Vorgeblättert

Robin Detje: Castorf, Teil 2

Einmal vom Westen eingeladen, lässt Castorf sich nicht lange bitten. Im Jahr 1989 liefert er in Deutschland und der Schweiz noch vor dem Mauerfall im November drei Arbeiten ab. Am Schauspiel Köln inszeniert er "Hamlet". Am selben Haus beim Intendanten Klaus Pierwoß arbeitet in diesen Jahren, nach der Trennung von Matthias Langhoff, der Regisseur Manfred Karge. Nach einem Asbestalarm im Theater wird die Inszenierung in ein Zirkuszelt ausgelagert.
In Castorfs Privatarchiv findet sich aus dieser Zeit der Entwurf eines Briefes an übergeordnete staatliche Stellen, vielleicht das Ministerium für Kultur (MfK), in dem der Reisekader für seine Lebensgefährtin Silvia Rieger ein Westvisum erbittet, damit sie ihn an seinem Arbeitsort besuchen kann. Und dann hätte Castorf da noch eine Bitte; sie erinnert ein wenig an den Umgang des DDR-Eislaufstars Kati Witt mit der Stasi: Wann kriege ich meinen roten Golf? Castorf schreibt: Da ich auch in den nächsten Monaten in verschiedenen Städten (Basel, Weimar, Düsseldorf) arbeite, wäre es eine Erleichterung, wenn ich mich verkehrstechnisch variabler verhalten könnte. Deshalb bitte ich Sie, mich bei der Vergabe eines Importwagens aus dem Sonderkontingent (?) des MfK zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass er gar keinen Führerschein besitzt, gibt dem Ersuchen eine dadaistische Note.
Henry Hübchen spielt in der Kölner Inszenierung den Polonius, muss Castorf jedes Wochenende zurück nach Ostberlin chauffieren und bricht sich kurz vor der Premiere den Arm. Castorfs Eltern sind angereist und erleben nun statt "Hamlet" den Kölner Karneval, der ihnen nicht so gut gefällt. Als dann schließlich gespielt wird, gefällt dem Kritiker Peter Iden die Aufführung nicht so gut. Er sieht Castorf einfach nicht auf dem neuesten Stand: Das westliche experimentelle Theater der sechziger Jahre hatte die Mittel, deren Castorf sich heute bedient, schon überwunden, als dieser Regisseur noch in den Windeln lag. So jung ist Castorf allerdings auch wieder nicht. Wie Gerhard Ebert im Neuen Deutschland ekelt es Iden besonders, dass die Schauspieler hier gar nicht naturalistisch arbeiten dürfen, also doch eigentlich gar nicht Theater spielen, und er wundert sich, dass sie überhaupt für Castorf Faxen machen. Keine Überraschung ist es natürlich, daß schwache Intendanten, kopflos zur Steigerung ihres Renommees auf den Skandal hoffend, auch noch dem ärgsten Schwachsinn ihre Häuser öffnen. Der Express titelt: Hamlet murmelt in die Mülltonne - Zuschauer flohen aus Kölner Premiere.
Peter Ullrich darf für Theater der Zeit aus Ostberlin nach Köln fahren. Er hat Glück und sieht die Generalprobe mit dem noch unversehrten Hübchen. Für Ullrich entsteht das angenehme Gefühl von Souveränität den Vorgängen gegenüber, aus denen ich selbst Erfahrungen schöpfen konnte, ohne bevormundet zu werden. Genau diese Bevormundung ist es, die Peter Iden so vermisst, weil sie ihm erst das Gefühl gibt, anständig verfertigtes Theater zu sehen. Aus östlicher Perspektive findet Peter Ullrich übrigens nicht, dass hier ein Regisseur am Westen gescheitert sei. Er sieht vielmehr die Kölner Schauspieler am Regisseur aus der DDR scheitern.

