Vorgeblättert

Stephan Wackwitz: Ein unsichtbares Land, Teil 3

13.02.2003.
Teil 3
Das Schweigen

Ich kann mich eigentlich nicht erinnern, daß mein Großvater zu Lebzeiten öfter als zweidutzendmal das Wort an mich gerichtet hat - jedenfalls nicht in bedeutenderen Angelegenheiten als ”Gib mir doch mal das Salz rüber” oder ”Badestube ist frei” oder ”Jetzt sei mal bitte still, Junge”. Außerhalb seiner Familie war er bekannt dafür, daß er etwas zu sagen hatte, sogar für Charme, Schlagfertigkeit und Witz. In Gegenwart seiner Enkel aber verstummte mein Großvater - aus Gründen, über die ich als Kind viel nachgedacht habe. Wenn wir schon eine Familie waren, sagte ich mir damals, dann würden wir jetzt - am Frühstückstisch; nach dem Mittagessen; beim Nachmittagskaffee - doch irgendwie etwas miteinander anfangen müssen: etwas nämlich, an dem auch mein Vater, mein Onkel (beide nahmen sich den familiären Totstellreflex ihres Vaters stark zum Vorbild) und eben mein Großvater beteiligt wären. Es mußte doch möglich sein, daß die jetzt auch mal etwas sagten, fand ich. Das steinern gewahrte Schweigen der Familienmänner im Kreis ihrer Frauen, Kinder und Enkel, an das meine Großmutter, meine Mutter und meine Tanten sich gewöhnt zu haben schienen und das sie mit einer amüsierter Nachsicht betrachteten, erfüllte mich mit so etwas wie Panik. Das war doch nicht normal, daß die nie etwas sagten, empfand ich vor allem in einem Alter, in dem Kinder nichts so glühend ersehnen wie vollkommene Normalität. Später, als ich schon Sinn für die komischen Seiten unseres Familienlebens aufbrachte, hatte sich die nervöse Verzweiflung meines Großvaters über uns alle dann schon bis zu einer Art Stimmlosigkeit gesteigert. Der im Gespräch mit irgendwelchen Nachbarn, wie ich fassungslos immer wieder feststellte, eloquente und lebhafte Mann verlor am Frühstücks- oder Abendbrottisch nicht nur all diese Eigenschaften völlig; mir gegenüber saß, wie ich jetzt einsehen mußte, ein nicht einfach nur irgendwie mißmutiger, sondern vielmehr ein völlig mutloser Mann, dem es noch in seiner Rolle als Familienoberhaupt kaum gelingen wollte, seiner Stimme den für allgemeine Verständigung notwendigen Nach- und Luftdruck zu verleihen.

Mein Großvaters nahm in Gegenwart von uns Kindern - merkwürdigerweise aber auch, wenn er mit meiner Großmutter sprach - ein leidendes, um Schonung bittendes Piepsen an, das mir, je älter und erwachsener ich wurde, nicht nur auf die Nerven ging, sondern ausgesprochen unheimlich war. So ging es doch nicht zwischen so nah Verwandten und vor allem nicht zwischen Eheleuten, fand ich - jetzt, als ich selbst das Wort an Frauen zu richten versuchte, kamen mir die Schwächezustände meines Großvaters natürlich auch aus anderen Gründen unmöglich vor. ”Och Kinder, nun laßt mich doch mal” pflegte er aus der Tiefe seiner familiären Kraftlosigkeit aufzuseufzen, wenn wir Kommunikationsanforderungen an ihn stellten, die ihm nicht zumutbar schienen - wozu freilich nicht viel gehörte. Dabei dämmerte mir damals schon, warum mein Großvater nur in Gegenwart von uns Kindern so gekränkt und schlaff war. Je mehr ich damals über die Trostlosigkeit nachdachte, die meine Schwester, meine Cousinen und ich in ihm auslösten, desto deutlicher verstand ich, daß das Schweigen meines Großvaters ebenso wie sein gelegentlich ausbrechender Zorn über uns ein Vorwurf an die Frauen waren; ohne die wir ja nicht dagewesen wären. Aus irgendeinem Grund schien mein Großvater es nicht, wie andere Erwachsene doch durchaus, gut finden zu können, daß wir soviel jünger waren als er. Wir verhießen ihm keine Zukunft. Wir deprimierten ihn bloß; und wenn mein Großvater mir auch nie wirklich nahe genug stand, daß mich seine nervöse Kälte und Härte nachhaltig bekümmert hätten, beschäftigte seine Ablehnung mich manchmal doch. Die Familientraurigkeit meines Großvaters, fand ich, war eine merkwürdige, die natürliche Ordnung der Dinge zwischen Kindern und Erwachsenen irgendwie auf den Kopf stellende Abweichung.

