Vorgeblättert

Sigrid Bauschinger: Else Lasker-Schüler, Teil 1

29.03.2004.
Die Zeit der Ehe mit Herwarth Walden
1903-1912
                                                                  Ich bin Krieger mit dem Herzen,
                                                                 
er mit dem Kopf.

"Habe noch immer keine Amore, finde nichts."(1) So schreibt Else Lasker-Schüler an die Schwester Anna im März 1900, ein halbes Jahr nach der Geburt ihres Sohnes zu einer Zeit, als die Trennung von ihrem Mann schon sicher war und als sie Herwarth Walden kennenlernte. Sein Klavierspiel bei den Veranstaltungen der Neuen Gemeinschaft, seine Vertonungen von Gedichten und sein Enthusiasmus für die neue Literatur hatten ihre Aufmerksamkeit auf den 21jährigen gelenkt. Vielleicht hatte er bereits im Sommer desselben Jahres Texte­ von ihr vertont, denn am 12. Januar 1901 kann sie der Schwester berichten, daß dieser Tage ihr Lied "Sinnenrausch" gesungen würde, "in einem Verein". Walden hat einen Zyklus "Zehn Gesänge zu Dichtungen Else Lasker-Schülers"(2) komponiert, die sie sehr schätzte. Allerdings hat sie immer wieder bekannt, nicht viel von Musik zu verstehen.(3) Sie hat aber wohl Waldens Absicht aus den Liedern herausgehört, "nicht Musik über ein Gedicht zu schreiben, also nicht von ungefähr die Stimmung zu treffen, sondern Beides so innig miteinander zu verschmelzen, daß Eins ohne das Andere gar nicht mehr denkbar ist". Dabei sollte die Musik ertönen, "die vom Ursprung an latent gerade in dem gewählten Gedicht enthalten war".(4) Die Zusammenarbeit bei den Teloplasma-Abenden hatte den jungen Pianisten und die bereits bekannte Lyrikerin einander näher gebracht. Dazu kam die Verehrung des jungen Walden für Peter Hille, die der Else Lasker-Schülers kaum nachstand.
      Die Ehe zwischen Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden wurde von der Kunst und für sie gestiftet. Beide hatten zweifellos Hindernisse zu überwinden und Opfer zu bringen, ehe sie am 30. November 1903 getraut wurden. Bei den neuen Schwiegereltern fühlte sich die Dichterin nicht willkommen. Sie fiel zwar nicht mehr ins Haus und verletzte sich die Knie, wie sie den Besuch bei den Eltern Lasker beschrieben hatte, aber das heimatliche Gefühl wie am runden Tisch der eigenen Familie stellte sich auch im Berliner Haus des Sanitätsrats Georg Levin nicht ein. Als sie das zweite Mal in eine Familie einheiratete, "das war noch trauriger; da folgte ich meinem Verlobten in seine Heimatstube. Ich saß neben seiner Schwester; mein Verlobter saß neben seiner Mama, und oben am Tischanfang trank sein Papa den Nachmittagskaffee, und auf einmal sah ich, daß die fremde Mama meinem Verlobten ein großes Stück Kuchen auf den Teller legte, ein Stück Torte mit einer Frucht darauf; und ich bekam ein schmales Stück Torte ohne eine rote Kirsche; da war ich plötzlich ganz klein wie zu Haus und weinte."(5) Der bei der Eheschließung 25jährige Sohn der Familie war sicher auf Widerstand gestoßen, als er die Absicht kundtat, eine 34jährige geschiedene und vermögenslose Dichterin zu heiraten, die ein vierjähriges Kind mit in die Ehe brachte. Sie dagegen verzichtete mit der Eheschließung auf finanzielle Unter­stützung durch ihren ersten Mann.
