Vorworte

Menschen im Mahlwerk

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
25.05.2023. Asylwesen, Umgang mit Flüchtlingen, überlastete Sozialbehörden - in den Medien sind wir fast täglich mit diesen Themen konfrontiert, ihre literarischen Reflexe jedoch sind eher rar. Zu ihnen zählt der Roman von Shady Lewis, der in diesem Beitrag vorgestellt wird, und das Glück will es, dass er im kürzlich erschienenen Debütwerk von Theresa Pleitner eine Art Gegenüber gefunden hat. Die Bücher erhellen sich gegenseitig durch ihre Ähnlichkeiten wie durch ihre Kontraste.
Shady Lewis, Foto © Shady Lewis
"Schon immer hatte mich die Vorstellung deprimiert, mein Leben lang nur um meinen Körper, meine Karriere, meine Freunde zu kreisen." Unwillig schiebt B ihren Teebecher weg. "Ich hoffte, die größeren Zusammenhänge zu verstehen, in die auch ich verstrickt war, hoffte, etwas tun zu können, das hinauswies über mich." A, ihr Gegenüber, ist bar solcher Ambitionen: "Meine Vorgesetzten kritisierten mich regelmäßig für meine Untätigkeit", gesteht er. "Nur einer von ihnen schaffte es von Zeit zu Zeit, mich zu ein paar Tätigkeiten zu bewegen, mit denen ich meine Arbeitsstunden ausfüllen konnte. Mein Problem bestand aber nicht nur darin, die Zeit zu füllen, sondern darin, etwas zu tun, das mir das Gefühl gab, es sei sinnvoll."

B, Psychologin, Anfang zwanzig, arbeitet in einer namenlosen deutschen Stadt in einer Unterkunft für Asylsuchende. A, beinahe doppelt so alt, hat in London einen bescheidenen Posten bei der Behörde, die für die Zuteilung von Sozialwohnungen zuständig ist. A und B sind einander nie begegnet. A und B existieren auch nicht. Wir haben sie hier dennoch ins Gespräch gebracht, im O-Ton, mit einer Zitat-Montage von Buch zu Buch. A steht für den Ich-Erzähler in Shady Lewis' Roman "Auf dem Nullmeridian", B für die Hauptfigur in Theresa Pleitners "Über den Fluss", und die beiden hätten einander allerhand zu sagen.

Schon die Buchtitel, die beide auf eine Trennlinie verweisen, suggerieren diese Wesensverwandtschaft. Pleitners Protagonistin sieht den Fluss, der ihre Stadt teilt, als "Achse eines düsteren Spiegels, der alles in sein Gegenteil verkehrte". Hüben die freundlichen roten Dächer, der Kleingartenverein, belebte Straßen, Bars und Cafés; drüben Kohlehalden, Schrottpressen, Autohöfe, Erotikshops - und die ausrangierte Frachthalle, in der die Flüchtlinge untergebracht sind. Der Nullmeridian von Greenwich, ein schmales, mit beschrifteten Steinplatten gefasstes Stahlband, ist im Vergleich zum Fluss fast unsichtbar - und doch ein markantes Machtsymbol des British Empire: Willkürlich festgelegt, scheidet er Ost und West, und "trotzdem glauben alle daran, jeder Punkt auf Erden und im Himmel wird in seinem Bezug zur Greenwich-Linie gemessen, und die ganze Welt stellt ihre Uhren nach ihr".

Hören wir dem Gespräch der zwei Charaktere noch etwas zu. B lässt einige der terminologischen Monster aufmarschieren, mit denen sich die Menschen in der Unterkunft herumschlagen müssen: Vorgangsnummer. Grenzübertrittsbescheinigung. Altersfeststellungsverfahren. Beeinträchtigte Einwilligungsfähigkeit. Eigensicherung. A illustriert das Mahlwerk des bürokratischen Machtapparats mit der Erinnerung an den Arbeitskollegen, der einen zum Problem gewordenen weiblichen Flüchtling quasi in Luft auflösen wollte, indem er ihren Fall aus den digitalen Registern tilgte. "Hör zu", habe der Mann argumentiert, "Leute wie diese Frau haben außerhalb von Datenbanken und unseres Karteisystems kein Leben." Bitter ernüchtert zieht die junge Psychologin Bilanz über ihren Arbeitseinsatz: "Rückblickend wundere ich mich, was mir vorgeschwebt war, als ich mich auf diese Stelle bewarb: Hatte ich nicht bedacht, dass ich mit meinem Kittel in eine Rolle schlüpfen, gewissermaßen ein Glied jenes Asylsystems werden würde, dem ich doch gerade etwas entgegensetzen wollte?" Der Ältere sieht's zynischer: "Seit langem folgt die Bürokratie der Logik, dass man die einen beschäftigt und die anderen in der Hoffnung belässt, dass eine Bearbeitungsrunde nach der anderen, wie lange sie sich auch hinzieht, eines Tages zu etwas führen könnte."

