Vorworte

"Könnte man nicht den Menschen selbst als Tool ansehen?"

Über Bücher, die kommen. Von Angela Schader
20.03.2023. Wer in der Lektüre primär Seelennahrung sucht, ist bei Tom McCarthy an der falschen Adresse. Aber mit seinen scharfsichtigen, unterkühlten Fiktionen hat sich der britische Autor einen ganz eigenen Platz in der Literaturlandschaft freigeschlagen. Sein neuer Roman trägt den schillernden Titel "Der Dreh von Inkarnation" und erkundet auf unterschiedlichsten Wegen die Schnittstellen zwischen Mensch und Technologie.
Tom McCarthy. Foto © Nicole Strasser/Suhrkamp Verlag
Welcher Zufall eine Nähmaschine und einen Regenschirm auf einem Seziertisch zusammenführte und welcher Art die Schönheit ist, die daraus entspringt - darüber durfte man nachgrübeln, seit Lautréamont dieses Sprachbild in die Welt gesetzt hat. Was aber haben künstliche Hüftgelenke mit schwerelosem Sex und einer Wagner-Oper zu schaffen? Auf diese nicht minder exotische Frage hält Tom McCarthys neuer Roman eine Antwort bereit. Ebenso steht dort zu lesen, wie es in einem Windkanal oder einer Renderfarm zugeht, welch schneidende Ambivalenz den Studien der amerikanischen Ingenieurin und Forscherin Lillian Gilbreth innewohnte, und warum im Weltall ausgetragene Gefechte mit Laserwaffen ein No-Go sind, auch wenn sie auf der Kinoleinwand noch so toll ausschauen mögen. Bitte werden Sie nicht kopfscheu angesichts dieser Auslegeordnung. Der 1969 geborene britische Schriftsteller hat sein Material durchaus im Griff.

"The Making of Incarnation" heißt das im Original 2021 erschienene Buch, und eine Art Lichtbogen scheint vom englischen Titel zurückzuspringen zu McCarthys Erstling "Remainder" (2005, dt. "8 ½ Millionen"), dessen Ich-Erzähler um jeden Preis den Weg zurück in den eigenen Körper suchte. Für die bei Suhrkamp angekündigte deutsche Ausgabe zeichnet Ulrich Blumenbach, der sich schon in etlichen übersetzerischen Fegefeuern - darunter David Foster Wallaces "Unendlicher Spaß" oder Joshua Cohens "Witz" - bewährt hat. "Der Dreh von Inkarnation" lautet der Titel, und dass er, mehr als der englische, stutzig macht, trifft die Sache genau.

Hieße es "Der Dreh von 'Inkarnation'", wäre der Fall klar: Es geht um einen Film namens "Inkarnation". So verhält es sich tatsächlich - "Inkarnation" ist ein Science-Fiction-Knaller, dessen platte Handlung der sonst so raffiniert-intellektuelle McCarthy mit einigem Gusto ausmalt. Um das Inkarnations-Motiv in dem Streifen zu erkennen, braucht es allerdings ein Publikum, das sich gelegentlich auch einen Opernbesuch gönnt. Denn die Liebesgeschichte, die sich zwischen dem Raumschiff-Kapitän Tszvetan und der schönen Tild entspinnt, die er eigentlich seinem Fürsten und Onkel als Braut zuführen sollte, ist ein mit allen Mitteln moderner Technologie aufgebrezelter Verschnitt von "Tristan und Isolde"; wesentlich aufwendiger als das innere Erleben der Liebenden ist darin etwa die im Original vorgezeichnete, passgenaue Übereinstimmung von Morolds Todeswunde mit dem Schwert des Titelhelden nachmodelliert.

Und wie steht es um die Inkarnation im Wortsinn, die Fleischwerdung des berühmten Paars? Die findet allenfalls insofern statt, als das Publikum die beiden in einer spektakulären Sexszene genießen darf: Sie spielt im Raumschiff, und weil Tszvetan zuvor die Funktion ausgeschaltet hat, die dort für Erdenschwere sorgt, absolviert das Paar seine mannigfachen Variationen des Liebesakts in der Luft. Ins Bild gesetzt wird diese erotische Akrobatik allerdings nicht live, sondern mit einem Feuerwerk technischer und digitaler Tricks, die den menschlichen Körper zerlegen, funktionalisieren, neu montieren, als perfekte Illusion durch einen nicht minder perfekt kreierten illusionären Raum gaukeln lassen; ebenso detailversessen wird dann auch das große Finale konzipiert, in dem das Raumschiff in einem Sonnensturm zu Bruch geht. Die sich immer weiter verzweigende Geschichte dieser Illusionen ist es, die "Der Dreh von Inkarnation" eigentlich erzählt. Die Idee der Inkarnation wird dabei um und um gestülpt - und diese Bewegung fängt der grammatisch instabile deutsche Titel auf.

