Vorworte

Belfast - eine schwarze Komödie

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
11.05.2022. Wenn Anna Burns spazieren geht, taucht hie und da eine ihrer Figuren auf und gibt ihr Tipps für das entstehende Buch. Dabei - so erzählt die nordirische Autorin - sprechen die Charaktere stets von hinten nach vorn. Ist das der Grund, dass Burns auch die Gewaltgeschichte ihrer Heimat gerne mal gegen den Strich bürstet?
Anna Burns. Foto: Eleni Stefanou
Jodtabletten. Plötzlich wurden sie nachgefragt in den hiesigen Apotheken, Anfang März, als russische Truppen beim Angriff auf das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja ein Gebäude in Brand schossen, Wladimir Putin wiederholt mit der nuklearen Option drohte. Sie habe zum Glück noch einen Tourenrucksack im Keller, vertraute mir damals eine unbekannte Sitznachbarin im Bus an; diesen und den Schlafsack werde sie schon mal bereitlegen, falls man schnell fortmüsse. Und - ob ich schon wisse, welchem öffentlichen Schutzraum ich zugeteilt sei?

Wie schnell das geht mit der Angst. Wie weit der Krieg, der doch - wie wir meinten - immer nur anderswo stattfindet, plötzlich seine Kreise zieht.

"s'gibt Ärger." So lässig kündigt sich an, was der siebenjährigen Amelia noch rascher und dichter auf die Pelle rücken wird als der Ukraine-Krieg den Menschen in Westeuropa. Wir schreiben den 14. August 1969. Zwei Tage zuvor hat im nordirischen Derry die "Battle of the Bogside" begonnen; die gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den katholisch-nationalistischen Bewohnern des gleichnamigen Quartiers und den englandtreuen Polizeikräften und Loyalisten greift rasch auch auf Amelias Heimatstadt Belfast über. Es ist der Auftakt zu dem fast drei Jahrzehnte überspannenden Kapitel irischer Gewalt- und Konfliktgeschichte, das sich hinter dem dürren Begriff "Troubles" verbirgt.

Wie lang das geht mit der Angst. Für die kleine Amelia jedenfalls, die - zu Beginn noch - die Tage zählt, an denen sie nicht mehr raus zum Spielen darf. Die die Häuser zählt, welche an ihrer Wohnstraße im katholischen Viertel Ardoyne abgefackelt werden, und auf dieser Basis zu berechnen versucht, wann das ihre an der Reihe ist. Schnell mal fort mit Ruck- und Schlafsack kann hier keiner. Amelias Schutzraum befindet sich unterm Esstisch, die Haustüren sind verschlossen und verriegelt, die Fenster mit Planken geschützt. Aber eines Abends machen sich Leute am Briefkasten zu schaffen. Dann an den Planken. Mit Wucht. Holz ächzt, bricht. Glas splittert, während man drinnen verzweifelt versucht, die Bresche erneut zu sichern.

Panzer und Bomben mögen ungleich mächtigere Schlagkraft haben als die unsichtbaren Hände, die da draußen zugange sind. Doch während jene eine gleichsam anonyme Gewalt ausüben, eignet diesen etwas Heimtückisches. Die Täter sind nah, sie kennen ihre Opfer. Ich weiß, wer du bist.

Aus dieser verhohlenen Drohung hat die nordirische Schriftstellerin Anna Burns ihren Roman "Milkman" (dt. "Milchmann") destilliert: eine subtile Studie des Psychoterrors, die ihr 2018 den Man Booker Prize eintrug und sie praktisch aus dem Nichts ins Rampenlicht der Literaturszene katapultierte. Mit "Amelia" wird nun demnächst auch ihr 2001 erschienener Erstlingsroman auf Deutsch greifbar sein - und obwohl es sich unzweideutig um ein fiktionales Werk handelt, sind doch gewisse Parallelen zwischen der Titelfigur und ihrer Schöpferin auszumachen.

