Vorgeblättert

V.S. Naipaul: Jenseits des Glaubens, Teil 3

Von der Warte seiner neuen Freiheit und Sicherheit, seiner neuen Nähe zur Macht, die für ihn nur der Beweis war, dass er immer schon dem richtigen Glauben angehangen hatte, erzählte Imaduddin mir nun, wie ihn die Polizei in den schlechten alten Zeiten der Verfolgung eines Nachts aus seinem Häuschen am Institute of Technology geholt und für vierzehn Monate ins Gefängnis gesteckt hatte. 
Er wolle, so Imaduddin, nicht im Nachhinein übertreiben, aber er habe damals provoziert und sich selbst in Schwierigkeiten gebracht. Denn er habe sich öffentlich gegen Präsident Suharto, den Vater der Nation, gewandt, der ein Familienmausoleum errichten lassen wollte. An bestimmten Teilen des Mausoleums sollte Gold verarbeitet werden, und mir gegenüber stellte Imaduddin es jetzt so dar, als sei dieses Gold der Stein des Anstoßes für seinen islamischen Puritanismus gewesen. Er musste daher mit Schwierigkeiten rechnen, und sie blieben nicht aus. Am 23. März 1978, eine Viertelstunde vor Mitternacht, klingelte es an der Tür seines Häuschens. Er ging öffnen und sah drei Geheimdienstleute in Zivil. Bei einem entdeckte er eine Pistole. Damals wurden viele Menschen verhaftet. Einer der Männer sagte: "Wir kommen aus Jakarta. Wir möchten Sie mitnehmen, weil wir Auskünfte von Ihnen brauchen." 
"Was für Auskünfte?" 
"Das können wir Ihnen nicht sagen. Sie müssen sofort mitkommen." 
"Geben Sie mir ein paar Minuten", sagte Imaduddin. Und wie Imaduddin nun einmal war, verrichtete er erst ein kurzes Gebet und wusch sich, während seine Frau eine kleine Reisetasche mit Sachen für das Gefängnis packte. Auch den Koran vergaß sie nicht. 
Mit einem Mal wurde Imaduddin klar, dass er nicht mit den Männern mitgehen wollte. Als Muslim konnte er ihnen nicht trauen. Er war überzeugt, dass der indonesische Geheimdienst sich in der Hand der Katholiken befand. Er rief den Rektor der Hochschule an. "Lassen Sie mich mit ihnen sprechen", sagte dieser. Er verhandelte mit den Männern, aber sie bestanden zu dessen Häuschen hinüber, aber als er ankam, hatten sie ihn schon in ein Taxi gesetzt und mitgenommen. 
Die Geheimdienstler verließen das Haus um etwa 0 Uhr 30, eine Dreiviertelstunde nachdem sie geklingelt hatten. Imaduddin saß zwischen zwei Männern auf dem Rücksitz; der dritte saß vorn. Frühmorgens um halb fünf erreichten sie die Geheimdienstzentrale in Jakarta. Mit der heiteren Ruhe des Gläubigen hatte Imaduddin während eines Teils der Fahrt geschlafen. Als sie ankamen, war es Zeit für das Morgengebet, und man erlaubte ihm zu beten. Dann wurde er aufgefordert, in einer Art Wartezimmer zu warten. Er erhielt etwas zum Frühstück. Um acht Uhr wurde er in ein Büro gebracht, und ein Oberstleutnant in Uniform begann mit dem Verhör. Weder beschimpfte oder misshandelte man ihn, noch drohte man ihm damit. Als Dozenten des Institute of Technology betrachtete man ihn wohl als höherrangigen Amtsträger, den man korrekt zu behandeln hatte. 
Nach dem Oberstleutnant kam ein Mann in Zivil an die Reihe. Dieser Mann sagte ihm seinen Namen. Imaduddin erkannte darin einen der Staatsanwälte wieder. 
"Sind Sie Muslim?", fragte er Imaduddin. "Ja, ich bin Muslim." 
"Glauben Sie deshalb, dieses Land sei ein islamischer Staat? Ist das Ihre Ansicht?" 
Er war ein gebildeter Mann, Jurist, vielleicht fünf Jahre jünger als Imaduddin. 
"Ich weiß nicht", antwortete Imaduddin, "was ich Ihnen sagen soll. Ich habe nicht Jura studiert. Ich bin Ingenieur. Sie sind der Jurist." 
"Die Regierung hat so viel Geld aufgewendet", sagte der Staatsanwalt, "um Moscheen errichten zu lassen und andere Dinge für die Muslime zu tun. Sie hat die Nationale Moschee gebaut. Trotzdem gibt es noch Muslime, die aus diesem Land einen islamischen Staat machen wollen. Gehören Sie zu ihnen?" 
"Sagen Sie mir bitte, was Sie über dieses Land denken." 
"Es ist ein laizistischer Staat, kein religiöser." 
"Sie irren sich", sagte Imaduddin, "Sie irren sich gewaltig."
