Vorgeblättert

Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler, Teil 2

29.03.2004.
Herwarth Walden schloß dem Verein auch einen Verlag an, und hier erschien Else Lasker-Schülers zweites Buch, Der siebente Tag, mit der Widmung "Meiner teuren Mutter."(19) Die Sammlung unterscheidet sich deutlich von dem ersten Gedichtband Styx. Wohl enthält er unter den 30 bis auf vier bisher unveröffentlichten Gedichte wieder eine Reihe von Liebesgedichten, aber der vitalistische Sinnenrausch ist fast ganz verflogen. Jetzt läßt sich eine größere Innigkeit spüren, die bis ins Süßliche abgleiten kann oder, wie zwei gewollt komische Gedichte ("Als ich noch im Flügelkeide ?" und "Groteske")(20), völlig aus dem Rahmen fallen. Andererseits sind manche Gedichte von Schwermut geprägt, wie das die Sammlung abschließende "Weltende".(21) Else Lasker-Schüler hat ihre Gedichtsammlungen immer kunstvoll angeordnet. Der Siebente Tag wird mit "Erkenntnis"(22) eingeleitet, einem Nachklang aus der Zeit der Neuen Gemeinschaft, deren Gründern sie eine frühere Fassung gewidmet hatte. "Weltende" setzt sie an den Schluß: 

Es ist ein Weinen in der Welt,
Als ob der liebe Gott gestorben wär,
Und der bleierne Schatten, der niederfällt
Lastet grabesschwer. 

Komm, wir wollen uns näher verbergen ....
Das Leben liegt in aller Herzen
Wie in Särgen.

Du! wir wollen uns tief küssen ....
Es pocht eine Sehnsucht an die Welt,
An der wir sterben müssen. 