      Der Altersunterschied zwischen Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden ist im Grunde weniger frappant als die vielen gegensätzlichen Charakterzüge der Ehepartner. In ihrem Buch Herwarth Walden. Ein Lebensbild zeichnet Waldens zweite Frau Nell ein Bild, das Punkt für Punkt eine Liste von Gegensätzen zwischen den Ehepartnern ergibt. Da heißt es: "Weder fühlte er sich als Jude, noch als Deutscher."(6) Else Lasker-Schüler dagegen fühlte sich stets als jüdische Dichterin, die ihrem Volk Ehre machte, und als Rheinländerin, die die Mundart ihrer Region liebte und in Briefen und ihrem ersten Theaterstück benutzte. Walden hatte kein Auge für die Natur. Ihm waren Landschaften gleichgültig. "Alles Thüringen", pflegte er zu sagen. Lasker-Schüler dagegen schrieb ihre schönsten Essays über die Wälder des Bergischen Landes, das Meer und die Bäume, die sie "Erzväter" nannte. Viele Schilderungen sind mit Erinnerungen an die Kindheit und die Heimatstadt Elberfeld verbunden. Von Walden dagegen heißt es: "Er liebte keine Erinnerungen."(7) Ein ganz wichtiger Unterschied besteht in der Bedeutung der Religion für beide. Walden war areligiös und konfessionslos, die Dichterin der Hebräischen Balladen war tief religiös und stolz auf ihr Judentum.
      In dem ungleichen Paar treten uns zwei grundverschiedene Temperamente entgegen: emotional das eine, rational das andere. Niemand hat das deutlicher erkannt als Else Lasker-Schüler selbst. Als die Ehe nach neun Jahren geschieden wird, schreibt sie an Karl Kraus, "ich habe eingesehn, wir sehen und fühlen anders, wir spielen und lieben anders, ich bin Krieger mit dem [ein gezeichnetes Herz], er mit dem [Kopf, im Linksprofil mit Auge und Ohr]. Material: ich: Glas mit Burgunder er: Porzellan mit Mocca."(8) In einer Hinsicht jedoch und der für sie wichtigsten waren Walden und Lasker-Schüler ein Paar im Gleichklang. Als "Krieger" kämpften beide für die neue Kunst und damit die Erneuerung der Gesellschaft. In der expressionistischen Bewegung gehörten sie zur Avantgarde der heute klassisch genannten Moderne.(9) 
      Zur Zeit der Eheschließung wohnte das Paar in der Ludwigskirchstraße 1, wohin sie Anfang September gezogen waren. Für Else Lasker-Schüler begann nun eine schwierige Zeit. Der vierjährige Paul wird immer wilder und braucht ständig Aufsicht, seine Mutter hingegen muß und will arbeiten.
      Die Kritik hatte auf Styx, wie zu erwarten, unterschiedlich reagiert. Zunächst war Else Lasker-Schüler, sicher zu ihrem Mißvergnügen, aber durchaus üblich, der "Frauenlyrik" zugeordnet worden. Samuel Lublinski bildete eine Ausnahme. "Wer über die moderne Lyrik mitreden will", erklärte er in Ost und West, "der lese Styx von Else Lasker-Schüler."(10) Die Zeitschrift, die er zusammen mit Martin Buber herausgab, war 1901 als Sprachrohr der "jüdischen Renaissance" gegründet worden. "Das altjüdische Leben, das lange verschmäht und erniedrigt gewesen, erhebt sich, hüllt sich in die Gewänder der neuen Zeit und steigt langsam aber sicheren Schrittes die Stufen zum Throne empor", schrieb Buber in einem Editorial des ersten Hefts. Lasker-Schülers Gedichte entsprachen ganz seiner Vorstellung einer "Kunst und Dichtung, die nicht bloß zufällig von Juden stammt und im besten Falle vielleicht im Vorübergehen ein Blättchen biblischen Stoffes erhascht, sondern eine, die in Inhalt und Form die Art und das Schicksal unseres Stammes gestalten will [?]."(11) 
      In der bürgerlichen Presse dagegen stieß Else Lasker-Schüler auf Ablehnung, so in der illustrierten Unterhaltungsbeilage des Tag, wo Paul Remer "das Gewollte und Gequälte dieser Mystik" kritisierte und ein überreiztes Nervensystem am Werk sah.(12) In dem einflußreichen Literarischen Echo schrieb Alfred Regener dagegen eine die leidenschaftlichen Gedichte nachempfindende Rezension und zeigte sich dermaßen beeindruckt, daß er meinte, diese Dichterin könne sich gar nicht mehr steigern und hätte ihren Zenit erreicht. Solche Urteile und was Else Lasker-Schüler im Freundeskreis und bei privaten Lesungen, so bei den Literaturwissenschaftlern Max Herrmann und Salomon Kalischer, hörte, spornten sie natürlich an, so bald wie möglich mit einem zweiten Buch zu erscheinen.