"Warum? Sie sagten doch, als Ingenieur hätten Sie keine Ahnung von Rechtsfragen." 
"Ein paar Dinge weiß ich. Weil ich in den Staaten studiert habe. Die USA kann man als laizistischen Staat bezeichnen. Aber Sie sagen selbst, die hiesige Regierung habe mit viel Geld Gebäude wie etwa die Nationale Moschee bauen lassen. Was für eine Regierung ist das?" 
Zwei Stunden lang debattierten sie miteinander und wiederholten immer dieselben Dinge. Dann wurde Imaduddin zum Hauptquartier der Militärpolizei gefahren. Dort holte man seine Akte hervor und brachte ihn mitsamt der Akte ins Gefängnis. Das Gefängnis hatte Sukarno, der erste Präsident des unabhängigen Indonesien, für seine politischen Gegner bauen lassen; vor Imaduddin waren viele berühmte Leute dort gewesen. Es war ein etwa sechzigtausend Quadratmeter großer Gebäudekomplex mit doppeltem Mauerring und Stacheldraht und anderen für ein Gefängnis typischen Sicherheitsvorrichtungen. Die Gebäude selbst waren aus Beton. 
Imaduddin erhielt eine große Zelle, sechs Quadratmeter, mit einem speziellen muslimischen Bad. Im ganzen Gefängnis gab es acht solcher Räume. Sie waren den ranghöheren Insassen vorbehalten, und als solcher galt Imaduddin. Er wusste, dass er lange Zeit dort würde bleiben müssen. Mit der ganzen Zuversicht und Beherztheit des unbeirrt Glaubenden - und seiner eigenartigen Einfachheit: Er hätte ebenso leicht Inquisitor wie Märtyrer sein können - bat er um einen Besen, um die Zelle sauber zu halten. Er fand sie schmutzig, denn als religiöser Mann hatte er ganz bestimmte Vorstellungen von Reinlichkeit. Den Baderaum scheuerte er sogar. Ganz besonders wichtig war dieser für seine rituellen Waschungen vor den Gebeten, die er fünfmal täglich zu verrichten hatte. 
Er lebte sich in den Gefängnisalltag ein. In der Mitte des den hatte, war nun, wenn er soziale Stimuli brauchte, angewiesen auf die neu eintreffenden Gefangenen, Leute wie Imaduddin, Menschen, die von jenseits der hohen Doppelmauern gleichsam hereingeweht wurden. 
Die beiden Männer sahen sich täglich. Sie besuchten sich gegenseitig in der Zelle. (Für die Gefangenen gab es morgens vor acht Uhr und noch einmal nachmittags, wenn die Wärter sich in ihre Aufenthaltsräume begaben, eine Art Umschluss.) Imaduddin und Subandrio waren sehr verschieden. Der Letztere mag damals - jedenfalls nach Imaduddins Schätzung - etwa fünfundsechzig Jahre alt gewesen sein. Imaduddin erzählte von der körperlichen Spannkraft des Älteren, von seinem kleinen Wuchs, seiner Ausbildung als Arzt, seiner javanischen Herkunft. Diese Herkunft spielte eine große Rolle. Die Javaner gelten als altmodische Menschen mit würdevollen Umgangsformen und einer bestimmten Art, heikle Dinge auszusprechen. Imaduddin dagegen kam aus dem Norden Sumatras; er war in jeder Hinsicht unverblümter und in puncto Islam puritanischer und militanter als die Javaner. 
Imaduddin wird für die von Subandrio vor 1965 vertretene Politik wohl nichts übrig gehabt haben. Ende 1979 erzählte er mir, als junger Mann habe er kein Sozialist sein können (obgleich die Sozialisten ihn generös behandelt hätten), denn er war ja "bereits" Muslim. Damit wollte er vermutlich sagen, dass es alles, was am Sozialismus human und sympathisch ist, auch im Islam gibt und er deshalb darauf verzichten konnte, den weltlichen Weg zu gehen und seinen Glauben aufs Spiel zu setzen. Dreizehn Jahre zuvor hätten Imaduddin und Subandrio auf verschiedenen Seiten gestanden. Aber das Gefängnis glich die Gegensätze aus. Außerdem hatte Subandrio sich verändert: Er war religiös geworden. Bei ihrer ersten Begegnung sagte er Imaduddin, er würde den Koran gern besser kennen lernen, und bat ihn, ihm dabei behilflich zu sein. Das war mehr als javanische Höflichkeit oder Resultat der dem Gefängnisleben geschuldeten sozialen Entbehrung. Subandrio war ein wahrhaft Suchender. Imaduddin wurde sein Lehrer.

Mit freundlicher Genehmigung des Claasen Verlages

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