Nun sei es gestanden: Auch wir haben uns bei der Einführung von A und B einer fälschlichen Tilgung schuldig gemacht. Die zwei sind nicht einfach inexistent, denn obwohl es sich um Romanfiguren handelt, gehen ihre Geschichten auf gelebte Erfahrung zurück. Gegenüber der Online-Tageszeitung "The National" sagt Shady Lewis sogar, sein Buch sei im Grunde genommen eine fiktionalisierte Autobiografie. Theresa Pleitner äußert sich im SWR-Gespräch mit Denis Scheck zurückhaltender: Ihr Roman sei "erfunden und nicht erfunden", vieles darin gehe jedoch auf reale eigene Erlebnisse oder Gespräche mit Flüchtlingen zurück.

Einiges trennt die beiden Literaturschaffenden. Dreizehn Lebensjahre - Pleitner ist 1991, Lewis 1978 geboren -, vor allem aber Herkunft und Lebensweg. Denn im Gegensatz zu seiner deutschen Kollegin stammt Shady Lewis, mit vollem Namen Shady Lewis Botros Asaad, gleich in doppelter Hinsicht von der "anderen Seite". In seinem Geburtsland Ägypten gehört er der Minderheit der koptischen Christen an; seine Erfahrungen als Immigrant in London, wohin er 2006 übersiedelte, schimmern im Roman gelegentlich durch, wenn etwa der - ebenfalls koptische - Protagonist von britischen Arbeitskollegen beharrlich als Muslim rubriziert oder von einem betrunkenen Obdachlosen als "Paki" angepöbelt und niedergeschlagen wird.

Andererseits gibt es biografische Parallelen. Beide haben Psychologie studiert, Pleitner zudem noch literarisches Schreiben. Sie arbeitete in einer Unterkunft für Flüchtlinge und sammelte Erfahrungen in einer Klinik für psychosomatische Erkrankungen, während Lewis bis 2016 beim Sozialdienst des Ostlondoner Bezirks Hackney tätig war, der sein Image als ethnisch diverses Problemquartier erst in jüngster Zeit abzustreifen begann. Seine literarischen Ambitionen markierte Lewis schon 2015 mit dem noch nicht aus dem Arabischen übersetzten Erstling "Turuq al-Rab" (Die Wege des Herrn), in dem er den Druck thematisiert, dem Ägyptens Kopten seitens des Staats und der Mehrheitsbevölkerung wie auch durch die eigene Kirche ausgesetzt sind. "Auf dem Nullmeridian", im Original 2020 erschienen, wird in der vom versierten Übersetzer Günter Orth besorgten deutschen Ausgabe ab dem 5. Juni greifbar sein. Theresa Pleitner hat sich mit ihrem Debütwerk "Über den Fluss" im Februar dieses Jahres der Leserschaft vorgestellt.

