09.09.2002. Ich war erschüttert.
Die Kirchenoberen schickten mich aus dem Kampf fort.
Ich konnte mich nicht mehr an dem Kampf beteiligen, der sich wie ein roter Faden durch die ersten Jahre meines Lebens als Erwachsener gezogen hatte.
Ich war erschüttert. Die Kirchenoberen schickten mich aus dem Kampf fort. Ich konnte mich nicht mehr an dem Kampf beteiligen, der sich wie ein roter Faden durch die ersten Jahre meines Lebens als Erwachsener gezogen hatte. Es fiel mir äußerst schwer, mich damit abzufinden, dass ich selbst die Ursache für meine künftige Nutzlosigkeit sein sollte. Fünf Minuten lang saß ich da, den Kopf in den Händen vergraben. An einem einzigen Tag hatten sich sämtliche Bande gelöst, die mich mit meiner Heimat verknüpften. Ich hatte mich lange gegen die von meinem Volk eingeschlagene neue Richtung gesträubt, hatte den neuen Glauben bekämpft, der so viele auf seine Seite gelockt hatte. Heute waren die letzten Bande unwiderruflich durchtrennt worden. Mit einem Mal war der Gedanke, nach Amerika zu gehen, kein undeutlicher Traum im Hintergrund meines Bewusstseins mehr, sondern stieg vor mir auf als etwas, das sich sogleich verwirklichen ließ. Ich begann, die schwindelnde Verlockung einer Flucht zu spüren, hatte den Eindruck, bereits die Freiheit zu schmecken - ich, Karl Hoffmann, der jede Hoffnung aufgegeben hatte, frei zu sein. Aber noch waren nicht alle Hindernisse aus dem Weg geräumt.
"Und was ist mit meiner Mutter? Ich kann sie nicht hier lassen; sie ist allein."
"Warum nehmen Sie sie nicht einfach mit? Sie haben mächtige Freunde, welche die nötigen Schritte unternehmen könnten. Wenn Sie erst einmal aus dem Lande und in Sicherheit sind, können Sie sich mit Ihrer Mutter treffen und sie mit nach Amerika nehmen."
Der Gedanke war mir noch gar nicht gekommen. Vermutlich stimmte es, dass es für meine Mutter möglich war, Deutschland ohne große Schwierigkeiten zu verlassen. Mich aus dem Lande zu schaffen dürfte hingegen nicht so einfach sein.
Von diesem Augenblick an überschlugen sich die Ereignisse. Keinesfalls durfte mich meine Mutter aufsuchen, denn sie wurde ständig überwacht, aber man sorgte dafür, dass Erika mit mir sprechen konnte.
Als die sanftmütige, hübsche junge Frau, die mir so sehr ans Herz gewachsen war, in der Bibliothek der Familie Keller lächelnd auf mich zukam, brachte ich kaum ein Wort heraus, so sehr bedrückte mich die Vorstellung, dass ich sie zum letzten Mal sehen sollte. Sie überbrachte mir Grüße meiner Mutter, und ich besprach mit ihr, wie und wo ich sie treffen würde, sobald wir Deutschlands Grenze hinter uns gelassen hatten.
"Deine Mutter hält sich großartig, Karl. Ich glaube, dein Entschluss, Deutschland zu verlassen, hat ihr neuen Mut gegeben. Sie plant ihre Auswanderung nach Amerika mit so großer innerer Ruhe, als handelte es sich um einen Umzug in eine andere Stadt."
"Liebe Erika", stotterte ich. "Wie kann ich dich verlassen? Könnte ich dich doch auch mitnehmen! Aber was habe ich dir schon groß zu bieten - die Ehe mit einem Ausgestoßenen, einem Mann, den man jagt, und dazu all die Unannehmlichkeiten, die damit verbunden sind, mittellos in einem Lande zu leben, das man nicht kennt."
"Hast du etwa geglaubt, ich würde freiwillig hierbleiben?", fragte sie mich zärtlich. "Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Wir gehen gemeinsam. Wenn ich jetzt Teil deines Lebens bin, bist du ab sofort mein ganzes Leben. Du wirst mich in deinem neuen Lande brauchen, und wenn du fort bist, gibt es hier in Deutschland für mich nichts mehr. Es ist nicht länger meine Heimat, und die Armut fürchte ich nicht."
Eine volle Stunde lang redeten wir miteinander. Wir mochten uns nicht einmal für die wenigen Wochen trennen, die es dauern würde, bis wir uns in Freiheit und Sicherheit mit der Aussicht auf ein neues Leben wiedersehen konnten. Wir unterhielten uns über meinen Vater, und ich stellte fest, dass sie der einzige Mensch war, dem ich offen sagen konnte, welchen Verlust sein Tod für mich bedeutete. Während wir aus der Liebe heraus, die wir beide für ihn empfanden, über ihn sprachen, kam es mir vor, als nähmen wir einen Teil seines unerschrockenen Geistes mit in unser neues Abenteuer. So berauschend war die Hoffnung, außer Reichweite der Nazis miteinander zu leben, deren Rachsucht bisher drohend über jedem Ort gelegen hatte, dem wir uns hätten zuwenden können, dass wir die Gefahren vergaßen, die uns drohten, nicht weiter an die Schwierigkeiten dachten, die es bedeuten würde, sich in einer fremden Umgebung zurechtzufinden.
Als Erika ging, hatten wir alles genauestens besprochen. Sie wollte mit meiner Mutter in Paris warten, wo ich zu ihnen stoßen würde, sobald mir die Flucht aus Deutschland geglückt war. Mit keiner Silbe sprach ich die Möglichkeit an, dass das Vorhaben misslingen könnte und ich sie womöglich in diesem Moment, als sie das Zimmer so hoffnungsfroh verließ, zum letzten Mal sah - doch war mir durchaus klar, wie groß die Gefahr war, dass man mich fasste oder umbrachte.
Da die Mitnahme größerer Geldbeträge nicht möglich war, sollte Rudolph an Erich Döhr in Chicago schreiben und ihn bitten, uns so viel Geld, wie er auftreiben konnte, an das Büro der American Express in Paris zu schicken. Im Übrigen verließen wir uns auf unseren Mut und unsere Gewitztheit, überzeugt, dass uns die Macht, der wir dienten, nicht im Stich lassen würde.
Am folgenden Tag fand im Dom die Trauerfeier für meinen Vater statt, anschließend sollte er bestattet werden. Um die dafür vorgesehene Stunde saß ich allein im stillen Haus, von meiner Mutter und meinen Freunden getrennt, und hörte in meinem gequälten Gehirn immer wieder die Worte des Totengedenkens. Leise drang durch das geöffnete Fenster der Klang der Glocken zu mir herüber, und ich sagte meinem Vater im Herzen Lebewohl. Ich wusste, dass, während die Glocken langsam klagten, Erde auf seinen verschlossenen Sarg fiel. Jede Schaufel voll bedeutete für mich einen weiteren Schritt auf das Ende der Gegenwart zu. Ich war überzeugt, dass die Erde, die ihn bedeckte, auch auf Deutschland fiel. Noch hielt mich der leuchtende Glaube, der ihn aufrechterhalten hatte, doch alles andere, das mit dem Land meiner Geburt zu tun hatte, starb mit dem Läuten der Glocken in meinem Herzen ab. Ich sah, dass Deutschland im Begriff war, in eine tiefe Finsternis zu versinken, deren Bitterkeit sich nur durch Blut und Qualen sühnen ließ, und betrübt löste ich mich endgültig von meiner Heimat.
Teil 3