10.08.2006.
Träte Mari, die den Ruf erst bei seiner vierten Wiederholung hört oder hören will, an diesem Junitag des einundzwanzigsten Jahrhunderts in die Wohnung, würde ihr als erstes Zumwalds Familienwappen ins Auge fallen. Es hängt der Wohnungstür gegenüber auf Augenhöhe an der Wand, was den architektonischen Unsinn, eine Eingangstür auf eine Wand gehen zu lassen, nicht verbessert. Aber vielleicht tut es Zumwalds Selbstwertgefühl gut. Sechs Tannen auf einem Hügel, am Fuß des Hügels ein kleines Haus, alles nur in den Umrissen erkennbar, da es sich um eine Wappenscheibe aus Glas handelt, die ans Fenster gehören würde. Nur Volkspartei-Wähler hängen die Wappenscheibe ans Fenster, hat Frau Zumwald gesagt. Sie und ihr Mann, beide achtunddreißig, stimmen links. An diesem Junitag, wieder zu kühl für die Jahreszeit, der Sommer will heuer nicht recht kommen, sitzt Frau Zumwald am Tisch in der Verbreiterung des Flurs, bei der sich der Architekt offensichtlich etwas mehr gedacht hat, nämlich daß man da vor der Küche eine Eßecke einrichten kann. Mari würde staunen, wie nett sich der Glastisch mit den weißen Stühlen da macht. Licht gibt es auch, vom Küchenfenster her und von dem kleinen Zimmer, das dieser Eßecke gegenüberliegt und wo jetzt die Balkontür einen Spaltbreit offensteht. Wenn's nur ein bißchen wärmer wäre. Selena Zumwald trägt eine rote Strickjacke über dem Pyjama, dafür, daß die Heizung anspringt, ist es doch nicht kalt genug. Selena sitzt am Tisch und blickt auf die nach Margeriten aussehenden, aber, wie der Verkäufer gesagt hat, zur Familie der Chrysanthemen gehörenden gelben Blumen in der Vase. Sie greift, ohne hinzusehen, nach dem Zigarettenpäckchen links von ihr und denkt: Ist ja gleich. Sie macht das Päckchen auf, läßt ein blaues Feuerzeug herausgleiten, zieht eine Zigarette heraus, zündet sie an. Das käme Mari vertraut vor, dieser Rauchgeruch, den man beim Eintreten sofort riecht. Heute ist der Rauch mit einem kalten Betongeruch unterlegt, wie er bei feuchtkühlem Wetter von dem hinteren, größeren Sechzigerjahrebau immer kommt. Man sollte die Balkontür im kleinen Zimmer zumachen, aber das geht nicht, weil dann die neue Katze nicht zu ihrem Kistchen auf dem Balkon hinaus kann. Sie ist noch zu klein, um durch das Fenster des Schlafzimmers zu springen, das nach wie vor keinen direkten Zugang zum Balkon hat. Vor ein paar Jahren hat es im Haus eine Unterschriftensammlung gegeben, damit die Schlafzimmerfenster zu Balkontüren erweitert würden, aber es hat nichts genützt. Selena beugt sich über den Tisch, um besser hinauszusehen und festzustellen, ob es regnet, aber es sieht nicht danach aus, jedenfalls auf diese Distanz sieht man es nicht, da ist nur ein unsicher beleuchteter grauer Hintergrund und der grünliche Fleck von dem Balkonbambus dort gegenüber. In den Betongeruch mischt sich der Geruch von Seewasser, vom entfernteren, großen See, ein Geruch wie von einem überschwemmten Keller. Was ist heute eigentlich für ein Tag, denkt Selena Zumwald, ach ja, der elfte, und schon fast zwölf Uhr, obwohl es dem Licht nach auch Morgen oder Nachmittag sein könnte. Viel Verkehr um diese Zeit, zum Glück so monoton, daß er nicht stört. Selena horcht hinaus, ob die Autoreifen auf dem Straßenbelag ein nasses Geräusch machen, aber es klingt nicht so, wahrscheinlich regnet es nicht. Noch vor kurzem hat man es vom Fußgängerstreifen her besonders gut hören können, aber seit die Streifen aus einer rutschsicheren Oberfläche bestehen, stellt sich das Schlürfgeräusch nicht mehr ein.