"Mich interessieren Netzwerke, Choreografien, Geometrie, der Körper in den räumlichen Rastern der Welt. Meine Bücher handeln davon, wie in den letzten Dekaden die Ideen der Avantgarde und des Kapitalismus einander bedingen und sich aneinander fortentwickeln", sagt Tom McCarthy 2019 im Interview mit der Welt. Prominent figurieren diese Themen in seinem ersten und nun im jüngsten Roman, wobei sie der Schriftsteller von ganz unterschiedlichen Positionen her angeht.

Der Ich-Erzähler von "8 ½ Millionen" ist auf der Straße von einem nie genauer identifizierten Objekt - "Technologie. Teile, Bruchstücke" heißt es lediglich - so perfid getroffen worden, dass er Gedächtnis und Bewegungsfähigkeit verliert. Beides muss wieder erkämpft werden, soweit es geht, aber nichts mehr ist wie zuvor; und heftiger noch als die fade Blässe der Erinnerung, die "auf Raten, wie alte Folgen irgendeiner banalen Seifenoper" zurückkehrt, peinigt den Protagonisten das Gefühl, im eigenen Körper nicht mehr zuhause zu sein. Zuhause? Das ist es! So glaubt er zumindest. Denn ein Mauerriss, zufällig wahrgenommen im Badezimmer eines Freundes, zündet ein Déjà-vu-Erlebnis: die jähe Vergegenwärtigung eines früheren Wohnumfelds mitsamt dem durchdringenden Gefühl, wie er in jenem Mietshaus gelebt hatte, wie dort "alle meine Bewegungen fließend und ungezwungen gewesen waren. Nicht ungelenk, angelernt, second-hand, sondern natürlich." Dieses Stück Vergangenheit will der Mann dann mithilfe der exorbitanten Abfindungssumme, die ihm nach dem Unfall zugesprochen wurde - 8 ½ Millionen britische Pfund - rekonstruieren.

Ein Haus, dem erinnerten möglichst ähnlich, muss gefunden, gekauft, anhand der - hier glasklaren, dort bruchstückhaften - Reminiszenzen umgestaltet werden. Das soeben montierte Treppengeländer stimmt nicht ganz? Rausreißen, nochmals ein neues fertigen lassen, Geld spielt keine Rolle. Der Blick durch die Fenster überzeugt nicht? Rausreißen, jene älteren Scheiben aufspüren, durch die alles eine Spur wellig wirkt. Und vor allem müssen Menschen her, welche die im Déjà-vu evozierten Klänge, Geräusche und Düfte reproduzieren, die Szenen nachstellen, die sich mit der Erinnerung verbinden: die alte Dame, aus deren Küchenfenster der Geruch gebratener Leber emporstieg und der man gelegentlich im Treppenhaus begegnete, der geduldig übende Pianist zwei Stockwerke tiefer, der Mann mit dem Motorrad drunten im Hof. Was als Idee fast poetisch klingt, setzt der Ich-Erzähler mithilfe eines so ergebenen wie gerissenen Dienstleisters knallhart um; die Mieter dürfen zwar tatsächlich im Haus wohnen, "müssen sich aber daran gewöhnen, dass es für sie zwei verschiedene Zustandsformen gibt; an und aus". Für den "An"-Modus, in dem die Erinnerungen nachgespielt werden, sind sie stramm dressiert, jederzeit müssen sie verfügbar sein, um solo oder mit dem Protagonisten in ihre Rolle zu treten. Es ist ein - für ihn allein - richtiges Leben im falschen. Denn letztlich ist es nicht der widerspenstige Leib, sondern die totale Ich-Fixiertheit, die ihm, jedenfalls im Auge der Leserin, zum Gefängnis wird, gegen dessen Mauern er immer wilder anrennt. Allmählich entdeckt er, dass auch andere, zunehmend gewaltsame Ereignisse das Kribbeln in seinem Körper hervorrufen, das er mit jenem "richtigen" Leben verbindet; also usurpiert er das Sterben von Mordopfern, indem er es in aufwendigen Szenarien nachstellt, inszeniert schließlich einen Banküberfall, der aller detailversessenen Vorbereitung zum Trotz (oder vielmehr genau deswegen) katastrophal schiefgeht.