Gestalterisch und - vor allem - hinsichtlich ihrer Gestimmtheit liegen fast schon Welten zwischen den beiden Büchern. "Über den Fluss" ist ein Bekenntnisroman, von der Protagonistin nach einer brutalen Erschütterung in schlaflosen Stunden zu Papier gebracht. Weitestgehend linear erzählt und dicht am Thema bleibend, schildert er ihren Arbeitseinsatz in der Unterkunft, die aufreibende Diskrepanz zwischen der Dürftigkeit der Hilfsmittel, die ihr zur Verfügung stehen, und den Traumata, welche die Flüchtlinge mit sich tragen; zwischen dem Psychoterror des "weißen Papiers", der Abschiebungsandrohung, die immer mal wieder einem der Asylbewerber zugestellt wird, und dem engen Käfig der Vorschriften und regulierten Abläufe, der eine wirksame Intervention gegen die Ausweisung praktisch unmöglich macht. Die namenlose Erzählerin ist keine, die gleich jammert oder die Fahne streckt, im Gegenteil. Das, was man als Komfortzone bezeichnet, kennt und will sie nicht, sie haust mit dem Allernötigsten in einer Einzimmerwohnung, versucht mit allem, was sie von jenseits des Flusses mitbringt, alleine fertigzuwerden. Aber eine Last vermag die Brücke, die hüben und drüben verbindet, nicht zu tragen: den Leichnam von Herrn Rahim, dem jungen Iraker, dem die Erzählerin besonders zugetan war und der sich dort, auf der Brücke, vor der drohenden Abschiebung in den Tod gerettet hat. Die Erzählerin, die Rahim zu schützen versuchte, muss sich vorwerfen lassen, sie sei indirekt mitschuldig an seinem Suizid, und sie wird per sofort aus der Unterkunft verwiesen.

Shady Lewis steckt den Rahmen seiner Handlung wesentlich weiter. Er schaltet hier eine bissige Reflexion über Londons viktorianische Architektur ein, deren Gleichförmigkeit sein Protagonist als quasi in Stein gemeißelte Erziehung zur Routine liest, dort die so fulminante wie skurrile Retourkutsche, mit der ein Schwarzer den britischen Rassismus kontert: Der Mann erklärt kurzerhand alle, die in England auch nur möglicherweise scheel angesehen werden, zu Schwarzen - vom Iren bis zum Transgender, vom Heimkind bis zum Kommunisten. Zudem gibt es "schwarze Schwarze, Schwarze aus Osteuropa, chinesische Schwarze, Tiefschwarze, Halbschwarze, muslimische Schwarze, schwarze Muslime, Wahlschwarze und Schwarze, die zufällig oder aus Versehen Schwarze wurden", und noch etliche mehr.

Wiederholt blendet die Erzählung auch zurück in seine ägyptische Heimat und lotet dortige Mechanismen der Exklusion aus. Da ist die Kindheitserinnerung an das böse Erwachen am Tag, da zwei muslimische Nachbarsbuben dem friedlich vor der Haustür hockenden Protagonisten seinen Minderwert als "verdammter Kreuzanbeter" buchstäblich ins Gesicht spuckten. Seine Mutter, wutentbrannt, verdrosch ihrerseits die Missetäter - waren sie nicht "Leute ohne Land", geflohen aus den Palästinensergebieten, während man auch als Kopte allemal zu Ägyptens Staatsbürgern zählte? So durfte sich der Sohn immerhin mit der Erkenntnis trösten, dass Flüchtlinge "in der Prügelordnung noch unter mir standen, also ganz unten, denn unten, auf der vorletzten Stufe, war ich ja schon". Umgekehrt muss er lernen, dass auch Heimat und Familie denen, die anders sind, zuweilen weder Halt noch Schutz bieten. Als seine Großmutter an Demenz erkrankt, sperren sie die Angehörigen aus Scham über ihr unbotmäßiges Verhalten in eine Kammer, jeder Akt hilfloser Gegenwehr wird durch Entzug von Komfort geahndet, bis die alte Frau am Ende hinter vernagelten Fenstern auf dem nackten Boden liegt. Erst als Tote putzt man sie für die Trauertage heraus, verfrachtet sie auf ihren Lieblingssessel und setzt sie quasi wieder in Amt und Ehren ein.