Ein paar Jahre später aber, als ich selber schon an der Schwelle zum Erwachsensein stand, hatte ich das Interesse an den familiären Erstarrungszuständen meines Großvaters längst verloren. Sein Leiden an uns war mir jetzt egal. Was er zu sagen haben mochte, wenn er etwas sagen würde - ich hätte es nicht mehr wissen wollen. Ich hatte mich daran gewöhnt, daß Kinder und Männer offenbar verschiedenen Stämmen angehörten, die zufällig dasselbe Territorium bewohnen, zwar nicht ausgesprochen feindlich gegeneinander, aber doch wachsam und mit einem gewissen wechselseitigen Mißtrauen (die Frauen bildeten einen wieder eigenen, uns wieder anders verschlossenen Kreis). Erst in den Siebziger Jahren, als meine älteren Cousinen Kinder bekamen und ihre Männer von den Babys schwärmten, mit ihnen spielten, sie gelegentlich sogar wickelten und badeten (es war unbeschreiblich lächerlich, fand ich damals, aber es erfüllte mich auch mit einer diffusen Eifersucht), erst damals wurde mir klar, daß es auch anders gegangen wäre (das Ende der Nachkriegszeit in Deutschland ist gerade an solchen Nebensächlichkeiten sichtbar geworden: daß Familien sonntags manchmal zum Mittagessen ins Restaurant gingen; daß Frauen so kurze Röcke trugen, als wären sie kleine Mädchen; und daß Männer mit Kindern spielten). Mein Großvater aber wollte nichts mit mir zu tun haben. So konnte ich ihn beobachten, und ich beobachtete ihn genau und herzlos. Er war komisch, stellte ich schließlich fest, als ich vierzehn oder fünfzehn war; unfreiwillig komisch.

Mein erstes literarisches Erfolgserlebnis habe ich in der Schule mit einer ”Personenbeschreibung” erzielt, in der ich meinen Großvater zum Thema machte. Ich kann mich erinnern, daß ich schrieb, er habe im Urlaub, einem Bahnbeamten gegenüber ”in einem Hawaihemd, auf dem alle Wunder und Schrecken des Dschungels dargestellt sind” (eine Formulierung, auf die ich besonders stolz war und an die ich mich bis heute erinnern kann), denselben Respekt verlangte, als trüge er seine Pastorenamtstracht mit Talar und Beffchen. Und dann wieder saß er am gedeckten Frühstückstisch und schien sich nicht helfen zu können. Er streckte die Hand in Richtung auf einen gewünschten Frühstücksgegenstand aus; er schüttelte das kraftlos herabhängende Fingerbüschel ein wenig und ließ eine Art Gewimmer hören, das man bei einiger Eingeweihtheit als ”Gib mer doch mal” deuten konnte.

Erst als ich diese Entdeckung schon gar nicht mehr wirklich brauchte und wollte, mit sechzehn oder siebzehn, habe ich herausbekommen, daß mein Großvater nicht immer schwieg oder wimmerte. Ich erfuhr, daß (wie manche dunklen Wesen der Sage den Tag und das Treiben der Menschen an abgelegenen Orten verdämmern und erst nachts lebendig werden) das Leben der Männer begann, wenn die Kinder im Bett waren. Das Erwachen folgte einem Ritual. Der Tisch war abgeräumt, die Kinder durch Frauen beiseitegeschafft, das Anforderungswimmern verstummt. Das Leiden ging in ein Ächzen über; das Behagen kündigte sich an. Nur zum Schein, sozusagen anstandshalber noch seufzend, fast schon aufgeräumt, erhob sich mein Großvater und blickte in die Runde seiner Söhne, zu der, vorläufig hospitierend, ohne den Status der Vollmitgliedschaft, nun auch ich gehörte. ”Vielleicht doch,” fragte er spitzbübisch anheimstellend: ”Vielleicht doch ein vino?”

Und begleitet von den immer gleichen ironischen Klagen darüber, daß die Söhne ihm die Vorräte leertränken, Reden, in denen er unweigerlich auf den Pelikan zu sprechen kam, der sich der Legende zufolge die Brust mit dem Schnabel aufreißt, um seine Jungen zu atzen, trug mein Großvater nach langer, ebenfalls behaglich ritualisierter Diskussion über die zu treffende Auswahl eigenhändig Flaschen aus der Küche herbei, deren zum Teil außerordentliche Qualität und Seltenheit an mich vorerst freilich noch verschwendet waren. Ihr Inhalt aber zusammen mit dem Duft der nun allseits angesteckten Zigarren versetzte mich trotzdem schnell in einen angenehmen Benebelungs- und Erhobenheitszustand. So also war das Erwachsensein.