      Im März 1904 war der Gedichtband Der siebente Tag fertig. Die Dichterin bot ihn wieder Axel Juncker an. "Ich glaube, es sind gewaltige Sachen, die Aufsehn machen", dafür fordert sie 200 Mark. "Lieber eine dünne Taube in der Hand als eine gefüllte im Traum. Ich denk? dabei an Pharaos Traum an Joseph und seine Brüder."(13) Anfragen bei S. Fischer, dem Insel Verlag und Diederichs folgen. Viele Male bittet sie Juncker um das vertraglich vereinbarte Honorar von 100 Mark für die ersten 300 verkauften Exemplare des Styx.
      Aber nicht nur die Verlagssuche, sondern auch die Sorge um die Kinderbetreuung beschäftigten sie. Gleichzeitig bemühte sie sich, Herwarth Waldens Kompositionen bekanntzumachen. Hauskonzerte wurden veranstaltet, Einladungen verschickt, so an Richard Dehmel, dessen Gedichte Walden vertonte. Peter Hille mußte wenigstens mit Bittbriefen an Gerhart Hauptmann unterstützt werden. Jeder Tag verlangte neue Strategien. Wer kann wann den kleinen Paul in den Tiergarten spazierenführen, zur Schwester Anna bringen, bei der sich jetzt das schwere Nierenleiden bemerkbar macht, und von ihr wieder abholen. Währenddessen trägt seine Mutter Manuskripte, die sie stundenlang abgeschrieben hat, zu Verlagen und Redaktionen.
      Am 7. Mai 1904 starb Peter Hille. Er war auf dem Heimweg von Dalbellis Weinhaus nach Schlachtensee auf dem Bahnhof Zehlendorf zusammengebrochen und hatte sich verletzt. Sepsis und ein Lungenemphysem führten nach einigen Tagen zum Tod im Krankenhaus Lichterfelde. Zu den Freunden, die ihn dort umsorgten, soll neben Else Lasker-Schüler auch Margarethe Susman gehört haben. "Hille ist tot! - Und wie hat Ihre Frau Gemahlin es aufgenommen?"(14) schrieb Alfred Döblin besorgt aus Freiburg an Walden. "Nun schreiben sie Alle über ihn",(15) klagt diese, seine treueste Jüngerin, und ist froh, es schon zu seinen Lebzeiten getan zu haben. Daß sie mehr über ihn schreiben würde, stand fest.
      Trotz der prekären finanziellen Lage seiner kleinen Familie gründete Herwarth Walden 1904 eine neue literarische Ver­einigung, die das Teloplasma-Unternehmen an Wirkung weit übertraf. Allerdings hatte er aus diesem Mißerfolg gelernt. Der Verein für Kunst war als Gegenunternehmen zu den üblichen Agenturen gedacht, die "durch hohe Prozente die Annäherung zwischen Künstlern und Genießenden, statt sie zu erleichtern" nur erschweren, wie es in einem Rundschreiben Waldens aus demselben Jahr heißt.(16) 
      Er hatte sich die Sache einfacher vorgestellt, als sie war, indem er versprach, aus den Einnahmen den Auftretenden ein Honorar von 100 Mark zu zahlen und weitere Unkosten decken­ zu können, was bald nicht mehr gelang. Das Programm sollte den Erfolg garantieren. In 14tägigem Turnus waren im Winter 1904/05 jeweils einem Künstler oder einer Künstlerin gewidmete Abende geplant, an welchen sie eigene Dichtungen oder Kompositionen präsentieren sollten. Auch angeblich unaufführbare dramatische Werke sollten zur Aufführung gelangen.
