26.11.2002. John Rawls, der große Theoretiker der Gerechtigkeit ist tot.
John Rawls ist am Sonntag mit 81 Jahren an Herzversagen gestorben,
meldete heute die
NZZ. Der Philosoph und Politikwissenschaftler zählt zu den bedeutendsten Denkern seiner Zeit: "Seine Konzeption der
Gerechtigkeit als Fairness, die er in 'A Theory of Justice' (1971) in systematischer Ausführlichkeit entwickelt und in einer Vielzahl von Aufsätzen modifiziert hat, gilt als einflussreichste
politische Theorie der Gegenwart",
schreibt Wilfried Hinsch in seinem Nachruf in der
NZZ. Die
Harvard University erklärt Rawls im
Nachruf auf ihren Emeritus zum "most important political philosopher of the second half of the 20th century".
Mit seinem 1971 veröffentlichten Werk
"Theorie der Gerechtigkeit" ist er zu einem der wichtigsten Vertreter
der politischen Philosophie aufgestiegen. Darin startet Rawls den großangelegten Versuch, Kriterien anzugeben, nach denen sich beurteilen lässt, ob eine Gesellschaft gerecht ist oder nicht. In dem Buch, das während des
Vietnam-Kriegs erschien, argumentiert Rawls, dass eine wahrhaft gerechte Gesellschaft sich dadurch auszeichne, dass jedes Mitglied ihr zustimmen könne, auch wenn es über seine eigene Stellung in dieser Gesellschaft noch nichts wüsste. Dieser Ansatz richtete sich vor allem gegen die damals vorherrschende Theorie des
Utilitarismus, der sich damit begnügt, dass ein System einem
größtmöglichen Teil der Gesellschaft den größtmöglichen Nutzen bringen soll.
Die zwei Prinzipien seiner These sind, dass (1) dem Individum das
größtmögliche Maß an Freiheit zugestanden werden müsse und dass (2) soziale und ökonomische Ungleichheiten nur gerecht seien, wenn sie dazu beitragen, auch den Benachteiligten zu einer besseren Position zu verhelfen. "Rawls gave new meaning and resonance to the concept of justice and
liberalism", schreibt die
New York Times in ihrem
Nachruf. Wie es ja nur der angelsächsische Journalismus beherrscht, liefert sie dabei auch gleich eine wunderbar verständliche Einführung in Rawls Denken.
Washington Post und
Boston Globe würdigen Rawls ebenfalls gebührend.
Ausführlich diskutiert wird Rawls Theorie der Gerechtigkeit auf der Website
Policylibrary, die zahlreiche Essays von, über und gegen Rawls zusammengestellt hat. Auch in der Stanford
Enzyklopädie der Philosophie findet sich einiges. Der Philosoph
Thomas Nagel hat Rawls Theorie schon 1999 umfassend beschrieben und kommentiert.
Rawls wurde 1921 in Baltimore geboren, studierte in Princeton und musste im 2. Weltkrieg dienen, der seine Denken ebenso stark beeinflusst hat wie die
praktische Philosophie Immanuel
Kants. Seit 1962 ist er Professor, seit 1979 Professor der Philosophie an der
Harvard University in Massachusatts, die ihren Emeritus natürlich ebenfalls gebührend würdigt. Weitere biographische Daten finden Sie
hier.
So viele Anhänger Rawls Konzept des Liberalismus hatte, so erbitterte Gegner fand es auch. Der konservative
Robert Nozick betrachtete Rawls' Theorie beispielsweise als
egalitaristischen Unsinn (mehr
hier). Aber auch von kommunitaristischen Denker wurde Rawls stark kritisiert, Michael Walzer etwa störte sich vor allem an seiner "universalistischen Moralauffassung" (dazu mehr
hier).
Seit dem Erscheinen seines Hauptwerks "Theory of Justice" hat Rawls sich in vielen Aufsätzen und Büchern immer wieder mit den Argumenten seiner Kritiker befasst und seine Thesen überarbeitet. Diese Diskussionen sind
1993 in das Buch "Politischer Liberalismus" eingeflossen. Es gilt sowohl als Verteidung als auch als
Weiterenwicklung seiner Thesen. Die
Neue Zürcher Zeitung schrieb in ihrer damaligen
Rezension: "'Die Erklärung der Stabilität einer wohlgeordneten Gesellschaft im dritten Teil von 'A Theory of Justice' ist (. . .) unrealistisch und muss umgearbeitet werden', erklärt Rawls selber und fährt fort, dass diese Umarbeitung ein 'Bündel vorher nicht benötigter Ideen' hervorgetrieben habe." Das letzte, auf Deutsch erschienene Buch von Rawls ist die
"Geschichte der Moralphilosophie", eine Mitschrift seiner Vorlesung über Hume, Leibnitz, Kant und Hegel.
Hier eine Liste all seiner Publikationen.
Auszüge aus Rawls frühem Essay "Two Concepts of Rules", der 1955 in der
Philosophical Review erschien, können Sie
hier lesen. Im Archiv der
New York Review of Books finden Sie die berühmte
Stellungnahme, die Rawls zusammen mit fünf Philosophen-Kollegen zur Sterbehilfe verfasst hat.
Weitere Links zu Texten über Rawls - von
Martha Nussbaum,
Peter Berkowitz und
Phineas Upham - finden Sie bei
Arts and Letters Daily.
Jens Mau und Thekla Dannenberg