In München hofiert ihn der Intendant des Bayrischen Staatsschauspiels, Günther Beelitz. Castorf inszeniert Lessings "Miss Sara Sampson"; wie meistens in diesen Jahren akzeptiert er das vorgeschlagene Stück und arbeitet innerhalb der Grenzen, die man ihm setzt. Hartmut Meyer begrenzt den Raum. Die Proben beginnen kurz vor den Theaterferien. Fünfeinhalb Wochen sind angesetzt.
Castorf wird am Haus als Klischee-Ossi in engen Röhrenjeans wahrgenommen, eine ulkige Type. Er arbeitet mit vier Schauspielern, die er schnell zu einer freien Theatergruppe innerhalb des Theaters umfunktioniert. Silvia Rieger spielt die Sara und fungiert zugleich als verlängerter Arm des Regisseurs und Lebensgefährten: Sie schwört die Schauspieler auf ihn ein, bereitet Proben vor und wird dafür von den Wessis böse "Politoffizier" genannt. Herbert Fritsch spielt den Mellefont. Er verfügt über beeindruckende exhibitionistische Energie und wird später zu Castorf an die Volksbühne gehen. Der Spiegel wird ihn zum Lohn eine manngewordene Strapaze nennen. Man probiert zwei Stunden am Tag, sitzt viel in der Kantine und freut sich des Lebens. Die Arbeit darf nicht nach Arbeit aussehen.
Silvia Rieger und Castorf erkunden den Westen, fahren im Sommer nach Mallorca, wandern am Walchensee und ziehen übers Oktoberfest. Das Paar wohnt in einer Pension in Schwabing und wird in München in SED-nahe Kreise eingeführt. Alle Sinne werden auf den Westen vorbereitet: Einmal besorgt Castorfs Assistent Wolfram Apprich für die Proben Campino-Bonbons. Sie schaffen es nicht auf die Bühne, sie werden gleich am Regiepult weggeputzt.
Auf den Proben erlebt Apprich, wie ein Regisseur unter dem Deckmantel der Passivität kamikazehaft vorstößt und die Schauspieler in endlosen Monologen auf seine Seite redet. Der Dramaturg Günther Erken verfasst einen denkwürdigen Probenbericht: Immer wieder kommt Castorf auf die Verschränkung von Gefühlsintensität und rationaler Organisation zu sprechen, die Dialektik von sinnlichem Leben und berechneter Systematik, Biologie und Algebra. Dieser Regisseur redet ohne Unterlaß, er bereitet seinen Schauspielern Verbalbäder. - Hat man sich auf etwas geeinigt, wird es nicht etwa wiederholt und fixiert; man geht sofort weiter. Es ist ein Proben ohne Üben. Erken notiert: "Ich weeß et nich" ist seine Lieblingswendung.
Das Stück gleicht einer "Folie", auf der man wie im Freejazz improvisieren will, zwecks Herstellung der angestrebten Freiheitszustände. Die Freiheit selbst, die Anarchie, wird das Thema der Aufführung. Die Schauspieler schneiden sich auf der Bühne mit dem Messer aus Pappkartons, Mellefont onaniert in ein Papiertaschentuch. Die Beatles fragen: "Why don't we do it in the road?" Castorf erinnert sich: Bei der Premiere gab es den ersten wirklichen Skandal. Die Leute schrien und jubelten, und mitten in der Vorstellung brach ein Zuschauer auf seinem Sitz zusammen ... Wolfram Apprich berichtet dem Regisseur in regelmäßigen Abständen vom Ausmaß der Tumulte. Castorf, der in der Kantine sein Bier trinkt, wird immer blasser. Es ist kein kalkulierter Skandal. Beim Schlussapplaus ist der Regisseur käseweiß. Obwohl er manches gewohnt ist - dass er solche Reaktionen erzeugt, überrascht ihn nun doch.
Auch Castorfs Eltern sind im Zuschauerraum sehr bleich geworden. Nun hat ihr Sohn es offenbar zu weit getrieben, und man wird ihn sicher lynchen. Aber der Skandal bringt den Durchbruch; so ist der wilde Westen. Castorf fängt sich in der Süddeutschen Zeitung einen eher staunenden Verriss von Joachim Kaiser ein, dessen Glanz als Großkritiker noch nicht ganz verglommen ist. Zwar vermisst er schmerzlich Lessings zart fühlenden Edelmut, seine psychologisierende Neugier: Frank Castorf gönnt seinen Figuren das Eigentümlich-Seelische nicht. Er nimmt zurück, was Lessing schuf. Aber anders als vor und nach ihm Peter Iden versteht er durchaus, was Castorf will: Von György Ligeti gibt es ein Bühnenstück mit dem Titel "Nouvelles Aventures", wo ohne Handlungs-verbindung die Affekte, Ausdruckskurven und Verhaltensweisen von Bühnenfiguren "an sich" dargeboten werden. So verfremdete Castorf Lessing. Statt das Trauerspiel zu inszenieren, zerstückelte er es in lauter Momente. Diese Momente nahm er als Symbole ewig-bürgerlicher Existenz ... 
Den Kritiker langweilt die Methode, aber er achtet sie. Außerdem reizen ihn die schönen Frauen auf der Bühne: ... wir sahen, wenn auch oft verärgert, Theaterhandwerk von Rang! Bewunderten zwei gutgewachsene junge und schöne Frauen, die spielen, ja sogar ausgezeichnet singen konnten. Kaiser wird der Inszenierung kritisch verfallen und noch Jahre später eine Werktreue-Debatte an ihr anzetteln, auf die Castorf breit und publikumswirksam antworten kann. "Miss Sara Sampson" wird zum Westberliner Theatertreffen eingeladen werden und bis nach Südamerika auf Tournee gehen. Die Inszenierung ist das erste Aushängeschild des deutschen Theaters im Prozess der Wiedervereinigung - des westdeutschen Theaters.

Es geht nun darum, ihn für den Westen handhabbar zu machen. Im Februar 1992 taucht Frank Castorf auf den Seiten der Frauenzeitschrift Cosmopolitan auf. Er wird von Wolfgang Höbel porträtiert, der auch für den Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung über Castorf schreibt und hier seine Recherchen für eine andere Zielgruppe wiederaufarbeitet. Der westdeutsche Profi-Journalismus geht rationell vor.
Höbel schreibt: Der auf den ersten Blick wie ein schüchterner Musterschüler wirkende Ostberliner gilt als wichtigster jüngerer Regisseur im deutschsprachigen Theaterbetrieb, als umstrittener neuer Star in einem insgesamt als langweilig verrufenen Geschäft. Hier werden Adjektive und Adverbien so verdichtet, dass das Beschriebene vom Leser nicht mehr erlebt werden muss. Es wirkt aber verständlich, in abgepackter Form: Alles klingt vertraut: Castorf wird professionell schnellverkitscht. Sein Talent soll für die Bedürfnisse des westdeutschen Kulturbetriebs funktionalisiert werden; der Reporter ist ein Funktionär dieses Vorgangs. Castorf ist Frischfleisch für einen müden Betrieb, nicht mehr "jung", aber wenigstens einer der "Jüngeren". Ostler aller Arten leiden zu dieser Zeit unter dem Gefühl, plötzlich ihre Haut zu Markte tragen zu müssen. Ihr Gefühl trügt sie nicht. Castorf hilft, dass er sich für positives Labelling geradezu anbietet; so wird er freudig erregt in den westdeutschen Theaterbetrieb hineingewunken. Man sehnt sich nach neuen Genies, nach Außenseitern auf hohem Integrationsniveau.

Teil 3