Wie Amelia wuchs Anna Burns in Ardoyne in bescheidenen Verhältnissen auf und zählte sieben Jahre, als die "Troubles" einsetzten. Gewalt gehörte freilich schon vorher zum Alltag in ihrem Wohnquartier, erzählt sie dem Reporter der New York Times. Erwachsene wie auch Kinder hätten sich aus dem geringsten Anlass auf der Straße geprügelt, die Hunde jeden gebissen, der ihnen in die Quere kam, Blutflecken, wohin man schaute. Aber im Gegensatz zu den Figuren in "Amelia" besaßen Anna Burns und ihre sechs Geschwister ein Antidot gegen die vergiftete Atmosphäre. Davon berichtet sie im Gespräch mit Sheila McWade: "In meiner Familie haben alle von Kind auf Bücher verschlungen. Gekauft haben wir nur wenige, wie die meisten Leute dort. Aber meine ganze Familie, praktisch sogar der Hund, war ständig in der Bibliothek; wenn möglich schnappten wir uns, ohne lang zu fragen, gleich auch die Bibliothekskarten von anderen Angehörigen, um mehr als nur das eine offiziell erlaubte Buch ausleihen zu können."

Zuflucht mochte die Literatur ihr geboten haben, als Schutzschild für die Seele reichte sie nicht; ebenso wenig der Wechsel nach London, ein weiteres biografisches Moment, das die Schriftstellerin mit ihrer Protagonistin teilt. Burns zog mit 25 dorthin, um Russisch zu studieren, aber der Anlauf scheiterte, sie musste das Studium abbrechen. Stattdessen schienen sie die Schatten aus der Heimat auch in Großbritannien zu verfolgen. Sie kämpfte - wie Amelia - jahrelang gegen ihre Alkoholabhängigkeit und andere finstere Residuen ihrer Vergangenheit, während sie sich mit kleinen Jobs und Sozialhilfe durchschlug. Als sie, bereits in den Dreißigern, zu schreiben begann, lebte sie in einer Wohnsiedlung, deren eskalierende Gewaltprobleme von Polizei und Behörden standhaft ignoriert wurden. Dazu kamen später die Folgen einer missglückten Rückenoperation: quälende, chronische Schmerzen, denen sie ihren preisgekrönten Roman mit größter Mühe abrang.

Begreiflich, dass ihr Werk sich unter den skizzierten Umständen nur zögerlich und auf Umwegen hatte entwickeln können. "Amelia" (im Original "No Bones") ist das bei weitem substanziellste der drei Bücher, die "Milkman" voraufgingen, und stand 2002 auch auf der Shortlist für den Orange Prize for Fiction. Der Debütroman ist stärker als die beiden folgenden Werke im nordirischen Kontext verhaftet, aber schon hier arbeitet Burns mit variierenden Distanzen zur Realität und dem Hang zum schwarzen Grand Guignol, der dann ihr nächstes Buch, "Little Constructions", dominieren wird.

Der Titel dieses 2007 erschienenen Romans allerdings ist, jedenfalls was dessen literarische Faktur angeht, krasses Unterstatement. Burns hämmert konträre Elemente zusammen, indem sie versucht, die Geschichte einer krud geschnitzten kriminellen Sippe, in der Mord und Folter ebenso selbstverständlich praktiziert werden wie inzestuöser Kindsmissbrauch, mit der Stimme einer halb verschmitzt, halb grüblerisch reflektierenden Erzählerin zu kreuzen. Sie verzettelt die actiongeladene und - wie man mit Mühe erkennt - auf wenig mehr als einen Tag beschränkte Haupthandlung durch Rückblenden, unvermittelte Sprünge und Neben-Episoden, von denen manche durchaus entbehrlich gewesen wären. Aber der Effekt, auf den sie mit dieser Anlage wohl abzielte, stellt sich nicht ein. Die forcierte Fragmentierung des Geschehens und das Ineinander von Action und Reflexion erzeugen statt fruchtbarer Innenspannung eher ein Maß an Unbehagen und Überdruss, das auch gelungenen Passagen den Glanz zu nehmen droht.