Schon in diesem Roman ist präsent, was Tom McCarthys Schreiben prägt: die Verbindung eines manchmal bis weit in die Minusgrade heruntergekühlten menschlichen Klimas mit einer frappanten, durchaus sinnlichen Schilderungskraft; das Moment des Obsessiven, das die Charaktere ebenso prägt wie passagenweise auch eine Prosa, die nun im Blick auf den neuen Roman von manchen Kritikern mit dem Vorwurf allzu selbstgefälligen Schaulaufens belegt wurde. Tatsächlich gehen McCarthy in "Der Dreh von Inkarnation" stellenweise die Pferde durch - etwa in einem von keiner erzählerischen Notwendigkeit diktierten Exkurs über den holländischen Tulpenwahn im 17. Jahrhundert -, und vor allem können die geballten Ladungen von technologischem Fachjargon, die detaillierte Nachzeichnung von Arbeitsprozessen und Versuchsanordnungen ein weniger themenaffines Publikum gelegentlich ins Keuchen bringen. Doch daraus muss man weder den Lesern noch dem Autor einen Strick drehen. Zum einen ist, was im Text fremd und hermetisch wirkt, auch Verweis auf eine Lebenswelt, die zunehmend durch Funktionen und Wissenszweige dirigiert wird, von denen die meisten von uns nicht mehr als eine vage Ahnung haben - wenn überhaupt. Zum andern stößt McCarthy immer wieder Fenster auf, die Einblicke ins Geschehen in Forschungsstätten und Tech-Unternehmen vermitteln. Wer sich etwa in Berlin schon über das auffällige Gebäude der Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau gewundert hat - in McCarthys Beschreibung schwebt der massige blaue Kubus "unnatürlich über dem Boden, aufgebockt auf zwei riesigen rosa Röhren, die aus seinen Seiten hervortreten, sich abwärtskrümmen und unter ihm vereinen wie eine Krabbe, die sich vor Angst oder Wut oder in einer Art Paarungsritual aufbäumt" - der kann hier einen Testlauf im Seegangsbecken miterleben, wo etwa Modelle von Bohrinseln oder Schiffen auf ihre Widerstandsfähigkeit geprüft werden. Die mächtige Mechanik, die sich in der Schilderung entfaltet, wird da und dort abgefangen durch den Blick eines Ingenieurs, der auch das elementare Drama wahrnimmt, das sich beim fingierten Meeressturm abspielt.

Wie der eingangs erwähnte Windkanal gehört das Seegangsbecken zu den Versuchsanlagen, die Inputs für die sachgerechte Gestaltung des großen Raumschiff-Fracas am Ende von "Inkarnation" liefern sollen, denn der technische Berater des Filmteams verteidigt mit Biss und Witz den Primat der wissenschaftlichen Korrektheit gegen die Extravaganzen des Drehbuchs. Für die schwerelose Sex-Szene wiederum wird das Unternehmen Pantarey Motion Systems konsultiert, das auf Bewegungsstudien spezialisiert ist: Die Tätigkeit der Firma reicht von der medizinischen Forschung bis zum Sicherheitsbereich, vom Städtebau bis zur Rüstungsindustrie. Der erstgenannten Disziplin verdanken sich auch die im Motion-Capture-Verfahren hergestellten Aufnahmen eines kopulierenden Paars in allen möglichen und unmöglichen Positionen, aus denen dann die Filmszene konstruiert wird; entstanden sind sie ursprünglich im Blick auf die Entwicklung möglichst vielseitig belastbarer künstlicher Hüftgelenke.

Erwähnt sei dies weniger aus Freud' an der Lust - sondern weil Pantareys mit dem Bewegungsapparat verbundene Studien auf ein, wenn nicht das Kernthema des Romans hinlaufen. "Die Stelle, die uns eigentlich interessiert, die wir wirklich suchen, aus kinetischer Perspektive, ist der wahre Drehpunkt oder das Zentrum - was wir die 'Wurzel' nennen", erklärt ein Mitarbeiter des Unternehmens. "Bei menschlichen Bewegungen ist die fast nie direkt zu sehen." Der wahre Drehpunkt - da klingt wieder der deutsche Buchtitel an, und aus McCarthys noch nicht übersetztem Roman "Men in Space" kommt ein ferneres Echo. Das Material für das 2007 erschienene Buch entstand zu großen Teilen noch vor dem Manuskript für "8 ½ Millionen", und schon dort wird das Motiv gleich zu Beginn und dann nochmals an einer entscheidenden Stelle aufgerufen. Einer der Charaktere erinnert sich an eine Vorlesung, die ihn während seines Ingenieurstudiums besonders beeindruckt hatte: Alle Systeme, auch über die Physik hinausgehend, hätten Dreh- und Angelpunkte, erklärte der Dozent; wenn man diese zu identifizieren vermöge, dann werde das ganze System einsehbar.