Drei Strophen, fünf Sätze in knapper Sprache. Die Liebe wird dem Tod gegenübergesetzt in einer todtraurigen Welt, in der Gott gestorben zu sein scheint. Daß er nicht gestorben ist, bekräftigen zwei andere Gedichte im Siebenten Tag, die später in die Hebräischen Balladen aufgenommen wurden, "Mein Volk" und "Zebaoth".(23) Sie beweisen, wie die jüdische Thematik das Werk von Anfang an durchzieht.
Bald nach Hilles Tod begann Else Lasker-Schüler das Hille-Buch zu schreiben, wozu sie sich von Hille selbst beauftragt fühlte; "ich mache schon seit Monaten keine Besuche", schrieb sie an Salomo Friedländer, "ich sammele jede freie Minute mir und schenke sie dem Peter-Hillebuch, es wird die Grundlage meines Lebens sein, die Centrale, die ich mir selbst aufbaue, der Glaube, daß ich nötig dem Leben war."(24) Wohl auch deshalb gibt es aus dem Jahr 1905 nur eine Handvoll Briefe der Dichterin.
In den 47 Prosastücken, von welchen die kürzesten keine 20 Zeilen umfassen und die längsten keine drei Seiten, wird der Name Peter Hilles nie genannt. Lasker-Schüler hatte sich die Angewohnheit Hilles zu eigen gemacht, ihre Dichter- und Künstlerfreunde mit poetischen Namen zu belegen. Diejenigen, die sie ihrem Meister verleiht, deuten auf seine überragende menschliche Größe, seine moralische Unantastbarkeit, seine Sehergabe und nahezu Heiligkeit hin. In den Titeln der einzelnen Texte nennt sie ihn meist Petrus, und als Petrus der Felsen erscheint er bereits zu Beginn des Peter Hille-Buchs, das in einer dithyrambisch mitreißenden Sprache geschrieben ist, in der Nietzsches Zarathustra-Verse nachklingen. "Ich war aus der Stadt geflohen und sank erschöpft vor einem Felsen nieder und rastete einen Tropfen Leben lang, der war tiefer als tausend Jahre. Und eine Stimme riss sich vom Gipfel des Felsens los und rief: 'Was geizst Du mit Dir!'"(25) Zu dem Freund Paul Goldscheider hat Else Lasker-Schüler später gesagt: "Nietzsche hat die Sprache geschaffen, in der wir alle dichten."(26) Der Stimme des Rufers, der mit weiteren Namen aus vielen Kulturen belegt wird - Poseidon, Noah, Baldur und Wotan -, folgt seine Jüngerin Tino entweder allein als Auserwählte auf einsame Beggipfel oder im Kreis anderer Jünger zu Frühlingsfeiern und Sommerfesten in Gärten und Wälder oder gastliche Häuser. Da werden Kränze gewunden, Wein perlt in Pokalen, Musik erklingt. Else Lasker-Schülers Spiel mit Namen ist so reizvoll, daß es immer wieder dazu verführt, in der Verschlüsselung dieser Figuren, des Narren Tabak, des Königs Otteweihe und des Kämpfers Senhulf, den Sinn des Peter Hille-Buchs zu suchen und sie deshalb entschlüsseln zu müssen. Das ist auch für eine ganze Reihe von ihnen gelungen. Man entdeckt Peter Baum in dem schönen Jüngling Antinous, seinen Bruder Hugo in Grimmer von Geyerbogen, deren Schwester Julia hinter der Najade, "der unbändigste der Musikanten", Goldwarth, ist Herwarth Walden. Die "Jerusalemiter" unter Anführung von Ali Brem scheinen eine Gruppe von Zionisten darzustellen, denn "sie waren wieder in ihrer Heimat gewesen und brachten Petrus und mir Geschenke [?]". Sie setzen Tino einen Turban auf, worauf sie von Schwermut überkommen wird. "'Sieh, Deiner Freundin Augen stehen gen Osten,' riefen die Jerusalemiter."(27) Über diesem Namenspiel gerät jedoch das eigentliche Thema des Peter Hille-Buchs in Vergessenheit, für sein Verständnis ist es irrelevant, wer sich hinter Onit von Wetterwehe verbirgt. Gerhart Hauptmann wurde hinter dem fürstlichen Gastgeber vermutet, ein Zeitzeuge hat ihn schließlich als einen gewissen Hans Schlieper identifiziert.(28) 
Bei dem Peter Hille-Buch handelt es sich gleichermaßen um eine Huldigung an den Verstorbenen wie um die "Geschichte einer Künstlerwerdung".(29) Das zeigt sich an der wichtigen Rolle von klein Pull, einem winzigen Bürschchen, das Tino auf der Schulter trägt oder das aus der Tasche von Petrus? schwarzem Mantel lugt. Damit ist der zwei- bis dreijährige Paul gemeint, der oft bei Anna Lindner abgestellt wurde, wenn seine Mutter mit dem Hille-Kreis auf Exkursionen ging. Einmal führt Tino Petrus zum Haus der Schwester, wo das Bübchen mit Annas Töchtern Sage und Haidekraut - sie hießen Edda und Erika - im Garten spielt. Die Schwester sieht "sehr nachdenklich" aus. "Ich wusste, dass die Majestät Petrus sie beängstigen würde - und sie erfasste sorgenvoll meine Hände. 'Willst Du nicht bei uns bleiben?'" Tino aber tut den entscheidenden Schritt: "ich riss mich los, streichelte Sage und Haidekraut, küsste meinen kleinen Wildfang und ging dem Herrlichen nach."(30) Noch einmal findet sich eine Anspielung auf "Jene, die sich dünkten mit mir verwandt zu sein",(31) und die Tino ihr Kind ablisten wollen. In ihrer Familie, wohl auch der der wohlsituierten Kusine Therese Simon in Berlin, mußte der Entschluß Else Lasker-Schülers, sich der Jüngerschar Peter Hilles anzuschließen, Befremden ausgelöst haben, obwohl ihr Bruder Moritz ebenfalls von Hille beeindruckt war.
Die Mehrzahl der Episoden des Peter Hille-Buchs verdeutlichen, warum sich Tino von der Familie losreißen mußte. Sie wurde durch den Meister in eine Welt eingeführt, in der sie fortan leben würde, weil sie nur hier leben konnte, nicht eingeengt von Konventionen, offen für die Kunst und für alle Kulturen. So führt Petrus seine Begleiter in verschiedene Gotteshäuser. Am Palmsonntag besuchen sie eine katholische Kirche. Dort am Kreuz "harrte der Nazarener, er litt unendlich, so festgenagelt, so blutgenagelt, so hergegeben ?" Wer die Worte "? nimm ihn vom Kreuz!"(32) spricht, ob Petrus oder Tino, ist nicht klar. Am Versöhnungstag geht Peter Hille mit Tino allein in eine Synagoge. "Leise las Petrus die hebräischen Gesänge der Bibel: 'Wundervoll ist die Gestalt dieser alten Sprache, wie Harfen stehen die Schriftzeichen und etliche sind gebogen aus feinen Saiten'."(33) Hilles Vergleich hebräischer Schriftzeichen mit Harfen wird sie immer wieder benutzen.