Dass Lewis' Ich-Erzähler sich mit Kälte und Sarkasmus gegen das menschliche Leid panzert, mit dem Beruf und Leben ihn konfrontieren, wird schon auf den ersten Seiten klar. Da bittet ihn ein Verwandter, sich um die letzten Ehren für einen Toten zu kümmern, einen syrischen Flüchtling, der in London verstorben ist. Lewis spreizt nach Kräften, und etwas forciert, die Fallhöhe zwischen der dramatisch grotesk überspitzten Fluchtgeschichte des jungen Mannes und der Reaktion des Protagonisten, der diese mit blanker Langeweile quittiert. Das Einzige, was ihn halbwegs berührt, ist die Tatsache, dass der Syrer, der in Baschar al-Assads Kerkern und auf dem gefahrenreichen Weg in den Westen tausend tragische Tode hätte sterben können, am Ende, erst zwanzig Jahre alt, still und von niemandem beachtet im warmen Bett den letzten Atemzug tat. Die Gleichgültigkeit des Schicksals, die sich darin zeigt, ist die eigentliche Taktgeberin des Romans, ihr auf klägliches Menschenmaß reduziertes Spiegelbild ist der der seelenlose bürokratische Apparat, in dem der Erzähler funktioniert, ihr toxischer Niederschlag die Mutlosigkeit und Indifferenz, die sich in seiner Seele breitgemacht haben. Nicht einmal der Arabische Frühling bringt frischen Wind in seinen drögen Londoner Alltag: Er schließt sich zwar den Demonstranten an, die sich vor der ägyptischen Botschaft versammeln, konstatiert aber umgehend, "dass Freiheit etwas sehr Langweiliges sein kann", wenn man dabei nichts aufs Spiel setzen muss - ganz im Gegensatz zu den von Polizei und Militär bedrängten Protestierenden auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Nach der blutigen Niederschlagung der Revolte zieht er sich resignierter denn je ins Fitnessstudio zurück: "Denn wenn alles unerreichbar und sinnlos ist, wenn Panzer Menschen auf der Straße zermalmen, ohne dass wir sie aufhalten können, dann ist das Einzige, worüber wir noch verfügen, dem wir etwas entgegensetzen und zu dem wir hart sein können, unser Körper."

Die nur widerwillig übernommene Aufgabe, das Begräbnis des verstorbenen Flüchtlings würdig zu gestalten, sowie die zuvor schon erwähnte Geschichte jener unbequemen Klientin, die der Kollege am Ende im digitalen Nirwana verschwinden lassen will, legen zwei eher lose, durch vielerlei Nebenepisoden und gelegentlich ausufernde Abschweifungen durchbrochene Handlungslinien durch Lewis' Roman. Diese Erzählweise verleiht ihm einerseits eine inhaltliche Fülle, die unverhoffte Einblicke und erhellende Bezüge vermitteln kann; andererseits aber geht sie zulasten von Struktur und Stringenz, die im Blick auf die substanziellen Themen des Buches eine Art Gegengewicht zur leichthändig-ironischen Stimmführung hätten schaffen können. Nicht zuletzt deshalb ist es reizvoll, "Auf dem Nullmeridian" in Theresa Pleitners "Über den Fluss" zu spiegeln, denn durch ihre Symmetrien und Kontraste erhellen sich die Werke gegenseitig - nicht nur im Blick auf die literarische Herangehensweise, sondern auch auf die dahinterstehenden Realien.

Diese vermittelt Pleitners Roman faktennah und gewährt damit Einblick in eine Welt, die in der öffentlichen Diskussion zwar regelmäßig thematisiert wird, aber innerhalb der Gesellschaft doch ein weitgehend geschlossenes System bildet. Scharfsichtig, hellhörig und empfindsam, aber ohne Larmoyanz und Selbstgerechtigkeit misst die Ich-Erzählerin ihre Erfahrungsräume aus. Sie geleitet uns durch die riesige, künstlich beleuchtete und schlecht belüftete Lagerhalle, in die auch die gutwilligsten Helfer kaum einen Hauch von Wohnlichkeit bringen können, durch die aus Spanplatten gezimmerten Schlafkabinen, die weder Raum noch Ruhe bieten, schließlich durch die elektronisch gesicherte und mit einem Blickfenster aus Panzerglas versehene stählerne Tür, die den Bereich der Betreuer von demjenigen der "Gäste" trennt. Ja, "Gäste" nennt man hier die Asylsuchenden - die bitteren Ambivalenzen des Wortes darf die Leserin selbst ausloten. Vor der Stahltür werden die Rastlosen und Verstörten mit Beruhigungsmitteln gespeist, hinter derselben langt Ines, die Vorgesetzte der Erzählerin, immer mal wieder in die Schublade voller Süßwaren, die ihr beim Herunterwürgen des täglichen Frusts helfen sollen. Die psychosomatischen Symptome der Geflüchteten bricht Ines reflexartig auf handhabbare medizinische Fachbegriffe herunter, rät den Betroffenen zu mehr Bewegung und regelmäßigem Essen: Sie versucht, zugleich sich selbst zu schützen und die Fassade zu wahren, obwohl sie weiß, dass ihr die Hände für wirksame Hilfe gebunden, ihre Kräfte aufgezehrt sind. Es gehört zu den Qualitäten des Buches, dass sie dennoch zu einer Figur heranwächst, die der Erzählerin im finalen Showdown punkto Glaubwürdigkeit und moralische Autorität nicht nachsteht.