Kein Wunder, dass ein derart universales Konzept die intellektuelle Neugier Tom McCarthys beschäftigt - und in "Der Dreh von Inkarnation" führt es ihn zu einer faszinierenden Persönlichkeit. Die Amerikanerin Lillian Gilbreth (1878-1972) war als Ingenieurin mit Hochschulabschluss und als Betriebspsychologin eine Pionierin in beiden Fächern, daneben Mutter von zwölf Kindern. Mit ihrem Mann Frank forschte sie insbesondere im Bereich der Zeit- und Bewegungsstudien, um Arbeitsabläufe im Baugewerbe und der Industrie zu optimieren, in einer Weise, die Ergonomie mit Effizienz verband; faszinierend ist, dass die Gilbreths zu diesem Zweck ein Verfahren entwickelten, das wie eine Urform der von Pantarey angewandten Motion Capture anmutet. McCarthy räumt Lillian Gilbreth einen zentralen Platz in der Romanhandlung ein, indem er ihre Arbeit ins Fiktive - es geht um einen idealen Bewegungsablauf, der "alles verändern" würde - erweitert. Aber er reicht auch Realien über ihre Tätigkeit an, und deren Janusgesicht scheint da und dort im Roman auf. Denn natürlich erleichterten ergonomisch angepasste Arbeitsplätze und Bewegungsabläufe den Beschäftigten die Mühe am Fließband - aber vor allem profitierten die Fabrikbesitzer vom erhöhten Arbeitstempo und dem verminderten Menschenverschleiß: "Wenn der Rücken einer Frau nicht nur drei, sondern zehn Jahre lang durchhält, ist sie auch profitabler, denn man muss nicht so oft Nachfolgerinnen ausbilden."

Was "Der Dreh von Inkarnation" eigentlich inszeniert, ist von brennender Aktualität: Es geht um die Inkarnation des "neuen" Menschen an der Schnittstelle von Natur und Technologie. Präfiguriert ist dieses Thema schon in McCarthys Roman "C" (2010, dt. "K") obwohl dieses Buch zeitlich gut hundert Jahre früher angesiedelt ist. Serge Carrefax, der Protagonist, ist im Ersten Weltkrieg als Bomberpilot im Einsatz und wird dabei zur reinen Kriegsmaschine; aber nicht der Sieg ist die Apotheose, die er ersehnt, sondern der Abschuss - und damit die totale Vereinigung seines Körpers mit der anorganischen Materie des Flugzeugs. Es ist der Sturm des Futurismus, der ihn treibt und auch nach Kriegsende nicht loslässt: Das normale Leben scheint ihm sinnleer, zu sich kommt er nur, wenn er das Gaspedal in seinem Sportwagen durchdrückt und das Gefühl hat, "ein fixer Punkt in einer Welt der Bewegung zu sein". Ebenso gut könnte man sagen: ein toter Punkt.

Der neue Roman modelliert sein Thema sanfter und tückischer. Die Gilbreths mögen nach bestem Wissen und Gewissen geforscht haben, aber es kann ihnen schwerlich ganz entgangen sein, dass die Menschen dabei zu reinen Arbeitsmaschinen reduziert wurden. Die dürre, fleischlose Prosa, die McCarthy hier einsetzt, passt durchaus: "Handarbeit ist repetitiv; eine Taschentuchfalterin oder ein Dreher vollführt tausendmal am Tag denselben Bewegungsablauf. Gilbreth konnte mit ihren Zyklographen zeigen, dass sich bei jedem Einzelablauf, jeder Handlungsiteration die Hand der Arbeiterin meinetwegen 96,5 Zentimeter weit bewegte und dafür 4,1 Sekunden brauchte. Wichtiger war aber, dass sie herausfand, dass eine Iteration nur noch einen Weg von 88,9 Zentimetern und 3,6 Sekunden brauchte, wenn die Fabrikbosse die Werkbank um 3,8 Zentimeter absenkten, ein bisschen näher an die Maschine, die Werkzeuge oder das Werkstück heranschoben oder aber ein kleines Stück von ihr wegrückten. Die Einsparung war für jeden Arbeitstag mit x-tausend und dann für jedes Arbeitsjahr mit 300 zu multiplizieren, und diese Zahl dann mit der Zahl der Angestellten …"