Mancherlei Abenteuer, Raubzüge der Jünger, die sich ebenfalls mit ihren Familien entzweit haben und sich zu Mundraub gezwungen sehen, betonen den antibürgerlichen Aspekt der Hille-Gemeinde. Grimmer von Geyerbogen raubt sogar einmal einen Pelz für Peter Hille in einem Kaufhaus. Solches Fabulieren machte es natürlich nötig, die wirklichen Personen des Peter Hille-Buchs hinter Phantasienamen zu verbergen.
So wie sich Tino von ihrer Familie losgerissen hat, flieht sie in einer dramatischen Episode auch vor Petrus selbst "die Berge herab, mir voraus mein Herz [?]".(34) Das heißt jedoch nicht, daß Else Lasker-Schüler sich jemals von Hille abgewandt hätte. Die Flucht, die Tino bald bereut, war gleichsam eine künstlerische Selbstbehauptung.
Das Peter Hille-Buch sollte zwar der Erinnerung an einen außergewöhnlichen Menschen dienen, war aber nur für Eingeweihte zu verstehen. Samuel Lublinski, dessen Vorbehalte gegen die Moderne immer mehr wuchsen, wie er 1906 in einem Brief an Herwarth Walden bekennt, drückt im gleichen Schreiben seine Reserviertheit gegenüber diesem Werk aus. Auf die Zeitgenossen, meint er, wirkten solche Bücher, in welchen die Autoren "modernes, intensives Seelenleben eingefangen haben und es dann schäumen und rauschen lassen", denn sie hatten die gleichen oder ähnlichen Erfahrungen und verstehen jede Andeutung. Aber wenn einmal dieses Leben und diese Zeit verrauscht sind, "dann werden spätere Leser, sagen wir nach einem halben oder ganzen Jahrhundert, das alles nicht mehr verstehen können und Bücher, hinter denen stärkste Persönlichkeiten und Talente standen, werden unentzifferbare Hieroglyphen sein".(35)Er hatte recht und andere stimmten ihm zu. Hedwig Dohm, die ebenfalls im Peter Hille-Buch ein Werk für Eingeweihte sah, meinte "daß diese Tafelrunde des Weltfremdlings Peter Hille Königskinder aus Bohemeland sind".(36) Unter den nicht eingeweihten Zeitgenossen war die Reaktion entsprechend negativ.
Als das Peter Hille-Buch entstand, machte Else Lasker-Schüler gerade die Bekanntschaft einer Frau, die das Erbe eines Denkers verwaltete, dessen Spuren bereits in den Gedichten des Siebenten Tags zu finden sind, Nietzsches Schwester Elisabeth. Herwarth Walden hatte am 28. Oktober 1905 den einzigen Abend des Vereins für Kunst außerhalb Berlins im Nietzsche-Archiv veranstaltet, zu dem er mit seiner Frau nach Weimar fuhr. Es sollte eine Gedenkfeier für Nietzsche werden, der fünf Jahre zuvor gestorben war. Walden plante schon seit längerem eine Zusammenarbeit mit dem Archiv, auch eine Zeitschrift wollte er gründen, die unter dem Namen "Stimme der Runde" den Ruhm des Philosophen in die Welt tragen sollte.(37) Die Zeitschrift kam nicht zustande, der Nietzsche-Abend mißfiel Frau Förster-Nietzsche und endete wieder einmal in einem finanziellen Desaster. Else Lasker-Schüler, die auf die Anwesenheit Harry Graf Kesslers gehofft hatte, wurde ebenfalls enttäuscht. Der Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe, der sich bereits mit Plänen zu seiner Cranach-Presse trug, kam nicht. Die Dichterin wird jedoch mit großem Interesse die Villa Silberblick betrachtet haben, den Sitz des Nietzsche-Archivs, die Henry van de Velde im Auftrag Elisabeth Förster-Nietzsches zu einem kuppelgekrönten Tempel umgebaut hatte.
Der Name Nietzsche war seit Else Lasker-Schülers Jugend das Losungswort all jener, vom jungen Gymnasiasten zum gewitzten Intellektuellen, die die Schranken der wilhelminischen Gesellschaft, ihren kulturellen und politischen Nationalismus und ihre heuchlerische Prüderie zertrümmern wollten. Spätestens durch Berthold Lasker war er auch zu der Elberfelderin gedrungen. "Habt Ihr noch ein Buch von ihm Nietsche [?] ? Bitte schickt es.",(38) schrieb sie 1895 an die Schwester in Straßburg, wohin es wohl entliehen worden war.
Es mag sich dabei um Also sprach Zarathustra gehandelt haben, das Werk, vielleicht sogar das einzige neben Nietzsches Gedichten, das Else Lasker-Schüler genauer kannte. Nietzsche klang ihr jedoch bei den Veranstaltungen der Neuen Gemeinschaft in Rezitationen und, indirekt, aus dem Mund Nietzsche-Inspirierter wie der Harts und Hilles entgegen. In Nietzsches Philosophie wurde sie durch Rudolf Steiner eingeführt. Am 13. September 1900, knapp drei Wochen nach Nietzsches Tod, sprach er bei einer Gedenkveranstaltung der Kommenden, bei der auch Else Lasker-Schüler anwesend war, und prophezeite, daß der Tote als "Märtyrer der Erkenntnis" in die Zukunft eingehen würde, "der in der Dichtung Worte fand, zu sagen, was er litt". Im Winter 1902/03 hielt Steiner ebenfalls bei den Kommenden einen Vortragszyklus "Von Zarathustra zu Nietzsche". Es darf angenommen werden, daß die Dichterin zumindest einige davon gehört hat; Vorträge besuchte sie bis in ihre letzten Lebensjahre mit Leidenschaft.
So war sie auch höchstwahrscheinlich in die Kontroverse zwischen Steiner und dem Nietzsche-Archiv eingeweiht, bei der es um die Edition des Nachlasses ging, um die Entlassung von Herausgebern durch Elisabeth Förster-Nietzsche und um ihre Intrigen und Inkompetenz. Privatstunden, die Steiner Nietzsches Schwester gab, belehrten ihn, daß "Frau Förster-Nietzsche in allem, was die Lehre ihres Bruders angeht, vollständig Laie ist".(39) 