Diese Konfrontation markiert zugleich einen Konvergenzpunkt in den Schicksalen der charakterlich so unterschiedlich gestimmten Hauptfiguren; er zeigt sich im Zusammenklang der Vorwürfe, die sie am Ende von ihren Vorgesetzten kassieren. "Unsere Arbeit beruht nicht auf Tatsachen, sondern schlicht und ergreifend darauf, dass wir uns an die Abläufe halten. Abläufe sind die einzige Tatsache, die wir kennen", wird Lewis' Protagonist zur Ordnung gerufen. Bei Pleitner kommt es noch härter: "Immer meinst du, dass du es besser weißt, willst die Gute sein", kanzelt Ines die junge Kollegin ab, "aber so funktioniert das nicht an einem Ort wie hier, an dem alle kurz vor dem Durchdrehen sind."

Das Dilemma, das hier aufbricht, greift - wie etwa die durch die Pandemie intensivierte Debatte über den Pflegenotstand aufzeigt - weit über den Asylbereich hinaus; es geht um die zunehmende Unvereinbarkeit individueller menschlicher Impulse mit den gesetzlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen der institutionalisierten Hilfeleistung. Shady Lewis hebt den Konflikt auf ein Niveau, das man gerne kafkaesk nennen würde - wenn es denn nicht in der knallharten Realität gründete. Seinem Antihelden und dessen Kolleginnen und Kollegen auf der Behörde bleibt gar nichts anderes übrig, als die verzweifelt auf eine erschwingliche Unterkunft harrenden Menschen durchs end- und ausweglose Labyrinth der immer selben Formalien zu treiben, denn infolge der Budgetkürzungen im Sozialbereich stehen kaum noch Wohnungen zur Verfügung, während die Zahl der Anträge stetig wächst. Was Wunder also, dass man zum bloßen Rädchen im Getriebe schrumpft? Lewis bleibt seinem Ansatz treu, indem er dieses Rädchen noch einen Tick weiter dreht. Die ohnmächtigen Beamten lagern die von ihnen selbst nicht einzulösende Verantwortung aus, indem sie "einen tiefen Glauben an Gebäude" entwickeln - "ja, Gebäude, denn jedes soziale Problem konnte man lösen und jedes Leben auf den rechten Weg zurückbringen, indem man die Betroffenen nur richtig unterbrachte: Verbrechen ließen sich durch Gefängnisse ausrotten, Krankheiten durch Krankenhäuser, Alte brachte man in Altenheime, Kinder wurden in Kitas und Schulen zugerichtet, Arme in Sozialwohnungen gesteckt und so weiter."

Einmal freilich packt den Protagonisten, allem Zynismus zum Trotz, doch das heulende Elend. Bloß, was tun, wenn man das Weinen längst verlernt hat? Der Mann geht in die Küche, langt ins Eisfach; dort lagert ein Beutel eingefrorener Zwiebeln, die letzte Verlassenschaft einer einstigen Geliebten. Die helfen in solchen Lebenslagen, auch wenn man blaugefrorene Finger kriegt, während die Tränen fließen.


Shady Lewis: Auf dem Nullmeridian
Roman
Aus dem Arabischen von Günther Orth. Hoffmann und Campe, Hamburg, 2023. 224 S., gebunden, 24 Euro.

Erscheint am 5. Juni 2023.

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Theresa Pleitner: Über den Fluss. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2023. 208 Seiten, gebunden, 22 Euro. (bereits erschienen, bestellen).