Worum es an jenen Abenden gegangen ist, weiß ich im einzelnen nicht mehr; man wird mich in den ersten Jahren meines Status als Probemann nach dem ersten Glas dann auch ins Bett geschickt haben. Erinnern kann ich mich nur, daß meines Großvaters gereizte Weinerlichkeit sich schnell in eine gutmütig verknarzte, nur noch ironisch vorgespiegelte Übellaunigkeit verwandelte und daß er, wenn wir Jungen alles richtig machten, in späteren Stadien auch die über Bord warf und lange Erzählungen oder Vorträge über die Weltläufte und sein früheres Leben begann, Monologe über Afrika, Anhalt, Breslau, über die Besteigung des Matterhorns und Bergwanderungen durch die hohe Tatra - Schilderungen und Betrachtungen, in die man allerdings, wenn überhaupt, nur mit hilfreich-assistierenden Fragen oder Stichworten eingreifen durfte. Spürte mein Großvater Mangel an Enthusiasmus bei seinen Zuhörern, ergaben sich ungläubige oder gar kritische Einwände, überhaupt zu viele Unterbrechungen, verfiel er schnell wieder in trotzige Schweigsamkeit, die alten Verstimmungs- und Erschlaffungszustände traten auf, der Zauber war gebrochen und Söhne wie Enkel mußten ins Bett.     

Je weiter es in die Sechziger Jahre hineinging, je erwachsener ich wurde, desto öfter sind solche Störungen und Abbrüche aufgetreten. Nicht nur, weil sie manchmal auch von Bemerkungen seines ältesten Enkels ausgingen, sondern wohl einfach deswegen, weil mein Erwachsenwerden mit einer schleichenden, aber unübersehbaren Veränderung auch seiner Söhne und vor allem der außerfamiliären Weltzustände Hand in Hand ging, bin gerade ich, scheint es, je mehr Zeit verging, meinem Großvater immer weniger geheuer gewesen. Mein Erwachsenwerden verdarb ihm die Laune und die Lust auf das Leben der Männer vollends. Lang vor ihm waren die meisten gestorben oder ihm aus dem Blick geraten, mit denen er als Zeitgenosse reden konnte (reden, ohne sich erklären zu müssen, wortlos, mit einem Zitat, einer Anspielung, einem sarkastischen oder wissenden Blick; so wie mein Vater und mein Onkel, so wie meine Freunde und ich miteinander redeten). Mein Großvater wurde damals zu Lebzeiten, bei lebendigem Leib sozusagen, geschichtlich erklärungsbedürftig. Es ist deshalb folgerichtig gewesen, daß er sich gegen die Einsamkeit unter uns in diesen Jahren wehrte, indem er sich seiner Familie (und wahrscheinlich auch sich selbst) ausführlich beschrieben und erklärt hat - angesichts unserer Begriffsstutzigkeit und Aufsässigkeit allerdings nicht mündlich, sondern mithilfe eines ausgedehnten schriftlich-literarischen Unternehmens.

In der herrisch-depressiven Atmosphäre seines dunklen Arbeitszimmers, das nach Zigarren, Büchern und Staub roch und in dem das präparierte Fell eines Leoparden mit aufgerissenem Maul und braunen Glasaugen lag, vor dem ich mich als Kind fürchtete, schrieb er seit den Fünfziger Jahren und bis fast zu seinem Tod für seine Kinder und Enkelkinder die Erinnerungen auf, von denen abends beim Wein uns zu erzählen ihm immer mühsamer wurde. Es verging damals keins der stets aufwendig gefeierten Familienfeste und Jubiläen, ohne daß mein Großvater einen neuen Band dieser fortlaufenden Ich-Erzählung vorlegte. In der Regel waren es zwei- bis dreihundert sehr eng beschriebene Seiten auf zwiebelschalendünnem Durchschlagpapier, von dem jedes seiner fünf Kinder ein Exemplar erhielt. Über fast ein Vierteljahrhundert ist auf diese Weise ein Konvolut von vielen Hunderttausend Wörtern entstanden, das ich seinerzeit als eine ebenso merkwürdige und peinliche Schrulle meines Großvaters angesehen habe wie seine nervösen Erschöpfungszustände beim Frühstück und seine merkwürdig illuminierte Redseligkeit abends beim Wein. In Wirklichkeit jedoch sind diese Aufzeichnungen, wie mir inzwischen klar geworden ist, ein verspätetes Beispiel der nach dem Ersten Weltkrieg eine Zeitlang lächerlich (oder unheimlich) zahlreich geschriebenen und sogar in Druck gegebenen Memoirenwerke, mit denen nicht nur der deutsche Kaiser Wilhelm II. selbst und sein Führungspersonal, sondern auch weniger eminente oder gar nicht bekannte Wilhelminer ihren Lebenslauf krönten und zusammenfaßten. Die enggetippten Seiten meines Großvaters sind der Roman eines Lebens und eines Landes, das mit dem Einmarsch der Wehrmacht nach Polen und dem damit in entferntem, aber ursächlichem Zusammenhang stehenden Untergang des Dampfers ”Adolph Woermann” im Südatlantik bei St. Helena für immer versunken ist, die Erzählung eines Mannes, der 1939 für den Rest seines Lebens ein Schiffbrüchiger geworden war und mit dem Land, in dem er lebte, sowenig anfangen konnte wie mit seinem Enkel.