Mari, an diesem heißen Junitag in den Sechzigerjahren, steht bei den Brief- und Milchkästen im Hauseingang und hört von weitem eine Sirene. Jetzt kommen sie Herrn Schacher holen, denkt sie, die Polizisten haben ihn erschossen. An der Glastür laufen Leute vorbei, die Sirene wird laut, aber die Ambulanz ist nicht zu sehen. Die Sirene hört auf, wieder völlige Stille. Immer noch kein Auto auf der Straße, jetzt können sie ungehindert kommen, aber sie sind ja schon da, denkt Mari und rennt auf den Absatz zwischen Lift und Treppenhausgeländer. Jetzt sind sie da, denkt sie, und wir wollten doch am Nachmittag noch etwas machen. Oben geht eine Wohnungstür auf, ihr Vater beugt sich über das Geländer, aber er sieht sie nicht, obwohl sie ihn sieht, denn er blickt ins Kelleratrium hinunter. Mari tritt lautlos rückwärts und drückt sich neben dem Lift an die Wand. Oben geht die Tür wieder zu. Es ist ganz still da hinter dem Haus. Was machen die, sie holen ihn, nachdem sie ihn erschossen haben, denkt sie. Das ist natürlich Unsinn. Schacher hat auf seiner dritten Runde durch die Küche plötzlich zwischen zwei Kindern hindurchgegriffen und die Küchentisch-Schublade aufgerissen, unter zerknüllten Almanachen, Gummiringen und verbrauchten Taschentüchern eine Pistole herausgeholt, entsichert und sich in den Kopf geschossen. Ohne sich tödlich zu treffen, denn obwohl ihn die acht Anwesenden, unter ihnen die beiden Polizisten, vom Schubladeaufreißen bis zum Entsichern der Pistole in keiner Weise unterbrachen, hat ihn das Aufkreischen seiner Frau im Augenblick, als er die Pistole ansetzte, doch gestört. Und still ist es da hinten auch nicht, das Geheul und das Kreischen gehen weiter, nur kann man das hier im Treppenhaus nicht hören. Was man hört, ist eine weitere Sirene, die Polizei bekommt Verstärkung, denkt Mari, und so ist es. Holen sie jetzt uns? denkt sie. Sie rennt los, über den Gang, der um das Kelleratrium herumführt, was hier im Erdgeschoß ein architektonisches Unding ist, da der Gang an nackten Wänden entlangführt, an der sich keine Wohnungen be nden. Mari erreicht die Kellertreppe, nimmt sie in ein paar Sätzen, rennt durch das Atrium und dann durch die offene Betontür in den Luftschutzraum.
Tür zumachen, sie kommen. Aber die Tür ist zu schwer, wahrscheinlich auch irgendwie gesichert, damit man sie nicht mir nichts, dir nichts auf- und zumachen kann, der Hauswart weiß wie, aber wozu ist die Tür gut, wenn die Bomben von oben kommen, jetzt müßte man sie zumachen können, jetzt kommen sie von vorn. Mari weint vor Wut und Anstrengung, gibt plötzlich auf, rennt durch eine weitere Tür in den hinteren Teil des Kellers, in den mit den holzvergitterten Abteilen. Kalt und muffig hier, und man riecht auch das Metall der Vorhängeschlösser. Und immer noch die Sirene, es braucht eine Weile, bis Ambulanz und Verstärkungswagen über den ungepflasterten Weg das Bauernhaus erreichen. Auch ist da ein Gedränge, die beiden Polizisten in den schweißnassen hellblauen Hemden können die Leute nicht zurückhalten, nur um den Birnbaum mit dem Schwein herum gibt es noch Platz. Der älteste Schacherjunge hält die schreiende Mutter fest, die vier anderen Kinder haben sich im Haus verkrochen, heulen dort weiter. Jetzt kommt die Ambulanz gefahren, die Mutter schreit noch lauter. Da läuft auch Maris Vater, der von oben zugesehen hat, aus der Wohnung hinaus, die Treppe hinunter, vor das Haus auf die Straße.
Mit freundlicher Genehmigung des Ammann Verlages Informationen zum Buch und zur Autorin hier