammerspiel "The Dinner" mit
Richard Gere (
Perlentaucher,
Standard,
taz,
critic.de) sowie das außer Konkurrenz gezeigte "Trainspotting"-Sequel von
Danny Boyle und mit
Ewan McGregor, der die ziemlich
enttäuschte Perlentaucherin Thekla Dannenberg mitunter sogar an die Grenze zur Depression treibt. Regisseur und Hauptdarsteller verbreiten im großen
SZ-Gespräch, das David Steinitz mit den beiden geführt hat, dennoch
glänzende Laune.
Mit
"Aus einem Jahr der Nichtereignisse" von
Ann Carolin Renninger und
René Frölke läuft
im Forum eine echte Perle der dokumentarischen Form: In fragilen Super8-Aufnahmen porträtieren die beiden einen eigenbrötlerischen Bauern, der sich im hohen Alter durch seinen verfallenden Bauernhof schleppt. Ihren Film halten die beiden Filmemacher für "daneben",
sagen sie im
taz-Gespräch mit Barbara Wurm, da sie "für sowas
nicht normal gefördert" würden. Warum eigentlich, Förderanstalten, fragt man sich da als Freund des guten Dokumentarfilms. Auch erfährt man von Renninger, wie die beiden auf dieses fantastische Original gestoßen sind: "Ich kenne ihn seit meiner Kindheit, es war eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht, gleichzeitig eine große Bewunderung. Das gab den Impuls, diesen Film zu machen. Ich wollte mich mit dem
anarchischen Leben konfrontieren, wollte wissen, was das war, dieser Hof, wo man nicht unterscheiden konnte, wer ist Willi, seine Frau, die Tiere. Ich wollte mich reintrauen in dieses Haus, das etwas
Magisches hat. Geht man zu weit, wenn man die Tür öffnet?"
Sehr lieblos
findet Rüdiger Suchsland von
Artechock die dem
Science-
Fiction-
Kino gewidmete Retrospektive - und ärgerlich ist sie auch noch, nämlich wegen einer verpassten Chance: "Die Auswahl der Filme ist nicht schlecht, aber vollkommen
beliebig und halbherzig. Eine solche Schau hätte auch
in jedem anderen Jahr laufen können. 2017 aber feiert die Ufa ihr
einhundertstes Jubiläum - immerhin das größte deutsche Filmstudio, und das einzige, das auch ausländische Gäste interessiert. Was würden Italiener oder Franzosen aus so einer Gelegenheit machen!"
Und dann war da noch das "Tiger Girl" von
Jakob Lass, das gestern Abend Weltpremiere feierte. Mit "Love Steaks" hatte der Regisseur vor drei Jahren für viel Aufsehen gesorgt, der neue deutsche Independentfilm war (mal wieder) geboren. Entsprechend hoch die Erwartungen aufs für Constantin Film entstandene Industrie-Debüt. Die Kritiken fallen jedoch ambivalent aus. Der Film um zwei prügelnde Mädchen hat schon Power,
meint Andreas Busche im
Tagesspiegel, "die Haltung ist bewundernswert, als Stil wirkt das auf Dauer allerdings
etwas ermüdend. ... Nach der x-ten Verhaltensauffälligkeit verkommt die
zwanghafte Nonkonformität zur bloßen Pose."
Taz-Kritikerin Christine Stöckel
beobachtet "einen Film über die befreiende Entdeckung der eigenen Stärke junger Frauen, das Ablegen des anerzogenen Bravseins und das nicht Zurechtkommen (wollen) damit. Dabei spielen
Körperlichkeit und Gewalt eine große Rolle. Das ist in dieser drastischen Form, zumindest für den deutschen Film, absolut neu", aber auch "oft kaum auszuhalten." Tobias Kniebe von der
SZ lässt sich erstmal
mitreißen, bekommt am Ende aber doch auch seine Skrupel: Wie die Hauptfigur des Films hätten auch die Macher "
ein Monster geschaffen, das sich in der
Vielschichtigkeit seiner Energien und Assoziationen immer mehr der Kontrolle entzieht."