Nachdem ich durch jenen ersten Anruf meines Vaters von der Geschichte der wiedergefundenen Kamera erfahren hatte, dachte ich im Büro, unter der Dusche, auf dem Weg zur Arbeit, auf dem Fahrrad am Wochenende darüber nach, was auf dem über ein halbes Jahrhundert lang vergessenen Film in einer um 1935 im britischen Mandatsgebiet Südwestafrika gekauften No. 1A Pocket Kodak zu sehen gewesen wäre, wenn sich die letzten Bilder dieses dem Scheitern eines ganzen Landes entgangenen Apparats erhalten hätten. Das Nachdenken über die Pocket Kodak meines Vaters verfestigte sich zu einer fixen Idee; als könne ich nicht genug davon bekommen, vom sicheren Gestade meines eigenen Landes und Lebens aus den Untergang der ”Adolph Woermann” mir immer wieder vorzustellen und auszumalen; als sei an jenem Morgen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs mit dem Hausrat meiner Großeltern ein Geheimnis über mich selbst im Südatlantik versenkt worden. Und an einem der nächsten Abende nahm ich den grün marmorierten Band mit den Erinnerungen meines Großvaters an Südafrika aus der wenig benutzten Ecke meiner Bibliothek, wo er seit Jahrzehnten ungelesen stand. Ich hatte die Stelle schnell gefunden.

Unser Zug ging mittags 1 Uhr in Windhuk ab, am Sonntag, dem 20. August. Sehr viele waren gekommen, uns noch einmal die Hand zu drücken, es war ein ‘großer Bahnhof’! Schokolade, Kekse, Zigarren, Obst, von B. eine Flasche Rotwein und andere kleine Reiseerquickungen wurden uns zugesteckt. Die Pfadfindergruppe ‘Hauptmann von Erckert’ und Gutschus Pimpfen-Gruppe standen mit ihren Wimpeln in Reih und Glied am Zuge, und auch die Freundinnen der Mädel waren in Pfadfindertracht gekommen. Die Kinder hatten in ihren Schulklassen und Pfadfindergruppen auch ihre eigenen Abschiedsfeiern gehabt. Als der Zug sich in Bewegung setzte, biß Gutschu die Zähne zusammen, Elisabeth warf sich, vor Abschiedsschmerz laut aufweinend, auf die Sitzbank, Beate schluchzte mit, der Mutti liefen die Tränen und ich schwankte zwischen Lachen und Weinen. - Gutschu war in der letzten Zeit ‘völlig verpfadfindert’, wie ich im Juni 39 nachhaus schrieb, ‘er ist einer der sieben Gruppenführer im Horst Windhuk und würde am liebsten hierbleiben.’ Und er ließ ja in der Tat, vielleicht mehr als die anderen Kinder, das schönste Stück seiner Jugend hier in Südwest zurück. Auf einem Auto gaben ihm seine Kameraden das Ehrengeleit bis zur nächsten Station Brakwater, ihm selbst zur Überraschung. Wir sahen das Auto auf der Okahandja-Pad den Zug überholen. Als der Zug in Brakwater einlief, standen sie alle in Reih und Glied auf dem Bahnsteig und grüßten mit Ruf und Lied. Wir hatten gerade Zeit, ihnen von unserer Schokolade zu geben, da fuhr der Zug wieder an. Als wir in Walfischbucht an Bord gingen, bekam Gutschu noch ein Telegramm von ihnen.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages

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