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(19) Else Lasker-Schüler, Der siebente Tag. Berlin-Charlottenburg 1905.
(20) KA 1,1, 116 und 117.
/21) KA 1.1, 135.
(22) KA 1.1, 103.
(23) KA 1.1, 123 und 124.
(24) KA 6, S. 67.
(25) KA 3.1, S. 29.
(26) Paul Goldscheider, Wo ich bin ist es grün. In: Lasker-Schüler. Ein Buch zum 100. Geburtstag. Michael Schmid (Hg.), Wuppertal 1969, S. 50-54.
(27) KA 3.1, S. 57.
(28) Ricarda Dick, Onit von Wetterwehe und die Lasker-Schüler-Forschung. In: Else Lasker-Schüler Jahrbuch zur klassischen Moderne I. Lothar Bluhm, Andreas Meier, Hg. Trier 2000, S. 79-88.
(29) Christine Reiss-Suckow, "Wer wird mir Schöpfer sein!!", S. 72.
(30) KA 3.1, S. 30.
(31) ebd., S. 37.
(32) ebd., S. 36.
(33) ebd., S. 40.
(34) ebd., S. 61.
(35) zitiert nach Peter Sprengel, Institutionalisierung der Moderne, S. 257.
(36) zitiert nach Marbacher Magazin, 71/95, S. 52.
(37) zu folgendem s. Lothar Blum, Nietzsche - Steiner - Lasker-Schüler. In: Else Lasker-Schüler Jahrbuch I, S. 88-120.
(38) KA 6, S. 11.
(39) Lothar Blum, Nietzsche - Steiner - Lasker-Schüler. In: Else Lasker-Schüler Jahrbuch I, S. 114.

Teil 3