      Walden lud in den Verein für Kunst während der nächsten 8 Jahre, ehe dieser in die Sturm-Abende überging, ein, wer in Literatur, Musik und Kritik Rang und Namen hatte. So lasen neben vielen anderen Richard Dehmel, Alfred Döblin, Maxim Gorki, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler, Heinrich und Thomas Mann - letzterer nach einem Cello-Vorspiel und vor seiner Braut Katia, die mit ihrer Großmutter Hedwig Dohm in der ersten Reihe saß. Rezitatoren, vor allem Rudolf Blümner, der enge Mitarbeiter Waldens, trugen Werke von Goethe, Heine, Hofmannsthal und Rilke vor, der selber einen Vortrag über Rodin hielt. Andere Vortragende waren Lovis Corinth, die Literaturwissenschaftlerin Helene Herrmann, Alfred Kerr und Harry Graf Kessler. Kompositionen von Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Richard Strauß und Herwarth Walden wurden aufgeführt, und Vertonungen der Gedichte von Peter Baum, Stefan George und Else Lasker-Schüler erklangen. Einakter von Alfred Döblin (Lydia und Mäxchen) und Paul Scheerbart erlebten hier ihre Uraufführung, und Gertrude Barrison und Sulamith Rahu gaben moderne Tanzaufführungen.
      Für Else Lasker-Schüler war der Verein für Kunst nicht nur ein Sammelplatz der künstlerischen Elite, die sie dort kennenlernte, er war auch ein Forum mit einem ihr angemessenen Publikum. "Von den Abenden, die Sie jetzt vorhaben", schrieb Döblin an Walden, "interessiert mich am meisten der Ihrer Frau Gemahlin." 1908 produzierte der Verein einen eindrucksvollen Prospekt für Else Lasker-Schüler, der mit Auszügen aus inzwischen zahlreichen positiven Kritiken für ihre Bücher und Lesungen warb.(17) Sie selbst hat den Verein nach Kräften unterstützt. Sie half bei der Versendung von Vereinsprospekten und schickte persönlich Unterschriftenlisten an mögliche Subskribenten wie Harry Graf Kessler. Es galt, den Verein mit allen Mitteln zu retten, dessen Existenz schon im November 1905 auf dem Spiel stand. "Ich sage es ganz ohne Verschleierung frei heraus, Herr Graf. Nicht allein, daß mein Mann die halbe Zeit des Tages opferte, er hat die erdenklich größten mater. Opfer gebracht, so daß der Sommer für uns ein Märtyrium war. Mein Mann ist der größte Künstler und tiefste Idealist, der mir vorgekommen ist."(18)

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(1) KA 6, S. 19.
(2) erschienen bei Paul Reinike, Berlin 1904.
(3) s. das Exilgedicht "Mein blaues Klavier", KA 1.1, 377.
(4) Marbacher Magazin, 71/1995, S. 48.
(5) KA 3.1, S. 271.
(6) Nell Walden, Herwarth Walden. Ein Lebensbild. Berlin 1963, S. 18.
(7) ebd., S. 19.
(8) KA 6, S. 236.
(9) s. Markus Hallensleben, Lasker-Schüler, Der Sturm und die europäische Avantgarde. In: ders., Else Lasker-Schüler. Avantgardismus und Kunstinszenierung. Tübingen 2000, S. 29-42.
(10) Ost und West, Heft 12, 1904, Sp. 931f.
(11) Ost und West, Heft 1, 1901, S. 1.
(12) Der Tag, Nr. 181, 1902. Illustrierte Unterhaltungs-Beilage, S. 2f.
(13) KA 6, S. 61.
(14) Alfred Döblin, Briefe. Olten 1970, S. 24.
(15) KA 6, S. 62.
(16) zitiert nach Peter Sprengel, Verein für Kunst. In: Handbuch literarisch-kultureller Vereine, S. 465-469.
(17) Alfred Döblin, Briefe a.a.O., S. 81.
(18) KA 6, S. 69.

Teil 2