Eine aktuelle Variante des funktionalisierten Menschen führt dann der Repräsentant eines nur unter dem Namen "Klient A" figurierenden Unternehmers vor, der im Tech-Bereich tätig ist und sich das Copyright auf bestimmte Bewegungsabläufe bei der Interaktion zwischen Nutzer und Gerät sichern will. Ein heikles Anliegen, wie das in dieser Sache konsultierte Anwaltsteam darlegt; aber der Vertreter des Klienten hat seinen eigenen Blick darauf und führt als zweckdienliches Beispiel den Swipe auf dem Smartphone oder Tablet ins Feld. "Könnte man nicht", so argumentiert er, "den betreffenden Menschen selbst als das Tool ansehen, das eine Datei oder Anwendung öffnet?" Könnte man nicht - um die Frage auf die aktuelle Debatte zu projizieren - den Schüler, die Studentin der Zukunft als das Tool ansehen, das ChatGPT Themen und Inputs anreicht?

Ganz ohne solchen Sarkasmus gestaltet McCarthy die Szene um einen an Zerebralparese leidenden Jungen, dessen motorische Störungen mithilfe der von Pantarey entwickelten Verfahren aufgezeichnet und analysiert werden. Die Mutter sitzt dabei, starrt gebannt auf die Bildschirme wie ins Antlitz einer fremden Gottheit. Als läge dort, wie es im Original heißt, "the key to fixing Nathan, fixing the whole situation". Das kursiv hervorgehobene und wiederholte Verb macht das Kind quasi zur Maschine - "to fix" heißt "reparieren"; im Deutschen allerdings fällt diese im Blick auf das Gesamtkonzept des Romans bedeutsame Nuance weg. Ulrich Blumenbach bricht den Wortlaut auf eine humanere Variante herunter: "der Schlüssel, wie Nathan zu heilen war, wie die ganze Situation wieder repariert werden konnte". Die Abweichung soll hier nicht im Sinn einer Beckmesserei an der mit Verve und Geist besorgten Übersetzung erwähnt werden, sondern weil die an sich winzige Facette der ursprünglichen Wortwahl die detaillierte Arbeit des Schriftstellers am übergreifenden Thema ausweist.

Wo aber, mögen Sie sich bei der Lektüre dieses Vorworts gefragt haben, wo bleiben in "Der Dreh von Inkarnation" eigentlich die Charaktere, die Schicksale, der Plot, warum lernen wir keine Hauptfigur mit Namen kennen? Klar, es gibt sie, die Figuren und die Namen, es gibt auch, als den Roman übergreifendes Spannungselement, die Jagd nach einer schwarzen Box mit der Nummer 808: Sie enthält ein dreidimensionales Modell, in dem Lillian Gilbreth jenen zuvor erwähnten, alles verändernden idealen Bewegungsablauf nachgebildet haben soll. Aber was die Charaktere angeht, verhält es sich - beinahe - so, wie ein Rezensent des Guardian missmutig bemerkte: Sie werden "nur dabei gezeigt, wie sie das tun, wozu sie angestellt sind". Die Formulierung ist allerdings überspitzt, und vor allem zielt sie als Kritik völlig an der Sache vorbei. Denn gerade dieses vermeintliche Defizit ist als integrales und tragendes Element eines Romans zu verstehen, in dem mit einer Art kalter Faszination die Vereinnahmung des "Menschlichen" durch das in alle Richtungen auswuchernde Getriebe der Funktionen und Funktionalitäten in den Blick genommen wird.

Tom McCarthy: Der Dreh von Inkarnation
Roman
Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023. 446 Seiten, gebunden, 25 Euro.

Erscheint am 3. April 2023

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Mehr Infos bei Suhrkamp

Am 31. März stellt Tom McCarthy seinen Roman im Rahmen einer Buchpremiere in der daad Galerie Berlin vor. Am 1. April geht das "Inkarnationswochenende" mit Diskussionen und Performances zum Roman weiter.