Sieben Jahre später legt Burns mit "Mostly Hero" einen Kurzroman vor, der vom nordirischen Kontext weitgehend losgelöst ist. Nach der finsteren Komödie hebt sie nun ab ins (scheinbare) Schwarz-Weiß des Superhelden-Comics, bricht aber auch hier das Genre durch bizarre Wendungen und zeitgeistige Reflexionen auf. Ein inhaltliches Schwergewicht ist dieses Buch nicht, und will es auch nicht sein; aber es hat den nötigen Zug und ist recht vergnüglich zu lesen.

Anna Burns hatte schon geschrieben, bevor sie sich bewusst der Literatur zuwandte. Das Verfassen jener Texte sei aber eher ein kathartischer Akt gewesen, der den schöpferischen Freiraum erst erschloss, gesteht sie Sheila McWade: "Für mich war diese Art zu schreiben wie Kotzen. Es war dunkel und ehrlich und schmerzlich. Bestimmt war es nötig. Und es kam zur rechten Zeit. Aber angenehm war's nicht." Vielleicht ließe sich aber auch der Entwicklungsbogen ihres bisherigen literarischen Werks im Sinn einer Katharsis betrachten. Das Erbe der Gewalt, das im Erstlingsroman noch auf mehrheitlich realem Grund und Boden ausgebreitet wird, transformiert sich im furiosen Rundumschlag von "Little Constructions" zu schwarzer Galle, die Burns dem Leser vor die Füße spuckt. In "Mostly Hero" probiert sie die Leichthändigkeit aus, die ihr dieser Befreiungsschlag verschaffte, um dann in "Milkman" ihr Kernthema auf einer neuen, höheren Ebene anzugehen. Bei diesem Buch, so betont sie öfters, habe sie nicht das Belfast der 1970er Jahre abbilden, sondern eine Situation kreieren wollen, die repräsentativ sei für jede totalitäre, auf sich selbst beschränkte Gesellschaft. Und die Art, wie der titelgebende "Milchmann" (den keiner je diesen Beruf ausüben sah) der namenlosen Protagonistin mit seiner hinterhältigen Höflichkeit Gewalt antut, ohne sie auch nur anzurühren - die erzeugt ein Grauen, das ebenso raffiniert wie tief und nachhaltig wirkt.

Burns zählt zu den Autorinnen, die sich nicht schon mit einem fixen Thema und entsprechendem Konzept an den Schreibtisch setzen, sondern die geduldig auf ihre Bücher, ihre Figuren warten müssen. Oft würden die Charaktere dann auftauchen, während sie sich bei einem Spaziergang entspanne, verrät die Schriftstellerin; sie flüsterten ihr Informationen ein und hätten ihr so schon öfters den Weg aus einer erzählerischen Sackgasse gewiesen. So eigenartig schildert Burns diesen Vorgang, dass er gerade dadurch glaubwürdig wird: Sie müsse extrem alert sein, sagt sie, denn die Figuren redeten schnell und würden nichts wiederholen, zudem sprächen sie von hinten nach vorn. Insbesondere den Schluss des Satzes müsse sie sich deshalb einprägen, denn wenn sie versuche, ihn vom Anfang her zu rekonstruieren, käme sie nie bis zum Ende.

Den Entstehungsprozess ihrer Bücher vergleicht die Schriftstellerin mit einem Puzzlespiel - allerdings mit dem Unterschied, dass man beim Puzzeln schon wisse, wie das Bild am Ende aussehen müsse, während sie diesbezüglich im Dunkeln tappe. Darin könnte auch eine Erklärung dafür liegen, dass ihr erster Roman so viel gelungener ist als der folgende. "Amelia" wahrt den Charakter des Puzzles, indem das Buch in chronologisch gereihte Episoden aufgeteilt ist, die den Zeitraum von 1969 bis 1994 überspannen; zwar sind sie durch Figuren und den großen erzählerischen Rahmen verbunden, doch jedes Kapitel kann zugleich als eigenständige Geschichte gelesen werden. Zudem ist Burns' Zungenschlag perfekt auf die mehrheitlich von Kindern und Jugendlichen bespielte Bühne abgestimmt; Anna-Nina Kroll hat ihn treffsicher und knackig in die deutsche Übersetzung eingebracht.