Perlentaucher Thomas Groh
sieht die Probleme des Films zwar auch, reagiert aber eher achselzuckend: Wenn junge Mädchen an dem Film erstmal ihren Spaß haben, ist es soweit auch schon okay.
Weiteres: Nur allerwärmstens
empfehlen kann
Tagesspiegel-Kritiker Helmut Merker die beiden
koreanischen Wiederaufführungen "Obaltan" (1961,
hier auf Youtube) und "The Last Witness" (1980), die im Forum zu sehen sind. Für
Fandor hat David Hudson zwei Debatten am Rande des Festivals besucht: Einmal ein Gespräch zwischen den Regisseuren
Christoph Hochhäusler und
Thomas Arslan sowie die Eröffnungskonferenz der
Woche der Kritik zum Thema "Kino und Politik", von der auch David Segler in der
FR berichtet. Dort gesprochen hat auch der Filmkritiker Nino Klingler, mit dem sich
Deutschlandradio Kultur unterhält. Die Berlinale versteht sich zwar als politisches Festival,
schreibt dazu passend Bert Rebhandl im Berlinale-Blog der
FAZ, doch erst in den zwei Panorama-Filmen "Belinda" und "Investigating Paradise" wird kenntlich, was eine
politische Berlinale sein könnte. Der
Dokumentarfilm hat mächtig Auftrieb,
beobachtet Christiane Peitz vom
Tagesspiegel: Fast ein Viertel aller Festivalfilme sind dokumentarisch und einen eigens fürs Dokumentarkino eingerichteten Preis gibt es jetzt auch. Barbara Möller
spricht in der
Welt mit
Irm Hermann über
Rainer Werner Fassbinder, dessen Fernsehserie "Acht Stunden sind kein Tag" auf dem Festival als restauriertes Digitalisat gezeigt wird.
Somniloquies aus dem ForumIn der
SZ verspricht sich Philipp Stadelmaier einiges von Verena Paravels und Lucien Castaing-Taylors neuem Experimentalfilm "Somniloquies", den das Forum
zeigt. Für den
Tagesspiegel hat sich Patrick Wildermann mit dem Team von
Nicolas Wackerbarths Regie/Schauspiel-Erkundung "Casting"
getroffen. Im
Tagesspiegel führt Christiane Peitz durch die
arabischen Filme des Festivals. Für die
Welt hat Gerhard Midding Jurypräsident
Paul Verhoeven in Den Haag besucht. Claudia Schwartz
schreibt in der
NZZ über die
Science-
Fiction-
Retrospektive. Für den
Tagesspiegel trifft sich Gunda Bartels mit
Kim Riedle und
Mia Spengler, um über deren in der "Perspektive" gezeigten Film "Back for Good" zu sprechen.
Besprochen werden aus dem Panorama der Dokumentarfilm "The Trial" über den Prozess gegen ukrainischen Filmemacher
Oleg Senzow (
Tagesspiegel), Naoko Ogigamis "Close-Knit" (
critic.de,
kino-zeit.de) und
Erik Poppes "The King's Choice" (
taz), aus dem Forum
Amit V Masurkars "Newton" (
Perlentaucher),
Rati Onellis "City of the Sun" (
Perlentaucher) und
Laura Schroeders "Notes on Barrage" (
Shomingeki) sowie und aus der Woche der Kritik
Rebecca Zlotowskis "Planetarium" mit
Natalie Portman ("unglaublich stylish",
versichert Beatrice Behn auf
kino-zeit.de) und die Nollywood-Persiflage "Green White Green" (
critic.de).
Für die Orientierung auf den schnellen Blick lohnt sich wie jedes Jahr der
große KritikerInnen-Spiegel von
critic.de. Unverzichtbar als Tagesbegleiter: Die
SMS-Updates der
Cargo-Kritiker. In unserem Berlinale-Blog
berichten Thekla Dannenberg, Katrin Doerksen, Thomas Groh und Anja Seeliger.