Wie schon erwähnt, verpflichtet sich Burns auch hier nicht auf eine realistische Darstellung. Manche Episoden - etwa die eingangs skizzierte im belagerten Haus - wirken durchaus faktennah, viele jedoch sind ins Surreale oder Groteske hochgeschraubt, allerdings in unterschiedlichem Maß. Die zwischen Sado-Maso-Sex und brachialer Gewalt pendelnde Rüpelszene, in der Amelias garstiger älterer Bruder und sein Eheweib sich der Titelheldin bemächtigen wollen, dann aber selbst zünftig eins auf die Nase kriegen, hätte der Art nach auch zu "Little Constructions" gepasst; ein anderes slapstickartiges Stück hingegen, bei dem vor dem Haus von Amelias Familie einiges an Blut vergossen wird, wirkt auf dem Hintergrund von Burns' Schilderung der faktischen Gewaltbereitschaft in Ardoyne plötzlich nicht mehr ganz so realitätsfern. Und Kapitel, die prekär auf der Kante zwischen Wahn und Wirklichkeit balancieren, können ganz besonders zu Herzen gehen: die Geschichte der minderjährigen Mary Dolan etwa, die missbraucht und geschwängert wird und dann ihr totgeborenes Kind im Puppenwagen auf und ab durch immer dieselben Straßen des Quartiers stößt; oder das Kapitel, in dem Amelia in einem Londoner Supermarkt den inneren Kompass verliert und am Ende in einer psychotischen Zwischenwelt erstarrt, wo sich englischer Alltag mit den alten, aus Belfast eingeschleppten Ängsten überlagert.

Nicht alle Kapitel im Buch mögen gleichermaßen überzeugen, aber insgesamt beeindrucken die Phantasie, der bittere Witz und zugleich auch das Gespür für Nuancen und Details, die Burns in ihren ersten Roman einbringt. So schafft sie ein Gesamtbild, das die Mischung aus Beklemmung und Trotz, aus Lebensgier und einer öfters in Sucht oder Wahn mündenden Lebensangst reflektiert, welche die Jugendjahre ihrer Generation geprägt haben muss. Es ist eine Welt, in der Kinder Gummigeschosse sammeln, die von den britischen Soldaten dann für gutes Geld zurückgekauft werden; eine Gesellschaft mit finsteren, vom Hass diktierten Gesetzen, in der das "kneecapping", das Durchschießen der Knie, unter den Paramilitärs zur gängigen Strafmaßnahme wird; ein Ort, wo sogar für einen Teenager der nächtliche Heimweg von der Disco ebenso gut mit dem Tod enden kann wie im warmen Bett.

Im letzten Kapitel - "Friedensgespräche" heißt es und verweist damit auf die 1994 vereinbarte Waffenruhe - schlägt Amelia, die für einen Besuch aus London nach Belfast zurückgekehrt ist, einigen Kindheitsfreunden einen Tagesausflug vor. Für die anderen ist das ein nie gekanntes Abenteuer, das sie nur zögerlich antreten und mit wachsendem Unbehagen absolvieren. Wohl fühlen sie sich erst wieder, als sie säuberlich gereiht am Rand eines Kliffs ihr Picknick vertilgen: "Da saßen sie nun also, aßen und beruhigten sich, weil sie bei starkem Wind auf einer Felskante in 120 Metern Höhe saßen, die Beine baumeln ließen und eine kleine Verschnaufpause von diesem schwierigen Vorhaben namens Tagesausflug machten."  Mit den "Troubles" im Nacken atmet es sich offenbar am freiesten, wenn man den Abgrund gleich vor der Nase hat.

Hier geht's zur Leseprobe


Anna Burns: Amelia.
Roman

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll.
Tropen Verlag, Stuttgart 2022. 384 Seiten, gebunden, 25 Euro.

Erscheint am 21. Mai 2022

(Bestellen bei eichendorff21)

Mehr Infos beim Tropen-Verlag

Zur Leseprobe